Motorrad leben

Motorrad leben Aus und vorbei - wegen 900 Mark

Das erste Moped im Leben – eigentlich der absolute Wahnsinn. Nicht immer jedoch sind diese Memoiren nur mit Glücksgefühlen verbunden. MOTORRAD-Redakteur Rolf Henniges erinnert sich.

Mein Traum zerbarst in einem Sekundenbruchteil. Der Eisenstempel rauschte aus drei Meter Höhe in seiner Führung herunter und quetschte meinen linken Mittel- und Zeigefinger. Ich war 15. Tränen stiegen auf. Ich ließ ihnen freien Lauf. Ende. Aus. Verspielt. Der Sommer war gelaufen. Herbst, Winter, Frühjahr ebenso. Das ganze Leben schien vergeigt. Ich war seelisch gestorben. Wegen lächerlichen 900 Mark.
900 Mark. Der Preis, den Mecke, unser Dorf-Hero, für seine gebrauchte Yamaha DT 50 M verlangte. Es war nicht irgendeine DT. Es war die DT 50 M, die mich in
die Freiheit tragen sollte. Mittellinienweiß, 2,9 PS, 40 km/h Spitze, Zweipersonenzulassung. Mein Konfirmationsgeld reichte gerade für den Führerschein 1b, die 900
für das Mokick sollten nach vier harten Wochen Maloche auf dem Bau beisam-
men sein. Fünf Mark die Stunde, neun Stunden täglich, fünf Tage die Woche. Doch nun das. Zerquetschte Finger. Am ersten Arbeitstag. In der ersten Arbeitsstunde. Sterben geht so furchtbar schnell.
Abends stand ich mit dem Tageslohn vor unserer Haustür. Den Fünfer in der
Tasche, die Linke versteckt unter einer
dicken Schicht Mullbinde. Genäht, sieben Stiche. »Ungeschicktes Fleisch muss weg«, brummte mein Vater und sog an sei-
ner Zigarette. »Nächstes Jahr«, versuchte meine Mutter mich zu trösten, »hast du
ja wieder Sommerferien.« Doch die Welt zerbrach über meinem Bett. Zukunfts-
trümmer trudelten herab, begruben mich. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich
links all die Motorradposter an der Wand. Und davor meine Freunde auf ihren 50ern.
Haare im Wind, Dauergrinsen im Mundwinkel, zwei Finger zu einem V geformt. Petra, Maria und Meike als Sozias. Eng an die Freunde geschmiegt. Ich sah sie lachend in der Disco, sah sie lässig an ihre Maschinen gelehnt vor der Schule posieren. In ihren Augen nichts außer Mitleid und Hohn.
Wie lange schon hatte ich es mir ausgemalt? Wie lange schon war in meinem Tagebuch von nichts anderem mehr die Rede? Yamaha DT 50 M – der Schlüssel zum Erwachsensein. Zu Unabhängigkeit und Freiheit. Keine Bitten mehr, ob die
Eltern einen fahren, keine Reglementierungen durch den Busfahrplan. Darüber hinaus ein Statussymbol. Gedanklich hatte ich mit der DT längst Afrika und Südamerika durchquert, hatte eine Tramperin aufgelesen, die sich als Traumfrau entpuppte, und fuhr die 15 Kilometer von unserem
Garagentor bis zum Schulhof stets auf dem Hinterrad. Die DT mutierte zur Grundmauer, auf der alle meine Perspektiven standen. Sie war die Garantie fürs Glücklichsein. Die Sonne, um die sich die Galaxie des Daseins drehte.
Aus die Maus. Von nun an regierte Dunkelheit mein Leben. Ich begann zu hassen. Den Wecker, der mich in den
Tag rüttelte. Die Schulglocke, die mich in
den Nachmittag entließ. Meine Mutter, die nach Erledigen der Hausaufgaben ständig fragte, ob ich nicht raus wolle.

Raus in was? Die Welt da draußen erschien mir als Spiegel meiner Unfähigkeit. Das ging so weit, dass ich ernsthaft überlegte, meine Führerscheinprüfung zu ignorieren. Der theoretische Teil war bereits bestanden. Die praktische Prüfung auf einer 80er-Hercules dagegen stand noch aus. Sie sollte am Tag vor meinem 16. Geburtstag stattfinden.
Ich bestand trotz wuchernder Depression. Freude? Jubel? Keineswegs. Den Händedruck vom Prüfer habe ich kaum erwidert. »Junge«, sagte der und schaute mich an wie ein Forscher, der einen neuen Stamm entdeckt, »Junge, ich möchte gar nicht wissen, wie du schauen würdest, wenn du heute durchgefallen wärst.«
Alles war mir egal. In der Nacht, als
der elektrische Wecker auf 00.01 sprang, meinen ersten Tag mit Fahrgenehmigung signalisierte, beschloss ich abzuhauen. Blinder Passagier. Bananenfrachter. Nördliches Westaustralien. 244 Quadratmeter pro Einwohner. Keine dummen Fragen. Neues Leben. Die Überfahrt jedoch blieb mir erspart. Erstens fuhren keine Bananenfrachter nach WA, zweitens begann mein neues Leben in Südniedersachsen.
Sie sagten beide nichts. Saßen wie
immer am Frühstückstisch, wortlos. So, als hätten sie meinen Geburtstag vergessen. Rücksicht, dachte ich. Prima. Neben meiner Kakaotasse lag ein blütenweißer Umschlag. Inhalt: 900 Mark. »Kannst du zurückzahlen«, brummte mein Vater. »50 pro Monat. Dann bist du in eineinhalb
Jahren schuldenfrei.«
Die Sonne hing am Himmel wie ein
dicker, schwerer Gouda, die Fünf in Mathe schien wie eine Zwei. Es war der 3. Juni 1981, der schönste Geburtstag meines
Lebens. Ich lehnte am Zaun von Meckes Eltern. Vor mir kauerte meine glück-
liche Zukunft auf ihrem rostigen Seitenständer. Im Tank eine winzige Beule, die Kette frisch gefettet, der Gepäckträger verchromt. Mecke schnappte den Schnellverschluss auf, klappte die Sitzbank hoch, zeigte mir die Öffnung, in die ich Zweitaktöl nachkippen musste und wies mir die Stelle, an der die Hauptsicherung steckte. Er zeigte auf den Schalthebel, schaute
mir tief in die Augen und sagte: »Alle vier nach oben.« Zitternd vor Freude ballte
sich meine Faust um den Zündschlüssel. Das hier war kolossaler als ein Sechser
im Lotto und hundertmal wichtiger als das Abi. Wenn ich heute zurückdenke – es gab kaum einen Moment in meinem Leben, in dem ich mich mehr gefreut habe.

Meine beiden Freunde Chaos und Jörg hatten mich begleitet, lehn-
ten lässig rauchend an Meckes Zaun.
Neben ihnen ihre Böcke, ebenfalls Geländemaschinen. Malaguti Ronco und Suzuki TS. Ich öffnete meine Hand, starrte auf
den Zündschlüssel meiner DT. So in etwa musste man sich fühlen, wenn die schöne Gabi einen fragen würde, ob man mit ihr gehen wolle, dachte ich. »Genug geglotzt! Lass uns fahren«, knurrte Chaos und kickte seine Ronco an.
Nur einmal hatte ich bis dato die
DT berührt. Damals, auf der Party im Steinbruch, ließ mich Mecke probesitzen. Es hat gereicht. Verknallt. Meine Hände
am Lenker, der Fuß auf dem Kickstarter –
runter damit. Heiseres Bellen. Vibrieren-
de Fußrasten. Liebe auf den ersten Tritt.
Mecke blickte mich an. Ich blickte zurück. Er war jetzt 18, im Hof parkte sein Kadett B, kastanienbraun, 45 PS. Und doch lag
in seinem Blick so etwas wie Wehmut.

Helme hatten wir keine. Der Wind rieb seine Feile an unseren Gesichtern, verwirbelte die Haare, trieb kleine Tränen in die Augenwinkel. Erster, zweiter, dritter, vierter Gang. 50 km/h zeigte der fein skalierte Tacho. Er schien ebenso euphorisiert wie ich. So also war sie, die Freiheit. Der Horizont eine königsblaue Kuscheldecke, der Duft von frischem Gras eine Droge, in den Blutbahnen pure Energie. Chaos und Jörg bogen kurz
hinterm Dorf in einen Feldweg. Kniehohes Gras überlagerte tiefe Traktorspuren. Aber das wussten nur die beiden. Sie schalteten runter in den ersten Gang.
Es ist ein irres, ja großartiges Gefühl, jemanden zu überholen. Vor allem, wenn man es exakt drei Minuten nach Übernahme seines ersten Fahrzeugs erlebt. Und es ist brutal deprimierend, wenn man dabei stürzt.
Ich zog mir eine leichte Schürfwunde am rechten Handgelenk zu, der Tank bekam eine zweite Beule, zwei Blinkergläser waren zersplittert und der Schalthebel nach hinten verbogen. Ein paar Minuten später stand ich vor unserer Garage.
»Junge«, sagte mein Vater kopfschüttelnd, »du hast das Ding gerade mal ’ne halbe Stunde. Was soll denn noch alles in den kommenden zwei Jahren passieren?« Mit einer schweren Zange bog ich den Schalthebel gerade.
Es war nicht das letzte Mal.

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