Technik: Durchzug

Technik: Durchzug Zug um Zug

Ob ein Motorrad einen Durchzug hat wie ein ICE oder ein Güterzug, hängt von vielen Einflussgrößen ab. MOTORRAD handelt sie Zug um Zug ab.

Durchzug, eine Vokabel, die viel Raum für Spekulationen lässt. So ist am Stammtisch beispielsweise zu hören, dass Zweizylinder einen besseren Durchzug haben als Vierzylinder gleichen Hubraums, Motorräder mit großem Hubraum besser durchziehen als hubraumschwache gleicher Leistung, V-Motoren besser anschieben als Reihenmotoren mit denselben Eckdaten und derlei mehr. Dabei spielen eine ganze Reihe von Faktoren eine entscheidende Rolle.
Nach der allgemein gängigen Definition ist der Durchzug die Beschleunigung im letzten Gang, ein Kriterium also, das darüber entscheidet, wie entspannt sich ein Motorrad bewegen lässt. Im großen Gang durch eine Ortschaft rollen und am Ortsschild ohne zu schalten wieder beschleunigen oder nur durch einen Dreh am Gasgriff überholen zu können sorgt für relaxtes Motorradvergnügen. Ein Vergnügen, für das exemplarisch drei Bikes stehen: der als besonders durchzugsstark geltende Supersportler Yamaha YZF-R1, der hubraumgewaltige Allrounder Suzuki GSX 1400 und das potente Musclebike Harley-Davidson V-Rod. Diese mussten beim direkten Vergleich auf der Piste für die Durchzugsmessung von 60 bis 200 km/h gegeneinander antreten.
Um die entscheidenden Faktoren beim Durchzug zu erklären, bedarf es einiger theoretischen Betrachtungen. Um ein Objekt anzuschieben oder zu ziehen, ist Kraft nötig, im Falle eines Fahrzeugs die so genannte Zugkraft. Sie wird vom Drehmoment des Motors erzeugt und schiebt das Fahrzeug im Aufstandspunkt des Hinterreifens an. Doch bis das Drehmoment der Kurbelwelle als Antriebsmoment am Hinterrad angelangt ist, durchläuft es mehrere Stufen. Im Primärantrieb, dem Getriebe und dem Sekundärantrieb ändern sich die Übersetzungsverhältnisse und damit der Betrag des Drehmoments.
So transformiert die Kraftübertragung zum Beispiel das maximale Drehmoment von den 108 Newtonmetern der R1 an der Kurbelwelle auf den vier- bis fünffachen Wert am Hinterrad, ebenso die 105 Nm der V-Rod und die 126 der GSX 1400. Im Bereich von 60 bis 200 km/h liegen bis auf einen Durchhänger der Suzuki zwischen 60 und 80 km/h alle drei mit 400 bis 450 Nm noch nahezu gleich auf. Während sich Yamaha und Harley je nach Geschwindigkeit in der Führung abwechseln, hinkt die Suzuki trotz des größten Drehmoments wegen ihrer ellenlangen Übersetzung sogar knapp hinterher (siehe Diagramm 1). Mitentscheidend ist folglich auch die Gesamtübersetzung.
Nach dem Hebelgesetz ergibt sich aus dem Hebelarm des Hinterrads, also dessen Halbmesser, und dem Antriebsmoment am Hinterrad die Zugkraft. Obwohl beim Antriebsmoment noch leicht überlegen, fällt die V-Rod durch den größeren Hinterraddurchmesser in puncto Zugkraft zwischen 100 und 140 km/h hinter die Suzuki zurück (Diagramm 2, gestrichelte Linien).
Die Zugkraft muss nun zunächst die Fahrwiderstände wie den Roll- und Luftwiderstand überwinden, um das Motorrad zu beschleunigen. Und die lassen sich anhand von Ausrollversuchen sehr genau ermitteln. Während die unverkleideten V-Rod und GSX 1400 ähnlich hohe Werte aufweisen, verbucht die vollverkleidete und somit aerodynamisch überlegene R1 vor allem in Sachen Luftwiderstand einen erheblichen Vorteil für sich und setzt sich langsam, aber sicher von ihren Verfolgern ab. (Diagramm 4, durchgezogene Linien).
Denn die Zugkräfte, die der Antrieb nicht zur Überwindung der Fahrwiderstände bereitstellen muss, stehen dem Durchzug zur Verfügung. Oder andersherum ausgedrückt: Nach Abzug der Fahrwiderstandskräfte bleiben die tatsächlich zum Vortrieb nutzbaren Zugkräfte übrig. Dabei kommt das Newton´sche Axiom der Mechanik ins Spiel, das zum Ausdruck bringt, wie viel Kraft notwendig ist, um eine Masse zu beschleunigen. Oder einfach ausgedrückt: Steht einem Motorrad nach Überwindung der Fahrwiderstände noch besonders viel Zugkraft zur Verfügung und hat es überdies das geringste Gewicht, zieht es am besten durch.
Kein Wunder, dass die R1 die Konkurrenz schonungslos distanziert. Mit 291 Kilogramm inklusive Fahrer und Messequipment deklassiert sie die GSX 1400, die im vollen Habitus immerhin 350 Kilogramm auf die Waage bringt, sowie die 375 Kilogramm schwere V-Rod. In Verbindung mit den höchsten Zugkraftreserven (Diagramm 3) nimmt die R1 beim Durchzug von 60 bis 160 km/h der GSX 1400 glatte fünf Sekunden ab, der V-Rod sogar deren acht. Bei höheren Geschwindigkeiten klafft die Schere dann immer weiter auseinander (Diagramm 4, durchgezogene Linien).
Für den Durchzug ist also das Gesamtpaket aus Motordrehmoment, Gesamtübersetzung, den Fahrwiderständen wie Roll- und Luftwiderstand und die Masse verantwortlich. Da sämtliche Parameter erfasst sind, muss sich der Durchzug auch rechnerisch ermitteln lassen. Zumindest annähernd, denn eine Größe, das Massenträgheitsmoment der rotierenden Bauteile von der Kurbelwelle bis zu den Rädern, fand bislang keine Berücksichtigung. Und diese Teile müssen schließlich ebenfalls in Drehung versetzt werden. Deren Winkelbeschleunigung erfordert eine zusätzliche Zugkraft. Das Massenträgheitsmoment der einzelnen Bauteile messtechnisch zu erfassen ist jedoch nur mit enormem Aufwand möglich.
Unter Vernachlässigung der rotierenden Massen fallen die rechnerischen Werte daher erwartungsgemäß geringfügig besser aus als die Messwerte. Der direkte Vergleich (Diagramm 4) zeigt – trotz nie 100-prozentig gleichbleibender äußerer Bedingungen wie Wind- oder Temperatureinflüsse – eine überraschende Übereinstimmung zwischen Theorie und Praxis und beweist, dass Theorie alles andere als grau sein muss.
Das Wichtigste am Phänomen Durchzug bleibt freilich auch weiterhin: Bei Vollgas muss es richtig vorwärts gehen.

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