Szene: Menschen und ihre Motorräder

Szene: Menschen und ihre Motorräder Am Anfang war die die Kurve

Egal, ob Klassiker, Rennsemmel, Stoppelhopser oder Reisemobil – für MOTORRAD-Redakteur Werner "Mini" Koch ist eine Maschine so wichtig wie die andere. Hauptsache, es brummt. Ein Rückblick über 40 Jahre rasende Motorrad-Leidenschaft.

Am Anfang war die die Kurve fact

Seit dieses graue, robuste Dokument mit Stempel und Passbild über den Beamten-Schreibtisch wanderte, dreht sich das Leben mit viel Schwung und noch mehr Hingabe um ein Thema: Motorrad. Und wie so oft im Leben gab es auch in diesem Fall einen – im wahrsten Sinn des Wortes – zündenden Impuls. Zehn Meter breit, aus grob gekörntem Asphalt in akkurater S-Form in die Landschaft gewalzt und keine zweihundert Meter vom elterlichen Wohnort Büsnau gelegen, segelte einst der noch führerscheinlose Jungspund mit dem 24er-Rixe-Dreigangrad mit funkenspeienden Pedalen durch die Schattenkurven der Solitude-Rennstrecke bei Stuttgart.

Zwischen Fahrrad und Führerschein schlägt, wer kennt das nicht, die Zeit der Schwarzfahrer. Olle Mopeds, für zwanzig Mark gekauft oder dem großen Bruder gegen eine Kiste Bier abgeschwatzt, wurden nach allen Regeln der Kunst so zurechtgestürzt, dass außer Motor und Rahmen nimmer viel übrig blieb. Verbogene, barocke Schutzbleche, fette Sitzbänke, peinlich leise Chrom-Schalldämpfer – alles in die Tonne. Heute gehen solche Skulpturen als Streetfighter durch, damals förderte der massive Schwund an TÜV-konformem Material den Leichtbau. Der war nötig, um beim Großen Preis von Büsnau rund um die Schrebergärten zuerst der Konkurrenz und anschließend der örtlichen Gendarmerie davonzufahren. Ohne Helm und Brille, den Kopf schräg zum Fahrtwind verdreht, ein Auge zugekniffen, das andere tränenüberflutet und ständig die Angst im Nacken, dass der frisierte Motor genau jetzt fest- oder der Sprit ausgeht. Oder beides. Mit dem Stichtag im März 1970 wurde das schwungvolle Treiben in der Schattenkurve legalisiert und in jeder freien Minute perfektioniert. In wilden Gruppen oder beim Solo-Auftritt, samstags und sonntags war Showdown am Büsnauer-S, die Zuschauerplätze reichlich besetzt.

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Raser lauscht Reiseenden: Wenn die Weltenbummler des Africa-Twin-Clubs ihre Abenteuer zum Besten geben, wird der Abend lang - und das Fass meist leer.

Kein Wunder, rasten just auf jenem Asphaltgewürm der Solitude-Strecke röhrende Rennmaschinen und ihre schwarz belederten Helden um die Wette. Phil Read, John Surtees, Mike Hailwood – für ein schnell hingekritzeltes Autogramm krochen die angefressenen Jungs durch stachelige Absperrzäune, schwänzten die Schule im Kollektiv oder fälschten mit Buntstiften und Kartoffelstempel die Eintrittskarten für das alljährliche Rennspektakel. Die umringten Draufgänger und Lebenskünstler aus dem Fahrerlager entfachten bei den ortsansässigen Buben aus dem kleinen Kaff Büsnau nur einen Wunsch: Motorrad zu fahren, so schräg, so schnell, so laut, wie es nur geht. Die Sucht ließ nicht nach, auch deshalb nicht, weil einem das geliebte Motorrad zur Flucht verhalf aus dem muffigen Kaff in geradezu obszöne Kurvenparadiese. Der obligatorischen Kino-Kurve in Büsnau (zwei Stürze mit dem Mädel hintendrauf in einer Woche) folgten rasante Exkursionen in den Schwarzwald (ein Sturz, ein Ausritt ins Unterholz), zur Neuffener Steige (ein Sturz in der Haarnadel links), in die Schweiz rund um den Klausenpass (kein Sturz – dem Herrn sei Lob und Preis) und irgendwann ins Nirwana der schrägen Sehnsucht: HOCKENHEIM (drei Stürze). Sachskurve, Scheißhauskurve, Querspange. Die Droge Kurve machte immun gegen die ernsten Mahnungen der Eltern, die liebevolle Bitte der Freundin, das verständnislose Kopfschütteln unbedarfter Besserwisser.

Gratwanderung

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Geht nicht ohne: Wenn die Kniepads übern Asphalt zwitschern, ist die Welt im Lot.

Natürlich nur denen, die mit rotzfrecher Überheblichkeit Physik und Schicksal herausforderten. Denn für Kurven gilt damals wie heute: Sie sind Schauplatz praller Lebensfreude und packender Action, um Sekundenbruchteile später mit brutaler Grausamkeit zuzuschlagen. Eine Grausamkeit, die uns mit den unscheinbaren, kleinen Holzkreuzen am Straßenrand immer wieder unmissverständlich ermahnt, weshalb der Übermut einer gesunden Portion Demut und Respekt weicht. Waren wir eigentlich bescheuert? Ja. So bescheuert wie alle, die sich auf den schmalen Grat zwischen prallem Leben und bodenlosem Absturz einlassen. Leider auch mit der Verwundbarkeit, die sich die Grenzgänger dieser Welt teilen. Was dem unbeschreiblichen Gefühl der Schwerelosigkeit in Schräglage keinen Abbruch tat. Im Gegenteil. Die Buben wollten es genau wissen. Was geht? Was geht nicht? Noch schräger, noch schneller, noch lauter, machten sich die halbstarken Büsnauer auf die Jagd nach Pokal und Lorbeerkranz. Mit Erfolg. Pokale haufenweise, Lorbeerkränze im Dutzend, sogar dreieinhalb Meistertitel heimsten sie ein. Aus der bitteren Erfahrung, dass Lorbeer auch welkt, selbst wenn er aus Plastik ist, eröffnete sich eine ganz neue Perspektive: die Entdeckung der Langsamkeit, quasi die Kehrtwende rückwärts. Wenn sich die rasende Hektik des Jahres im bunten Herbstlaub verlor, fand so mancher Racer und Heizer den Weg zur Besinnung. Eine Yamaha DT 125 Enduro trug mich in aller Weile tagelang durch eine neue Welt.

Noch vor Jahren mit der Nase im Drehzahlmesser vorbeigekachelt, erschlossen sich direkt vor der Haustüre ganz neue Möglichkeiten. Keine Stoppuhr, kein Zeittraining, kein nervenzerreißender Vorstart, nur das schnurrende 15-PS-Motorrädle, ein langer Weg, viel Zeit, noch mehr Landschaft und eine Stille, die den Hypermotoriker in mir regelrecht in Panik versetzen konnte. Und das war gut so. Doch wie heißt es so treffend: Der beste Weg, Sucht und Begierde in den Griff zu bekommen, ist es, dem Verlangen nachzugeben. Heute mit einer zurechtgemachten KTM RC8, der kompromisslosen Fahr-maschine schlechthin, die sich bei den regelmäßigen Anfällen von Raserei als ideale Therapie auf der Rennpiste erweist. Reifenwärmer runter, Visier zugeklappt, und der Jungbrunnen sprudelt, das Adrenalin erst recht. Wobei niemand auf die Weisheit des Alters hoffen sollte. Sondern besser darauf, dass die Slicks dem Geschwindigkeitsrausch die notwendige Bodenhaftung verschaffen.



Die Werkstatt teilt sich mein kantiger Silberpfeil mit einem Motorrad, das die Passion der Entdeckungsreise verkörpert wie kaum ein anderes: Honda Africa Twin 650, erster Jahrgang – und für mich der beste. Bremst die schwächliche Einzel-scheibe eigentlich, ohne dass man mit den Absätzen nachhelfen muss? Kommt man mit 50 PS überhaupt vom Fleck, oder sucht man sich bei jedem Lkw den Windschatten? Fragen, die spätestens dann ihre Antwort finden, wenn nach einer Tankfüllung, immerhin 24 Liter, im Biergarten die Füße hochgelegt werden: Was für ein Tag! Was für ein Motorrad! Was für eine Freude, mit gleichgesinnten Weltenbummlern durch die Landschaft zu pirschen und jedes Schottersträßchen, jeden Feldweg mit durchdrehendem Hinterrad einzustauben! Genau für Anfälle solcher Art musste der hauseigene Fuhrpark ein wenig zusammenrücken, um der kleinen Yamaha WR 250 R Platz zu machen. Eine Crossduro erster Güte. Frisst kein Heu, transportiert die Pizza, holt Brötchen, chauffiert den Sohnemann in die Disko und pfeffert am Wochenende über die Cross-Piste, dass es nur so spritzt. Und zwar, ohne dir ständig den Lenker aufs Maul zu hauen. Ein Motorrad, das meine Liebe zu den echten Gelände-Enduros in bester Tradition fortsetzt. Honda XL 250 S, Yamaha XT 350, Suzuki DR-Z 400 und jetzt eben WR 250 R.

Kurvenjagd auf einer "Wurzelsau"

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Nach 40 Jahren klappt's endlich mit den Wheelies - und der Spaß ist immer noch da.

Schon vor vierzig Jahren zeigten die wahren Meister ihr Können dort, wo die Mittelmäßigen straucheln. Auf zurechtgebastelten Mopeds der Gattung "Wurzelsau", mit gestrippten Enduros bis hin zu plärrenden Crossern jagte die verrückte Meute durch stillgelegte Lehmgruben, schnalzte über Sprunghügel, kraxelte durchs glitschige Wurzelwerk oder pflügte in den heimischen Wiesen und Wäldern den Boden um. Jetzt, bitte schön, keine umweltpolitischen Grundsatzdiskussionen, das haben wir in den 1970er Jahren einfach so gemacht. Trotz "Atomkraft? Nein Danke"-Aufkleber auf dem Tank wurde das Nummernschild bis zur Unkenntlichkeit mit Lehm verschmiert. Helm auf und ab durchs Gemüse, dass die Kröten und Lurche nur so Reißaus nahmen. Wäre heutzutage mit einem Großaufgebot der GSG 9 zu rechnen, zog damals der pfiffige Revierförster grinsend den Stecker vom Zündkabel – Ende der Vorstellung. Was blieb, war ein Fußmarsch mit Moped und in derben Cross-Stiefeln.Beim Stichwort Moped schwelgen wir gerne in alten Geschichten, erwischen uns im nostalgischen "Früher war alles besser"-Gefühl.

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Samstag war Basteltag, um die Schäden der vergangenen Woche im Hinterhof zu reparieren. Heute gleicht die Werkstatt eher einem Wohnzimmer.

Machen Sie sich wegen der nostalgischen Anwandlungen keine Gedanken, das geht allen Menschen so. Wenn Sie‘s nicht glauben wollen, stellen Sie einfach mal ein schönes, altes Motorrad auf die Straße und warten ab. Keine fünf Minuten später kennen Sie die komplette Lebensgeschichte Ihres ansonsten so stillen Nachbarn. Erfahren, wie er früher auf dem Tank der NSU sitzend – oder war es eine Adler? – mit dem Opa durchs Dorf geknattert ist. Und der Karle, der Alte aus der Metzgerei, hatte als Erster im Flecken eine große BMW – die war allerdings grün. Also eine Zündapp. Egal, wenn’s um alte Motorräder geht, geht’s in erster Linie um die gute alte Zeit. Eine Zeit, in der uns weder Kabelanschluss noch Internet die gesammelten Grausamkeiten der Welt in die Wohnstuben holten. Die Welt damals war überschaubar, die Technik ebenfalls und das Basteln an Motorrädern ganz normal. Nummer vier in meinem Fuhrpark ist genau deshalb ein Motorrad mit Unterbrecherzündung und Benzinhahn, mit Trommelbremse und mechanischem Drehzahlmesser. Das Monument, ein alter Honda-CB 450-Motor, Baujahr 1968, quillt aus dem zierlichen Eigenbau-Fahrwerk hervor wie unter einem Vergrößerungsglas. Einfach nur schön. Fahren tut sie auch, die Honda-Rennmaschine. Aber ich fahr‘ nicht damit, ich guck‘ sie nur an. Und manchmal drechsel ich auf der Drehbank ein neues schönes Teil, obwohl’s das alte auch getan hätte. Wie man sieht, kann man auch ohne zu fahren ganz schön verrückt sein.

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