Fahrbericht und Führerschein Tuk-Tuk
Danger Zone

Thailands Tuk-Tuk-Fahrer müssen mit ihren Gefährten täglich im Verkehrs-Supergau der Städte überleben. Wie so eine Moto-Rikscha fährt, probierte MOTORRAD-Redakteur Rolf Henniges in Chiang Mai aus

Danger Zone
Foto: Henniges

Die sprichwörtliche Briefmarke hätte nur mit Mühe dazwischen gepasst. Rechts ein verbeulter Toyota-Pickup, von links zwei angriffslustig vorbeijagende Kleinwagen. Wir schlingern durch ein Blechkasten-Chaos, das man aus Bruce-Willis-Filmen kennt. Vorn jagt eine Gewaltbremsung die nächste, hinten nervt unablässiges Hupen. Mein Fahrer fühlt sich pudelwohl. Er lacht, wippt mit dem Kopf zum Sound einer Musik, die nur er hört. Oder vielleicht heute morgen im Radio gehört hat.
Ich dagegen muss den Verkehrs-Supergau erst einmal verkraften. Hocke verkrampft auf der Passagierbank einer motorisierten Rikscha, kurz Tuk-Tuk genannt. Mein Aufenthaltsort: Chiang Mai, Thailands zweitgrößte Stadt, gelegen im Norden des Landes. Der Fahrer, so scheint es, kann die Gedanken anderer Verkehrsteilnehmer lesen. Aber das können anscheinend alle, die sich im Verkehrsgewühl Asiens täglich behaupten.
Chiang Mai in Zahlen: 350000 Einwohner, über 300 Tempel, 9000 Autos, 31000 Zweiräder und rund 1200 Tuk-Tuk. Hinzu kommen (ganz grob geschätzt) eine Billiarde für Europäer unleserliche Zeichen und unaussprechliche Namen. Beispiel: Somchai Sereeratvipachai. So heißt mein angstfreier Chauffeur. »Sag einfach Mau
zu mir«, lächelt er, als ich ihn entlohne.
40 Baht, also umgerechnet 80 Cent, für zwölf Minuten Abenteuer. Für eine Strecke von drei Kilometern, auf der ich vor Angst beinahe viermal gestorben bin, meine Blase sich eine Spontanentleerung gerade noch vorenthielt, der Magen seine Füllung zurückschicken wollte und die Poren einen halben Liter Schweiß rauspressten. Was weniger mit den 38 Grad im Schatten,
sondern mit dem Verkehrsaufkommen und dem Fahrstil des Rikscha-Piloten zu tun hatte. Obwohl, so schwer kann es doch nicht sein, oder?
»Very dangerous«, unkt Mau und lächelt verschmitzt. »You need driving licence.« Na, wär’ doch gelacht, wenn ich den Tuk-Tuk-Führerschein nicht bekommen würde. Schließlich bin ich als Motorrad-Tester erfahren im Umgang mit jeder Art Fahrzeug zwischen 0,5 und 250 PS. Eine Idee, zwei Mann, zwei Versprechen. Das Abenteuer kann kommen.
Am nächsten Tag holt mich Mau am Hotel ab. 9.00 Uhr, 26 Grad, der Verkehr eskaliert. Wir winden uns durchs Blechgewusel, erreichen nach 20 Minuten ein graues Gebäude mit einem großen Hof, der halbherzig von einem eingeknickten, verrosteten Zaun beschützt wird. Die Eingangstür ist farblos und rissig. Hat aber einen Griff. Sie war vor rund 30 Jahren trendy und gibt einen Gang frei mit 19 Glastüren, hinter denen gelangweilte Gesichter in den Tag blicken.
»Hier Führerscheinstelle«, sagt Mau. Er drückt mir einen Fragebogen in die Hand. Zehn Fragen. Auf Thailändisch. Nun, bis man die Sprache beherrscht, wird’s wohl dauern. Wir betreten den Hof. Auf einer Fläche von rund 200 Quadratmetern sind 28 nicht nur von der Sonne malträtierte
Pylonen aufgestellt. Die Anordnung sieht ein wenig nach MOTORRAD-Top-Test aus. Sieben wenig nach Tuk-Tuk-Fahrer aussehende Gestalten sind mit sieben wenig nach Tuk-Tuk aussehenden Gefährten damit beschäftigt, den Pylonenwald ohne ernsthafte Unfälle zu durchqueren.
Bläulicher Zweitaktqualm schwebt über der Szenerie. Hektisch wird abgebockt,
gesetzlos gerempelt, anarchistisch beschleunigt und aufrührerisch eingeparkt. Alles ganz normal, erklärt Mau. Schließlich müsse man sich auf die Realität vorbereiten. Jeder Einwohner Thailands, der morgens mit der Eingebung, ein Tuk-Tuk lenken zu können, aufstehen würde,
dürfe dies nach bestandener Fahrprüfung auch tun. Thailand ist demokratisch und hat 62 Millionen Einwohner. Die Tuk-Tuks
hat noch niemand gezählt. Aber die zehn
heiklen Prüfungsfragen, meint Mau, die würden bereits die Spreu vom Weizen
trennen. Und die Fahrprüfung erst recht, das Einparken, Rückwärtsfahren, Wenden und so weiter, na ja, das könne nun mal nicht jeder. Wer die Drangsal der Prüfung überlebe, bekomme den Führerschein gegen Gebühr ausgehändigt. 55 Baht, gültig ein Jahr. Ich bin versucht. 1,10 Euro für 365 Tage so etwas wie Autoscooter fahren – was will man mehr? Das Kind in mir sagt: Tu es. Die Neugier in mir sagt: Versuch es. Mein Boss sagt am Telefon: Komm zurück. Aber heil.
Eine Stunde später. Wir stehen auf einem riesigen Erdplatz. Spurrillen durchziehen den Boden, zwei Bäume am Rand werfen spärlichen Schatten. Ich sitze auf dem Fahrersitz, nehme die letzten Einweisungen von Mau entgegen. Auf einem grün lackierten Aluminiumblech, das als Konsole dient, sind sieben Schalter angebracht. Sie könnten aus der 1970er-Heavy-Duty-Kollektion von Conrad electronic stammen und aktivieren Warnblinklicht, Innen- und
Außenbeleuchtung sowie Scheibenwischer.
Der Zündschlüssel ähnelt dem eines Traktors aus den Sechzigern. Kein Tacho,
kein Drehzahlmesser. Aber Batterielade-
kontrolle. Mit quäkendem Geräusch meldet
sich der Motor zu Wort. Fabrikat: Daihatsu, zwei Zylinder in Reihe, Zweitakter, 353 cm3, flüssiggasbetrieben, Getrenntschmierung. Über Gasgriff und Seilzug wird der Vergaser angesteuert. Jeder Dreh wird von einem Geräusch begleitet, das aus einer zerknautschten Trompete stammen könnte. Dirigiert wird das Tuk-Tuk über einen bumerangförmigen Lenker, der direkt über Gabelbrücke und Gabel mit dem Rad in Verbindung steht. Mau ist aufgeregter
als ich, erklärt mir schnell noch das Zusammenspiel von Fußkupplung und Handschaltung, hastet dann quer über den Platz unter einen der beiden Bäume, kneift die Augen zusammen und wedelt mit der Hand durch die Luft. Es sieht aus, als
erwarte er eine grauenvolle Explosion.
Los geht’s. Augen zu und durch.
Die Gasannahme ist fantastisch. Kurzer Dreh, spontanes Aufbrüllen. Typisch Zweitakt eben. Links die Kupplung, rechts die Bremse. Pedale, die man in einer
Planierraupe erwartet. Doch dann die erste Überraschung: Die Kupplung ist so leichtgängig, als würden Wattebausche eingedrückt. Rechte Hand am Gasgriff, linke
am Schaltknauf, Viergangkulisse wie beim Auto. Erster rein, Kupplung raus, Vollgas.
Als Maus Tuk-Tuk Ende der Sechziger das Werk in Bangkok verließ, schickte der Zweizylinder rund 20 PS über die Kardanwelle an die Hinterachse. Das ist lange her. Trotzdem: Beide Hinterreifen drehen kurz durch, nach fünf Sekunden Fahrt verlangt der Motor quäkend nach dem zweiten Gang. Der Lenker, übrigens aus Stahl, Vollmaterial, vibriert heftig. Jede schräg angefahrene Bodenwelle vereitelt zudem den angepeilten Kurs, mit Muskelkraft muss korrigiert werden. Ich schalte durch bis in den Vierten. Gefühlte 250 km/h. In Wirklichkeit irgendwas um die 80. Zweite Überraschung: Auch die Bremse ist leichtgängig. Das Pedal verfügt über 80 Prozent Leerweg. Auf den letzten zwei Zentimetern müht sich ein Seilzug, zahnlose Beläge gegen zwei Bremstrommeln zu pressen. Wie war das noch mit den versteckten Botschaften im Arbeitszeugnis? Er bemühte sich redlich...
Es ist der bis dato späteste Bremspunkt meiner Zweiradkarriere. Wild schlingernd und auf zwei Rädern umkreise ich eine Betonröhre, das hintere linke Rad bekommt wieder Bodenkontakt, stolz setze ich zum Achter fahren an, umkreise zwei Punkte. Schalten, kuppeln, bremsen – so widerstandslos hat sich mir noch kein mechanisches Puzzle präsentiert. Selbst rückwärts fahren gelingt. Hat allerdings Gemeinsamkeiten mit dem Gang ins Fitnessstudio. Der vordere Reifen in der Dimension 5.00-9 enthält dämpfungsfreundliche 0,9 bar und lässt sich so leicht lenken wie ein Linienbus,
bei dem die Servolenkung ausgefallen ist.
Kurz noch einparken zwischen den beiden
Bäumen, vor, zurück, aufgebockt.
»No problem«, jubiliert Mau. »Großartig. Du schaffst die Prüfung garantiert.« Na klar, denke ich, und in meiner Fantasie reift ein Plan. Schnell noch Thai lernen, Tuk-Tuk kaufen, auswandern... Ob ich denn zurückfahren möchte, fragt er. Kurzer Blick auf den Verkehr: Wieder scheint ein Bruce-Willis-Film gedreht zu werden. Danke,
vielleicht ein andermal. Mau lächelt, biegt ein und schaltet durch. 60, 70, 80 km/h. Bremsen. Einfädeln. Wieder passt maximal die Briefmarke dazwischen.

Unsere Highlights

Historie der Moto-Rischka

Die Entwicklung der ursprünglich aus Indien stammenden Rikschas umfasst vier
Stufen: Den per Hand gezogenen Wagen ersetzte Ende der dreißiger Jahre die Fahrradrikscha. Mitte der Sechziger tauchten die ersten Autorikschas, die so genannten Tuk-Tuks oder Bajaj, auf. Im Zuge dieser Motorisierung kamen die meist selbst gebauten Moto-Rikschas (siehe Fotos) hinzu. Hierbei handelt es sich um zersägte Mopeds und Motorräder mit haarsträubenden Konstruktionen zur Passagierbeförderung und teils negativem Lenkkopfwinkel. Sowohl Verarbeitung als auch
Zustand sind oft gruselig und alles andere als
Vertrauen erweckend. Der Erlebnisfaktor bei einer Fahrt ist jedoch außerordentlich hoch.

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MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023