Dass die Struktur der Versicherungstarife geradezu unanständig unübersichtlich ist, beklagen nicht nur
die Kunden. Selbst die auskunftsfreudigsten Pressesprecher der Versicherungskonzerne werfen schon bei einfachsten Fragen wie der nach firmenspezifischen Rabatten das Handtuch und bekennen
lakonisch: »Da muss ich erst die Fachleute fragen.« Aber gleichzeitig betonen die Versicherer gebetsmühlenhaft, sie hätten doch nur das Wohl des Versicherungsnehmers im Auge. Und verdichten den Tarifdschungel unaufhörlich. So dass die Beobachter der Szene feststellen müssen: »Mit den ständig neu installierten Rabatten wird es den Kunden so gut wie unmöglich gemacht, selbst nach einem günstigen Versicherer zu suchen«, konstatiert die WHW Wirtschaftsanalysen GmbH.
Logische Folge: Lediglich fünf Prozent der Biker informieren sich darüber, ob es sich lohnt, die Versicherung zu wechseln oder nicht (Stichtag 30. November). Was zur Folge hat, dass die Versicherungen sich auf der Stabilität ihres Kundenstamms mehr oder weniger ausruhen können. Das gibt natürlich keiner zu. So prognostiziert die Sprecherin der Allianz ein gesteigertes Wechselverhalten bei den Versicherten, sobald sich das neue System der Schadensfreiheitsklassen im öffentlichen Bewusstsein verankert hat. Im gleichen Atemzug aber drückt sie ihr Bedauern darüber aus, dass es wirklich schwierig sei, sich in den neuen Strukturen zurechtzufinden. Solche Verwirrung verhindert einen Wettbewerb, der zum Absenken der Prämien führen könnte. Was angesichts sinkender Schadensfälle eigentlich der Fall sein sollte. Konkret: Der Schadensbedarf ist 2002 auf das
Niveau von 2000 zurückgegangen.
Stattdessen versuchen die Versicherer, mit immer neuen Regeln ihr eigenes Risiko weiter zu minimieren. So haben inzwischen fast alle die neue Struktur der Schadensfreiheitsklassen übernommen, wie sie der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GdV) als unverbindliche Empfehlung vorgelegt hat.
Das bedeutet: Statt bislang fünf Klassen (0, 1/2 , 1, 2, 3) gibt es jetzt 13. Nämlich eine Schadensklasse, die so genannte Malusklasse, und die Schadensfreiheitsklassen (SF) 0 und 1/2 sowie darüber die SF 1 bis 10. Wie diese Klassen gehandhabt werden, ist von Versicherung zu Versicherung verschieden womit die Hoffnung auf Transparenz für den Kunden endgültig zerstört ist. Nur eines ist bei den neuen SF-Klassen durchgängig erkennbar: Die Möglichkeit der Differenzierung wird im oberen Bereich nicht oder kaum spürbar wahrgenommen. So gelten bei der Axa in den Klassen 7 bis 10 einheitlich 55 Prozent. Nun hangelt sich der Fahrer, sofern er keine Versicherungsleistung in Anspruch nimmt, Jahr um Jahr eine Stufe höher, bis er nach vielen Jahren bei Stufe 10 angekommen ist. Umgekehrt geht der freie Fall umso schneller: Schon bei einem Schaden rutscht er bei der Axa von Stufe 10 (55 Prozent) auf Stufe 2 (90 Prozent) zurück, bei drei Schäden im Jahr gar in den Keller der Malusklasse (290 Prozent). Und die scheint der wirkliche Grund für die Spreizung der Klassen zu sein. Denn dort wird der Kunde in den meisten Fällen richtig zur Kasse gebeten, bis zu 290 Prozent des Basisbeitrags. Die muss übrigens auch jeder Fahranfänger zahlen, der in SF 0 beginnt und sich einen Unfall leistet.
Ein weiteres Mittel der Risikominderung sind die Regionalklassen, ebenfalls vom GdV vorgeschlagen und inzwischen von fast allen Assekuranzen übernommen. Sie werden ermittelt aus der statistischen Häufigkeit von Schäden innerhalb eines Zulassungsbereichs. Wer also in
einer Gegend wohnt mit hohem Schadensbedarf für die Versicherungen, der legt drauf, egal, ob er selbst je einen Schaden verursacht hat oder nicht (siehe Tabelle Seite 53). Der Berliner zahlt satte 155 Prozent des Basistarifs, während
der Biker in Braunschweig lediglich 75 Prozent berappen muss. Diese Regionalklassen werden aufgrund statistischer Erhebungen jedes Jahr neu bewertet, wobei allerdings jeweils die Werte der vergangenen fünf Jahre mit einfließen. Dadurch soll verhindert werden, dass beispielsweise ein einzelnes Unwetter sich allzu stark und dauerhaft auf die Tarife auswirkt. Dennoch kann auch der bevorzugte Braunschweiger Motorradler nicht sicher sein, ob er im darauf folgenden Jahr
nicht mehr berappen muss, weil sich die Schadensstatistik verschlechtert.
Und das macht das Maß an Unkalkulierbarkeit voll. Schon die Schadensfreiheitsklassen lassen sich nicht kalkulieren. Eine Versicherung hat beispielsweise
einen günstigen Ausgangstarif, dann aber eine teure SF 5, wiederum eine vergleichsweise günstige SF 10 und eine
katastrophale Malusklasse. Bei der anderen Versicherung ist der Basistarif höher, dafür SF 5 besser und SF 10 nur unwesentlich ungünstiger, aber der Absturz vollzieht sich nicht von SF 10 auf SF 4, sondern gleich auf SF 2, und die Malusklasse ist mäßig teuer.
Zu diesen beitragsbestimmenden Faktoren bietet nun jede Versicherung ein kleines Bündel an individuellen Rabatten an, mit denen der Biker seinen Geldbeutel etwas schonen kann. Vorteile für
Frauen gegenüber Männern, Prämien für Alter gegen Jugend, Geschenke für ABS und für die Garage, Strafen für superschnelle Maschinen bei Fahranfängern und Bares für die gediegene BMW beim Senior. Wers blickt, wird selig.
Und der Faktor, der ganz und
gar nicht kalkulierbar ist, heißt Service. Ob und wie die Versicherung reagiert
bei Reisen in Gebiete außerhalb des
Geltungsbereichs der Grünen Versicherungskarte, lässt sich noch erfragen. Wie schnell und entgegenkommend die Assekurenz aber bei einem Unfall reagiert oder auch nur bei Kleinigkeiten wie der Zulassung eines weiteren Fahrzeugs, das steht in keinem Prospekt, das lässt sich nur ermitteln über Gespräche mit Bekannten, die Erfahrungen mit eben dieser Versicherung gesammelt haben.
So bleibt es dem Biker überlassen, im Tarifdschungel zur Wünschelrute zu greifen, sich einer Wahrsagerin anzuvertrauen oder blind die Versicherung zu wählen, deren Namen an den Stammtischen öfter mal lobend erwähnt wurde.
Ausgewählte Regionalklassen
Regierungsbezirk Haftpflicht- Haftpflicht- Teilkasko- Teilkasko- Index Klasse Index KlasseWeser Ems 72,18 1 58,9 3Braunschweig 75,20 1 79,84 4Lüneburg 77,62 1 76,93 4Münster 78,84 1 70,24 4Land Bremen 79,28 1 89,37 4Hannover 79,83 1 96,15 4Schleswig-Holstein 82,92 2 113,69 5Kassel 83,43 2 55,11 2Düsseldorf 87,57 2 105,44 5Koblenz 87,92 2 57,8 3Freiburg 88,61 2 63,86 3Detmold 89,76 2 59,25 3Giessen 89,77 2 52,97 2Stuttgart 89,79 2 44,52 1Hansestadt Hamburg 92,87 2 221,98 7Karlsruhe 93,00 2 55,39 2Darmstadt 94,41 2 78,72 4Arnsberg 95,42 3 80,78 4Saarland 99,14 3 82,21 4Köln 100,16 3 130,26 6Rheinhessen-Pfalz 100,95 3 74,82 4Trier 101,35 3 72,41 4Oberpfalz 105,42 4 56,67 3Oberfranken 107,95 4 44,27 1Tübingen 109,94 4 46,41 2Unterfranken 111,32 4 49,33 2Magdeburg 112,76 4 238,72 7Mittelfranken 113,96 4 47,44 2Niederbayern 116,03 4 71,09 4Schwaben 117,31 4 51,74 2Oberbayern 119,88 4 46,75 2Brandenburg 121,78 4 261,61 8Leipzig 129,18 4 224,39 7Dessau 134,18 5 189,12 7Halle 136,04 5 180,35 7Chemnitz 137,62 5 121,66 6Dresden 137,74 5 208,18 7Thüringen 147,51 5 134,21 6Mecklenburg-Vorpommern 149,82 5 303,53 8Berlin 155,28 5 342,22 8