Wenn Soichiro Honda so um 1960 herum die NSU-Werke von Neckarsulm besucht hätte, wären diesem größten Kopf der gesamten Motorradgeschichte Zweifel am eigenen Verstand gekommen. Was ihm sechs Jahre zuvor, anlässlich einer Studienreise durch Europa, noch als großes Vorbild einer bestens organisierten Massenproduktion gegolten hatte, befand sich nun offensichtlich im Zustand der Abwicklung. Nennenswerte Stückzahlen erreichten nur noch Roller und Mopeds, Max und Maxi dagegen, die einst von ihm so bewunderten Viertakter, verließen das Werk eher in homöopathischen Dosen.
Noch mehr hätte den Visionär gewundert, dass der deutsche Hersteller – 1955 mit 350.000 produzierten Einheiten der größte der Welt – seine WM-Titel mit der Zweizylinder-Rennmax nicht umgemünzt hatte. Ihn jedenfalls hatten die Dinger derart beeindruckt, dass er seine Ingenieure 1954 flugs ermunterte, hoch drehende ohc-Twins mittleren Hubraums zu entwickeln. Außerdem legte er ihnen zur Analyse einen Haufen europäischer Renn-Komponenten auf die Werkbänke. Den Marketingleuten dagegen berichtete er, dass Europas Traditionsunternehmen auch nur mit Wasser kochten und er bereits wisse, wo man den Hebel ansetzen könne. Auf der Isle of Man.
Motorrad-Neuzulassungen 1960: 15.000 Einheiten
Tatsächlich betrachtete Honda den Rennsport, und hier besonders die Tourist Trophy, als Schlüssel zum weltweiten Motorradmarkt. Heute weiß jeder, dass er in Bezug auf Europa recht hatte. Und 1960? Haben zumindest deutsche Bosse nur gelacht. Schon 1958 waren erstmals mehr Autos als Krafträder registriert gewesen, Tendenz: stark steigend. Die Motorrad-Neuzulassungen lagen 1960 bei 15.000 Einheiten. Da „der Export aber von vielen unwägbaren Dingen abhängig sein kann“, verlautbarte etwa NSU, „hat man sich entschlossen, vorerst keine neuen Motorradmodelle in Angriff zu nehmen“. Das Westerwald-Motorrad, der praktische Begleiter durch Alltag und Wochenende, war tot und würde nie wieder auferstehen. Stimmte. Ließ aber außer Acht, dass viele aus lauter Liebhaberei, aus Sportsgeist am Motorrad festhielten. Übersah, wie sie begierig Berichte von kleinen italienischen Rennern verschlangen. Nur dort schienen die Konstrukteure begriffen zu haben, wonach eine technisch interessierte Sportfraktion lechzte. Ducati, Bernegg, Morini, Aermacchi, Motobi – herrliche Feuerzeuge, leider fast alle aus kleinen Werken, ohne schlagkräftigen Vertrieb.
So herrschte bei deutschen Fans echte Verzweiflung. Einerseits Angebote heimischer Marken, die keiner mehr wollte. Andererseits kleine Träume aus Italien, die nur selten über die Alpen wehten, oder aus England, die für Otto Normalfahrer meist viel zu teuer waren. Dann stellte Honda 1959 drei Motorräder auf die Amsterdamer Messe. 125, 250 und 305 cm³. Alle mit ohc-Twins und Leistungswerten, die schwindeln ließen. Im selben Jahr ballerte Soichiro ungeheure 150.000 Mark raus und schickte fünf 125er-Renner zur TT. Einer fiel aus, die anderen landeten auf sechs, sieben, acht und elf. Sie gewannen die Teamwertung. Alles horchte auf, ungläubig zunächst, aber auch hoffend.
Honda CB 92 Benly Super Sport
Die erste Honda in Deutschland gehörte, da war MOTORRAD-Tester Ernst „Klacks“ Leverkus ganz sicher, dem Seitenwagen-Fabrikanten Franz Steib. Der ließ sich gleich 1959 die C 71 kommen, um für zukünftige Leichtgespanne Maß zu nehmen. Und weil er es wissen wollte: 20 PS bei 8400/min. Stimmte. Aus 250 cm³. Als der Hamburger Händler Karl-Heinz Meller dann 1960 einen halbwegs geordneten Import begann, war die 71 schon zur 72 geworden und wurde ergänzt durch die CB 92 Benly Super Sport. Aber was heißt schon ergänzt? Dieses Ding war es! Das war der Traum, und jetzt musste nur noch ergründet werden, ob er denn hielt. Sein Versprechen von 15 PS auf jeden Fall, das erfuhr Klacks auf dem Nürburgring. Auch sonst schlug sie sich ganz gut, wenn man den mageren Ölvorrat im Auge behielt. Die Fans waren ganz außer Atem, noch mehr, wenn sie an die ab 1961 angebotene sportliche CB 72 und ihr 305-cm³-Parallelmodell CB 77 dachten. Damit ließen sich locker 500er jagen.
Exakt 947 japanische Motorräder wurden 1960 in Deutschland zugelassen, wohl sämtlich von Honda. Honda gründete 1961 seine hiesige Niederlassung, schaltete großformatige Anzeigen. Honda war in aller Munde. Auch jenseits des Atlantiks, doch dort fuhr man eine Doppelstrategie. Die Straßen-WM hatte in den USA kein besonderes Gewicht. Andererseits galten Motorräder dort schon seit Kriegsende als Freizeitartikel, wovon namentlich britische Hersteller profitierten und jährlich an die 40000 Einheiten absetzten. Der schlaue Soichiro ließ sie zunächst gewähren, setzte mit seinen Mittelklasse-Twins immerhin eine Duftmarke. Viel mehr kümmerte sich seine 1959 gegründete Niederlassung um jene, die noch nie Motorrad gefahren waren. Die auf dem Weg zum College, zum Sport, zum Shoppingcenter aber was Kleines, Praktisches gut gebrauchen konnten. Der genialste Plan aller Zeiten, bereits 1963 exportierte Honda rund 200.000 von den 50ern nach Nordamerika. Verkaufte sie an Leute, von denen viele später aufstiegen.
Nr. 1 Honda, Nr. 2 Suzuki, Nr. 3 Yamaha
Zurück nach Europa. Dort starrten mittlerweile alle auf die wahnsinnigen Geräte, mit denen Honda in der WM antrat. 1961 drückte die dohc-125er satte 21 PS bei 14000/min. Genug für Hondas ersten GP-Sieg, den ersten TT-Sieg und den ersten WM-Titel. Unter Tom Phillis. Mike Hailwood räumte auf der Vierzylinder(!)-Vierventil(!!)-250er eine Klasse höher ab, und Soichiro schwärmte nach der TT: „Das war fantastisch. Zum ersten Mal konnten wir behaupten, dass Honda ein Unternehmen von Weltruf geworden war. Dieser totale Sieg bei der Tourist Trophy war unsere Eintrittskarte für die ganze Welt.“ So sieht echte Bescheidenheit aus, denn der Mann hatte seit 1959 in Suzuka die modernste Motorradfabrik der Welt.
Durchaus beabsichtigt war bislang nur vom größten japanischen und seit Ende der 50er-Jahre auch weltgrößten Hersteller die Rede. Honda deckte 1963 mit 1,2 Millionen Einheiten zwei Drittel der Nippon-Gesamtproduktion ab und war in jeder Hinsicht der Vorreiter. Yamaha, damals hinter Suzuki nur die Nummer drei, nutzte den gebotenen Windschatten am geschicktesten. 1960, im Gründungsjahr der US-Niederlassung, exportierte man rund 1.900 Motorräder über den Pazifik, 1963 bereits über 35.000. Zwischendurch steigerte sich auch hier das Sportengagement von der schüchternen TT-Premiere 1961 mit den Plätzen elf (250er) und sechs (125er) zum ersten GP-Sieg 1963 in Spa. Als Yamaha 1964 erstmals auf der IFMA ausstellte, da war Phil Read auf der wahnsinnig schnellen Zweitakt-Zweizylinder schon 250er-Weltmeister, für 1965 erhielt er märchenhafte wassergekühlte V-Vierzylinder. Dasselbe Muster verfolgte auch Suzuki: TT-Einstieg 1960, 1962 erster Titel mit Ernst Degner bei den 50ern, im Jahr darauf der 50er- und 125er-Titel für Hugh Anderson sowie die Gründung einer US-Dependance und 30.000 Einheiten im Nordamerika-Export.
Kawasaki mit einer guten Portion Wahnsinn
Als sich 1965 die T20 mit 29 PS und Sechsganggetriebe an die Spitze der 250er-Bewegung setzte, begann über die Firma Capri Agrati ein bescheidener Deutschlandverkauf. Auch Yamaha konnte trotz der überzeugenden YDS 3 anfangs nur dreistellige Verkaufszahlen melden, aber darum ging es noch nicht. Es ging um die Deutungshoheit an den Stammtischen. Oder frei nach Klacks: Es war egal, welches Emblem am Tank der Traumbikes klebte und woher die kamen. Hauptsache, man konnte wieder träumen.
Alle Japaner setzten darauf, dass Westeuropa in naher Zukunft ein ähnliches wirtschaftliches Niveau erreichen würde wie Nordamerika. Die Aktivitäten der frühen 60er-Jahre waren als Investition in die Zukunft zu betrachten, vermutlich hat höchstens Honda damals Geld verdient. Folglich tat dann auch Honda den nächsten Schritt und griff 1965 mit der CB 450 die Briten an. Nicht so wirklich frontal, weil sie ja ihr Hubraumplus behielten. Aber technisch zeigte der Nippon-Gigant mit dem dohc-Zweizylinder seine ganze Überlegenheit. MOTORRAD notierte die schnellste je mit einem Serienmotorrad gefahrene Nürburgring-Runde. Der Leistungskampf entbrannte vollends. Da hatten altehrwürdige Konzepte kaum noch Platz, wie auch der vierte Japaner erkennen musste. Kawasaki hatte 1962 den ältesten Fernost-Hersteller Meguro übernommen und 1964 aus dessen BSA-Lizenzbau die 650er W1 entwickelt. Zu wenig für die USA. Drehschiebergesteuerte Zweitakt-Twins taugten schon besser, auch in Europa fanden A1 (250 cm³) und A7 (350 cm³) einiges Interesse. Einiges Interesse? Man wollte viel, und versuchte es deshalb mit einer guten Portion Wahnsinn: 1969 kam die Dreizylinder-500er H1. Aber noch verrückter war Honda. Mit der CB 750 Four.
Bridgestone-Motorräder





Für kurze Zeit mischte auch der Gummiteile- und Reifenproduzent Bridgestone als Motorradhersteller mit. Ab 1958 zunächst mit kleinvolumigen Einzylinder-Zweitaktern und Drehschiebersteuerung, die bis Mitte der 60er-Jahre sogar die Konkurrenten auf den heimischen Rennstrecken bügelten. Der Rest der Motorradwelt nahm von Bridgestone-Bikes jedoch erst Notiz, als 1963 die ersten Kräder in den USA landeten, dem – wie bei allen Japanern – größten Exportmarkt. Für Furore sorgten dort vor allem die leistungsstarken Zweizylinder-Modelle im Baukastensystem, die im Hinblick auf Technik und Ausstattung einen sehr hohen Standard erfüllten. Allen voran die 1967 erschienene 350 GTR, die das Programm der 175er- und 200er-Twins nach oben abrundete. Mit Drehschiebersteuerung, Sechsganggetriebe und nominell 40 PS bei 7500/min war die 350 GTR der japanischen Zweitaktkonkurrenz zu diesem Zeitpunkt voraus. Technik-Freaks lockten außerdem eine Trockenkupplung, Alu-Zylinder mit hartverchromten Laufbahnen, die Druckölschmierung der Kurbelwellenlager, eine Duplex-Trommelbremse vorn, einstellbare Federelemente oder der für eine geringere Breite des Drehschiebermotors hinter den Zylindern positionierte Zwölf-Volt-Wechselstrom-Generator. Das alles waren zwar durchaus bekannte Technik-Schmankerln, in Kombination boten das damals aber nur die Bridgestone-Modelle 350 GTR und 350 GTO, eine modische Scrambler-Variante.
Doch das Technik-Feuerwerk gab es natürlich nicht zum Sonderpreis. So kostete die Bridgestone 350 GTR fast ein Viertel mehr als ein vergleichbares Motorrad von Honda oder Yamaha und rückte damit preislich schon in die Nähe der hubraumstarken englischen Twins. Einer der Gründe, weshalb die starke und im Vergleich zu anderen japanischen Herstellern überdurchschnittlich gut verarbeitete Bridgestone 350 GTR nur in homöopathischen Stückzahlen nach Europa kam. Der als standfest gerühmten Technik bereiteten allerdings unkonzentrierte Piloten mitunter den Garaus. Schuld hat das ungewöhnliche Schaltschema der Bridgestone, bei der die Gänge eins bis sechs nach unten durchgesteppt werden. Beim weiteren Tritt nach unten rastet wieder der erste ein – auch bei 180 km/h! Daran lag es jedoch nicht, dass Bridgestone 1971 unvermittelt die Motorradproduktion einstellte. Gerüchten zufolge hat die einheimische Konkurrenz viel Druck gemacht. Und an die wollte Bridgestone ja weiterhin millionenfach Reifen für die Erstausrüstung liefern!