Mit voll gespanntem Seil wird die neue Kawasaki ZX-6R im dritten Gang vom rechten aufs linke Knie geworfen. Die Linie durch das schnelle S passt saugend, die Kleine brüllt sich die Seele aus dem Leib und schickt sich an, die lange Start/Ziel-Gerade unter den Gummis durchzuziehen. Kurz vor der 16 auf dem Drehzahlmesser beginnt die unterbelichtete Schaltfunzel zu glimmen, der hinter der Verkleidung zusammengefaltete Pilot legt die nächste Gangstufe ein. Weiter geht's über üble Bodenwellen, die den Helm auf den Tank klopfen lassen. Es folgen die Gänge fünf und sechs, die Grüne fliegt dem Bremspunkt entgegen. Im Augenwinkel zischt die Boxengassenausfahrt vorbei, in einiger Entfernung lauert bereits das 100-Meter-Schild. Zeit, aufzutauchen und den Anker zu werfen.
Mit vier Fingern am Bremshebel und geschlossenem Gas beginnt der Energietransfer: Während die Nissins unten Speed in Heat verwandeln, steppt der Pilot durch das Kassettengetriebe und lässt die Kupplung im zweiten Gang einrücken. Die leicht tänzelnde Sechser quittiert diese Aktion dank ihrer hervorragend funktionierenden Anti-Hopping-Kupplung kalt lächelnd: Obwohl sich das Hinterrad kaum der Gravitation beugt, vermittelt die Kawa gute Stabilität. Dem Piloten ist es recht, das Einlenken verläuft spielerisch und auf der gewünschten Linie. In voller Schräglage wird in der hängenden Rechts das Gas angelegt und aufgezogen, um auf eine kurze Bergab-Gerade, die in einen sehr schnellen Rechtsbogen übergeht, hinauszubeschleunigen. Sanft, aber nicht ultradirekt setzt der Vierer das Gaskommando um. Weiter geht es, das Gefälle hinab, einer engen Rechtskurve entgegen.
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Das Testgelände namens Autopolis gehört Kawasaki Heavy Industries und stellt scharfe Anforderungen ans Fahrzeug.
Diese befahrbare Achterbahn steht auf Japans südlichster Hauptinsel Kyushu, nennt sich Autopolis und befindet sich seit einigen Jahren im Besitz von Kawasaki Heavy Industries. Natürlich entwickelt und testet hier die Zweirad-Sparte des Industriekonzerns ihre Sportmodelle und die MotoGP-Boliden. Ein guter Grund also, das 2009er-Modell der Kawasaki ZX-6R genau hier der Weltpresse vorzustellen. Die sehr anspruchsvolle Strecke fordert mit ihrem welligen Belag dem Fahrwerk alles ab, die 50 Meter Höhendifferenz saugen den Vierzylinder in den Bergauf-Passagen voll aus.
Mental hat der Pilot an der dreifachen Leitplanke zu knabbern, die für europäische Verhältnisse sehr nah am Asphaltband verläuft trotz der Kiesbetten in den Kurven. Nur gut, dass sich die neue Sechser lammfromm verhält und sich der obersten Entwicklungsmaxime, der Fahrbarkeit, verpflichtet fühlt.
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Der Reihen-Vierer hat in der Mitte zugelegt, obenherum könnte etwas mehr gehen; die Topleistung ist recht mau.
Die vier großen Vorgaben der 2009er-ZX-6R waren laut Projektleiter Yasuhisa Okabe Fahrbarkeit, Handling, perfekte Rückmeldung und Gewichtsreduktion. Letzteres Ziel war wohl das einfachste, schließlich brachte das 2008er-Modell für eine Sechshunderter stattliche 203 Kilogramm auf die Waage, fahrbereit wohlgemerkt. 10 Kilo hat die Neue verloren: Alleine der Wechsel vom Underseat- zum konventionellen Auspuff sparte ein Kilo, weitere Maßnahmen am und im Motor nochmals zwei: Die beiden Nockenwellen wurden insgesamt um eindrucksvolle 400 Gramm leichter dank neuem Chrom-Molybdän-Stahl. Der ist belastbarer als der bislang verwendete Werkstoff, so dass die Wandstärke der Wellen deutlich geringer ausfallen konnte. An Verkleidung, Rahmen und den Schutzblechen summiert sich die Diät auf 4,5 Kilogramm, der Rest kleckert sich hier und da zusammen.
Die Zentralisierung der Massen verbessert das Handling der 6er-Ninja. So ist der Motor nun etwas steiler im Rahmen montiert. Er wurde quasi um die Ausgleichswelle gedreht und vorn angehoben, wodurch der Schwerpunkt des Motors um 16 mm höher liegt als bei der Vorgängerin. Die Abkehr vom hohen Underseat-Auspuff und die jetzt verwendete konventionelle Variante mit einer Dämpfer-Vorkammer direkt unterhalb der Schwinge, nahe deren Achse, bringt weitere Kilos nahe an den Maschinenschwerpunkt. Fahrwerksseitig wurde der Lenkkopfwinkel um ein Grad steiler (jetzt 66 statt 65 Grad), der Nachlauf reduzierte sich von 110 mm auf 103 mm. In Summe also viele kleine Schritte, die der Kawa insgesamt sehr gut tun.
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Die Showa-Neuheit, die Big Piston Fork. Sie soll besser ansprechen und ist leichter als eine Cartridge-Gabel.
Ein absolutes Novum bei Serienmotorrädern ist die Showa-Gabel der Sechser. Geblieben sind die Innenrohre mit 41 Millimetern Durchmesser, geändert hat sich der Aufbau der Innereien: Anstelle einer herkömmlichen Cartridge-Gabel vertraut Kawa auf das neue, von Showa entwickelte BPF-Bauprinzip; die Abkürzung steht für "Big Piston Fork", also Großkolben-Gabel. Statt in einer Kartusche (=Cartridge) laufen die Dämpferkolben nun direkt im Innenrohr und haben daher einen viel größeren Durchmesser. Bei der 41er-Gabel der Kawa vergrößert sich der effektive Kolbendurchmesser von 20 mm (Cartridge-Gabel) auf 37 mm (BPF). Mit dem größeren Durchmesser der Kolben wächst deren obere Fläche auf beinahe das Dreieinhalbfache, wodurch der Dämpfungsdruck in der Gabel um ein Drittel geringer ausfallen kann als bei der bisherigen Bauweise. Dadurch
verbessert sich das Ansprechverhalten vor allem zu Beginn einer Federbewegung, was dem Feedback zugutekommt.
So viel zur Theorie. Zurück in den Sattel der Grünen, zurück auf die Wellblech-Achterbahn namens Autopolis: Vor allem auf der Start/Ziel-Geraden fällt auf, dass der Vierzylinder sehr gleichmäßig zur Sache geht. Er soll mehr Druck in der Mitte liefern bei gleicher Spitzenleistung wie das Vormodell. Fakt ist, dass der Mitteldruck schon da sein kann, aber obenrum zumindest subjektiv etwas fehlt. Nämlich dieser 600er-Kick, der normalerweise ab 12 000 Touren so richtig reinhämmert. Zumindest auf der Rennstrecke vermisst man ihn an der Sechser. Dafür benimmt sich das Triebwerk sonst sehr geschmeidig und lässt sich gut schalten.
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Umso knackiger ist das Handling der Sechser. Ohne große Mühe lässt sie sich von der einen auf die andere Seite pfeffern und pfeift wie der Wind durch die Ecken. In schnellen Bögen hält sie die angepeilte Linie, liegt aber nie richtig satt: Leichtes Pumpen der Hinterhand ließ sich während der Fahrzeit in Autopolis nicht komplett abstellen. Gefallen hat die neue Showa-Gabel: In der Tat taucht sie beim Anlegen der Bremse nicht ganz so schnell ab wie eine Cartridge-Version. Während ihr Ansprechverhalten durchaus überzeugte, ließ sie es aber etwas an Feedback vermissen.
Fazit: Mit der neuen ZX-6R ist Kawasaki ein großer Schritt nach vorn gelungen. Sowohl ihre Handlings-Qualitäten als auch ihre Präzision haben zugelegt. Wie gut sich der Motor gegenüber der Konkurrenz in Szene setzen kann, wird ein Vergleichstest zeigen.
Technische Daten - Kawasaki Ninja ZX-6R
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Antrieb: Vierzylinder-Reihenmotor, 4 Ventile/Zylinder, 94 kW (128 PS) bei 14 000/min*, 67 Nm bei 11 800/min, 599 cm³, Bohrung/Hub: 67,0/42,5 mm, Verdichtungsverhältnis: 13,3:1, Zünd-/Einspritzanlage, 38-mm-Drosselklappen, mechanisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung mit Anti-Hopping-Funktion, Sechsganggetriebe, Kette, G-Kat
Fahrwerk: Leichtmetall-Brückenrahmen, Lenkkopfwinkel: 66 Grad, Nachlauf: 103 mm, Radstand: 1400 mm, Ø Gabelinnenrohr: 41 mm, Federweg v./h.: 120/134 mm
Räder und Bremsen: Leichtmetall-Gussräder, 3.50 x 17"/5.50 x 17", Reifen vorn: 120/70 ZR 17, hinten: 180/55 ZR 17, 300-mm-Doppelscheibenbremse mit radial angeschlagenen Vierkolben-Festsätteln vorn, 220-mm-Einkolben-Schwimmsattelbremse hinten
Gewicht (trocken): 191 kg*, Tankinhalt: 17 Liter
Super
Grundpreis: ca. 10 700 Euro (zzgl. Nk)
*Werksangabe