Kaum eine andere Traditionsmarke ist so aktiv, lässt ihre Maschinen derart bollern, vibrieren, sich schütteln. Man kann es fühlen und hören, wenn ein Harley-Davidson-Twin wuchtig auf den
einen Hubzapfen einstampft und seine
typischen, unregelmäßig modulierten Erup-
tionen verbreitet.
Dabei mussten die allerersten Harleys kurz nach der Jahrhundertwende mit nur einem Zylinder auskommen, die jüngste, die V-Rod, beamt sich hingegen futuristisch durchgestylt ins dritte Jahrtausend. Anlass genug für MOTORRAD, mit der
V-Rod plus drei Vorgängerinnen bereitgestellt vom oldtimerbeseelten Harley-Dealer Matthias Korte einen der histo-
rischen Singles, die Silent Grey Fellow
zu besuchen. Und ganz nebenbei einen Brückenschlag zwischen Klassik und Moderne in umgekehrter Reihenfolge hinzubekommen.
Beginnen darf nämlich die V-Rod, das Alpha-Tier aus Milwaukee. 2001 vorgestellt und sofort meistverkaufte Harley in Deutschland. Obwohl sie wie eine Spalt-
axt in die Community fährt. Das beginnt schon beim Motor, dessen Name Programm ist: Revolution. Flüssigkeitskühlung, 60 Grad Zylinderwinkel, elektronische Einspritzung, obenliegende Nockenwellen, Betätigung der vier Ventile pro
Zylinder per Tassenstößel, Nasssumpfschmierung. »Ja, und?« werden Sie fragen und haben sich damit als Harley-Rookie geoutet, denn genannte Features sind für die Amis schlichtweg revolutionär. Einzig Zylinderzahl und -anordnung blieben unangetastet. Ungerührt jongliert das von Porsche entwickelte Triebwerk mit Drehzahlen, bei denen die Innereien luftgekühlter 45-Grad-Geschwister den ehrwürdigen Firmengründern im Himmel Gesellschaft leisten würden. Obs daran liegt, dass das Motorkonzept Mitte der Neun-
ziger im Werksrenner VR 1000 um US-Superbike-Meriten kämpfen durfte? Egal, der Dragstrip-mäßige Schub lässt selbst Abgebrühten die Spucke wegbleiben. Dennoch, V-Rod-Fans bitte Augen zu vom unmittelbaren Erleben der Eruptionen hat sich das Hightech-Teil verabschiedet.
Für die hemdsärmelige Wummer-Nummer sind und bleiben die anderen zuständig. Zum einen natürlich der Twin Cam 88, treibende Kraft aller aktuellen Groß-Harleys. Diesem programmtragenden Zeitgenossen gewinnt Redakteur Werner Enzmann ganz eigene Seiten ab (siehe Seiten 144 ff.), so dass wir uns
direkt auf den Evolution-Motor stürzen können. In unserer Zeitreise-Begleiterin, der Harley-Davidson Heritage Softail, schickt der 1340er überschaubare 48 PS per Zahnriemen ans Hinterrad. Und zitiert mit Zweifarbenlackierung, Weißwandreifen und üppigem Chromschmuck stolz historische Vorbilder, die beim Platznehmen auf dem mit Kuhfell-Intarsien verzierten Sitz ebenfalls aufleben. Auch wenns statt der Route 66 bloß die provinzmäßige A 661 ist, bereits die alltägliche Vorbeifahrt an schnöden Schallschutzwänden wird zum imposant donnernden Klangerlebnis. Und erst die Tunnels, einfach herrlich. Mit tausendundeinpaar Umdrehungen schippert das multizentnerschwere Teil gen Horizont.
Notorische Schnellfahrer erliegen dem Reiz des Dahinbollerns im Nu. Ebenso dem der Vibrationen des starr mit dem Softail-Rahmen verschraubten Big Twin. Sieben Jahre, eine Viertelmillion Testkilometer und weit über 5000 Prüfstand-
stunden dauerte die Geburt des 1984
erschienen Evo. Entwicklungspartner ist Porsche. Zwar durften die Weissacher am Äußeren nur wenig verändern, aber von nun an sind Leichtmetallzylinder, hohle Stoßstangen, Mahle-Kolben sowie verbrennungstechnisch optimierte Brennräume Standard. Überaus clever zudem das Softail-Konzept, das mit zwischen Rahmenunterzügen und Getriebe versteckten Federbeinen Starrrahmen-Optik mimt. Komfort und Zuverlässigkeit lassen den Kundenkreis wachsen, die Harley-Owners Group (H.O.G.) entsteht, Harley ist in USA Marktführer jenseits 850 cm3, der Kurs der 1986 ausgegebenen Harley-Aktie verzehnfacht sich innerhalb von nur fünf Jahren.
Die Top-Manager um den damaligen Chef Vaughn Beals freute es, kauften die Jungs doch 1981 »ihre« Company mittels klassischem Buyout zurück. Zuvor, zwischen 1969 bis 1981, war Harley-Davidson Teil des Mischkonzerns American Machine and Foundry Organisation (AMF). Der Grund für diese Partnerschaft lag im Kapitalbedarf, um alte Produktionsstätten modernisieren und das Werk in York/
Pennsylvania bauen zu können. Während der AMF-Zeit initiiert Willie G. Davidson, Enkel des Firmengründers, die Low Rider, Fat Bob, Wide Glide oder Sturgis, zudem startet die Entwicklung des Evolution-Twins. Trotzdem bleibt der Umsatz hinter den Erwartungen im boomenden Markt zurück, das Unternehmen steht zum Verkauf, es kommt zum Buyout.
15 Jahre zuvor, 1966, ging Harley nicht nur zum ersten Mal an die Börse, sondern hob auch das Tuch vom Early Shovel. Zunächst noch auf dem Kurbelgehäuse des vorhergehenden Panhead-Twin basierend, kommt ab 1970 der komplett neue Shovelhead-Motor auf den Markt. In den späten Sechzigern beginnt zudem die Ära des Customizing. Unter anderem inspiriert durch den Film »Easy Rider«, gestalten viele Fahrer ihre Bikes um und blicken fortan durch gelbe Brillengläser auf tiefen Sätteln hockend über elend lang gestreckte Gabeln hinweg.
Regelmäßig powered by »Panhead«, dem 18 Jahre lang produzierten Vorgänger des Shovel.
1965, in seinem letzten Produktionsjahr, bekommt der Panhead in Harleys Flaggschiff Duo Glide einen E-Starter verpasst und wird damit zur E-Glide bis heute Milwaukees Reisedampfer Nummer eins. Cooler gleitet keine, an keiner anderen prallen die Dekaden spurloser ab als am Image der E-Glide. Knöpfchen drücken, schon gehts los endlich
können sogar Menschen mit Kickstarter-
Phobie eine Harley bewegen. Und spüren, wie sich die im Inneren des Zwölfhunderters rotierenden und oszillierenden Massen nie endgültig auf einen gemeinsamen Rhythmus einigen können. Macht nix, die Vibrationen sind erträglich so lange man die Nadel des auf der Tankkonsole platzierten Riesentachos nicht allzu weit über die große »10« wandern lässt. Selten fahren sich 100 km/h so ereignisreich. Der ausladende Lenker lässt einen die Welt umarmen und Tempolimits wie von selbst einhalten, während man im Takt der federnden Sattelstütze auf und ab swingt. Die erste E-Glide als Schnittpunkt zwischen Klassik und Moderne. Dabei nannten die Väter des Panhead ihr Werk stolz »Standard of the world«. Wohl wegen Innovationen wie dem Gewicht sparenden Alu-Zylinderkopf und dem
hydraulischen Ventilspielausgleich. Und siehe da, sogar eine 1965er-E-Glide kann sich durchaus schwungvoll wedeln, wie Besitzer Matthias Korte nach dem Fahrerwechsel funkensprühend beweist.
Also noch weiter zurück in die Geschichte. In eine Zeit, in der Handschaltung üblich war. Erst ab 1952 hatten
Kunden die Wahl, ob sie mit dem Fuß schalten und der Hand kuppeln wollten oder umgekehrt. Damit das Handkuppeln leichter fällt, erfand Harley übrigens die so genannte Mousetrap, einen feder-
belasteten Mechanismus mit Umlenkung, der die Haltekraft der ausgerückten Kupplung minimierte. Das hatten die Hand-
shifter nicht nötig, wie eine 1946er-WL beweist. Zum Glück ist sie bereits warm gefahren, was den Piloten von der ge-
fühlvollen Jonglage mit der Zündverstellung am linken Lenkergriff enthebt. Kurz rekapitulieren: Der linke Handhebel am Lenker ist nicht für die Kupplung, sondern die Vorderradbremse verantwortlich, die Fußkupplung ist nicht federbelastet und bleibt in jeder Stellung stehen, was das Rangieren und Warten vereinfacht.
Jetzt aber: Kupplung treten, den Knauf an der linken Tankseite durch die polierte Alu-Kulisse in Stellung bringen und die Fußkupplung vorsichtig einrücken. Hurra, es fährt. Stoisch wie ein Brauereipferd
tuckert der etwa 24 PS starke 750er-Flat-
head los. Trotz seiner wahrhaft musealen Optik und Technik Stichwort Seiten-
ventiler und aus einem Guss gefertigte Zylinder und Köpfe führt er sich fahrschülerfreundlich auf und macht beim Wechseln in den zweiten und dritten Gang keine Zicken. Einfach einen Tick Zwischengas geben, das wippenartige Pedal betätigen, Schaltknauf eins weiter ziehen und fertig. Cool. So cool und so easy, dass der Flathead von 1929 bis 1952 in unterschiedlichen Varianten diverse Harleys antreibt im dreirädrigen Servi Car ist er sogar bis 1973 im Einsatz. Flat-
head sind es auch, die in den Zweiten Weltkrieg ziehen Harley stellt seine
Produktion komplett auf Militärmaschinen um. 80000 WLA bollern durch Europa viele bleiben nach Kriegsende dort.
1948 ist das letzte Produktionsjahr des zwölf Jahre gebauten Knucklehead, für viele der Harley-Motor schlechthin. Erstmals dirigieren beide Ventile im Zylinderkopf hängend die Gaswechsel, gesteuert über Stoßstangen und Kipphebel. Ein Prinzip, das sich bereits in Harleys Einzylinder-Rennmotoren bewährt hatte. Außerdem ersetzte die bis heute verwendete Trockensumpfschmierung die zuvor eingesetzte Verlustschmierung, bei der das Öl in die Umgebung entlassen, anstatt dass es fortlaufend in einem Kreislauf gehalten wird.
Auch der Silent Grey Fellow, das Ziel unserer Zeitreise, verfügt über Verlustschmierung. Sein Vorläufer entstand 1903 in einer Bretterbude in der 38. Straße, Ecke Highland Avenue, Milwaukee. Im selben Jahr, in dem Henry Ford sein »T«-Modell vorstellte und die Brüder Wright sich in die Lüfte erhoben, bastelten die Davidson-Brüder Walter und Arthur zusammen mit William Harley in ihrer Freizeit ein fahrradartiges Bike zusammen. 400-cm3-De-Dion-Single, Riemenantrieb, keine Kupplung, kein Getriebe, keine
Federung. Dafür zuverlässig und lang-
lebig. Später gibts eine Springer-Gabel zum Federn sowie einen Spannriemen-Mechanismus zum Ein- und Auskuppeln. Ab 1906 schließlich die Lackierung in »Renault-Grau«, die zum Namen Silent Grey Fellow beiträgt.
Dass er ein echter und noch dazu
äußerst zäher Kumpel ist, zeigt unser
Fellow Modell 6B aus dem Jahr 1910. Er nimmt noch rege am Leben teil. Etwa
am Klassiker-Rennen Pioneer Run von London nach Brighton, den der 500-cm3-Single jüngst wacker überstand und
dessen Spuren noch unter den Schutzblechen kleben. Getreu der Devise seines Besitzers: Motorräder sind zum Fahren da. Vorher erfolgt der Start mittels Fahrradpedalen, die auch die Rücktrittbremse betätigen. Vorderradbremsen kamen erst später in Mode, dafür sind die Züge sauber im Lenker verlegt und der gefederte Ledersattel sowie die Springer-Gabel kümmern sich um Komfort bis zu Tempo 80, die der etwa 120 Kilogramm schwere Fellow seinen vier PS abringt. Jeden-
falls wenn das durch Unterdruck öffnende Einlass-Schnüffelventil und der Vergaser gut drauf und penibel justiert sind.
Justierung war auch der Pferdefuß des ersten Harley-V2, der 1909 aus 811 cm3 6,5 PS holte. Die beiden Einlass-Schnüffelventile bewerkstelligten nämlich nur Gaswechsel Pi mal Daumen inklusive grausigen Startverhaltens. Erst mit dem so genannten i.o.e.-Prinzip, also der Wechselsteuerung mit mechanisch betätigtem Einlass und Auslass, ging es vorwärts zumal dank des Kettenantriebs und der Kupplung die Power nicht mehr im durchrutschenden Flachriemen verpuffte. So begründete der 45-Grad-V2,
eigentlich ein verdoppelter Single mit
gemeinsamen Hubzapfen, eine Tradition, die die Gemeinde noch heute im Takt
beben und weiter wachsen lässt.
Historie 2003 - 1981
100-jähriges Jubiläum mit Jubiläumsmodellen und Open Road TourDer Revolution-Motor in der V-Rod bricht mit Traditionen: 60 Grad Zylinderwinkel, Wasserkühlung, Nockenwellenantrieb per Steuerketten, Ventilbetätigung per Tassenstößel, Nasssumpfschmierung. Und gewaltige 117 PS aus 1131 cm3 sowie ein Drehzahllimit von 9000/min Twin Cam 88 B mit Ausgleichswelle erscheint zum Einbau ohne dämpfende SilentblöckeDer aktuelle Big Twin, Twin Cam 88, mit 1450 cm3 wird vorgestellt und treibt zunächst die Dyna- und Touring-Modelle anHarley übernimmt die Buell Motor-cycle Company des ehemaligen Harley-Ingenieurs Erik BuellDie VR 1000 mit wassergekühltem 60-Grad-V2 und 996 cm3 kämpft in der US-Superbike-Meisterschaft, 53 Stück kommen als Kleinserien-modelle auf die StraßeEinführung des Evolution-Twins (ohv-V2 mit 1340 cm3)Die Harley Owners Group (H.O.G.) wird gegründet. Inzwischen hat sie sich mit über 1200 Chaptern und 660000 Mitgliedern zur größten Motorrad-Kun-denvereinigung der Welt entwickeltManagement Buyout (80 Mio. US-$)
Historie 1980 - 1965
Präsentation der Sturgis mit Zahnriemen als Primär- und SekundärantriebDer Shovelhead-Motor bekommt 1340 cm3 (80 Cubic Inches) HubraumNach 41 Jahren wird die Produktion des Servi Car mit Flathead-Motor eingestelltMit der Super Glide, einer Mischung aus Sportster und E-Glide, kreiert Willie G. Davidson das erste Modell der Chopper-Custom-ÄraKomplett neuer Shovelhead-Motor wird präsentiert. Cal Rayborn erreicht mit einem von einem Sportster-Triebwerk befeuerten Streamliner Tempo 426 WeltrekordEingliederung von Harley in den AMF-Konzern. Der Film »Easy Rider« schiebt die Choppermania an, Peter Fonda, Dennis Hopper und Jack Nicholson schreiben mit ihren Pan-Choppern Roadmovie-GeschichteShovelhead-Ein-führung als Early Shovel, ba-sierend auf Panhead-Kurbelgehäuse. Der Name stammt von der Form der Ventildeckel, die an eine umgedrehte Schaufel erinnernDie Electra Glide mit E-Starter und 12 Volt ersetzt die Duo Glide.George Roeder stellt mit der 250 cm3-Sprint-CR-Streamliner einen Geschwindigkeits-rekord auf: Er erreicht Tempo 285
Historie 1964 - 1937
Das Servi Car erhält als erste Harley einen E-StarterDer Roller Topper erscheint. Harley-Einstieg bei AermacchiDie erste Sportster debütiert, sie schöpft 55 PS aus 883 cm3. Beim Jack Pine Enduro beweist eine Duo Glide unter Millard Reynolds ihre GeländetauglichkeitMit der Marke Indian verschwindet der ehemals schärfste Konkurrent vom MarktKunden bekommen die Wahl zwischen Hand- und FußschaltungPanhead-Einführung (ohv-V2, Alu-Köpfe, hydraulischer Ventilspielausgleich). Panhead deshalb, weil die Ventildeckel wie eine umgedrehte Pfanne aussehenProduktion von 100000 Militärmaschinen (WLA) anstelle von Zivilmodellen während der KriegsjahreJoe Petrali erreicht mit einer umgebauten «61 Tempo 219
Historie 1936 - 1922
Die Knucklehead wird präsentiert, hier im Werk gemeinsam mit den Firmengründern. Der Name Knucklehead (»Knöchelkopf«) stammt von der Form der Kipphebelgehäuse, die an eine Faust erinnernEinführung des dreirädrigen Servi Car mit Flathead-MotorFlathead als 1200-cm3-Variante, Harley vermarktet seine Produkte als Freizeit- und LuxusartikelFlathead-Einführung (seitengesteuerter V2, 750 cm3).Mit dem »Schwarzen Freitag« beginnt die Weltwirtschaftskrise. Im Bild das Werk in den zwanziger JahrenHarleys erster käuflicher »Twin-Cam«-V2 wird in der JD präsentiert und treibt diese auf Tempo 160Offizieller Harley-Import nach DeutschlandModell »74« mit 1200-cm3-V2 erscheint. Der zunehmende Wohlstand macht das Motorrad als Nutzfahrzeug unattraktiv
Historie 1920 - 1903
Harley wird mit 2000 Händlern in 67 Ländern WeltmarktführerWJ mit längsliegendem BoxermotorDie Hälfte der Motorradproduktion erfolgt für den Militärbedarf. Hier rollt Corporal Roy Holtz durch Deutschland nach dem WaffenstillstandDie Kundenzeitschrift »The Enthusiast« erscheint Der wechselgesteuerte Zweizylinder wird präsentiert. Wechselgesteuert bedeutet, dass das Einlassventil hängend, das Auslassventil stehend angeordnet ist, beide von Nockenwellen gesteuert (»i.o.e.«)Der Hamburger Georg Suck holt die ersten Harleys nach Deutschland. Der Silent Grey Fellow beweist seine ZuverlässigkeitHarley-Davidson baut seinen ersten Serien-V2. Er arbeitet mit Schnüffelventilen als EinlassDer 21-jährige William S. Harley und der 20-jährige Arthur Davidson bauen ihr erstes Motorrad