Die edel eloxierten und aufwändig gefertigten Sechskolben-Festsättel im Vorderrad der MV Agusta F4 S sind technische und optische Schmuckstücke. Ersatzteilpreis: rund 600 Euro pro Bremszange, rund 2310 für die komplette vordere Bremsanlage. Etwas günstiger, verglichen mit dem technischen Aufwand jedoch unverschämt teuer, ist die Anlage der Suzuki GSF 600 Bandit: 1821 Euro. Ersatzteilpreis je eines simplen Doppelkolben-Schwimmsattels: rund 400 Euro.
Angesichts der geringen preislichen Differenz erscheint die technische riesig. An der MV ist die Handpumpe inklusive Ausgleichsbehälter mit einem Schnellverschluss am Lenker befestigt, Stahlflexleitungen sichern effektive Druckübertragung bis zu den Bremszangen. Je drei verschieden große Bremskolben pro Seite – die kleinsten in Drehrichtung vorn – kompensieren durch zunehmende Zuspannkraft den Schrägverschleiß der Beläge an der auflaufenden Seite der Bremssättel. Die Suzuki-Anlage gibt sich mit identischen Kolbendurchmessern zufrieden. Auch einfache Gummileitungen und eine tausendfach verwendete Handpumpe drücken die Kosten. Dass die Bremssättel wegen der schwimmenden Lagerung mit nur zwei Kolben auskommen, ist dagegen ganz clever. Die Kolben drücken nur auf einen Belag, verschieben dadurch den ganzen Bremssattel auf seiner Führung und legen so auch den gegenüberliegenden Bremsbelag an die Scheibe an. Der Nachteil dieses Systems liegt darin, dass die einseitig angeordneten Kolben den gesamten Belagverschleiß ausgleichen müssen und dabei weit aus ihren Bohrungen wandern. So steigt bei abgefahrenen Belägen die Gefahr des Verkantens.
Davon ist hier und jetzt, bei einer Vollbremsung aus 100 km/h nichts zu merken. Beide Motorräder kommen nach exakt 39,4 Metern zum Stillstand, verzögern mit 9,8 m/s². Dabei diktiert nicht etwa die Bremsanlage die maximal mögliche Verzögerung, die ließe nämlich bei beiden weit höhere Werte zu. Vielmehr setzt die Physik auf ganz unterschiedliche Art die Grenzen. Die MV hebt das Hinterrad und würde sich bei stärkerem Zug an der Bremse überschlagen, die Suzuki ist an der Reifenhaftgrenze angelangt. Bei höherer Bremskraft würde der Fahrer unweigerlich mit blockiertem Vorderrad stürzen. Bei der MV bleibt der Druckpunkt konstant, bei der Suzuki muss leicht nachgeregelt werden. Aber nur leicht. Die Dosierbarkeit liegt bei beiden Maschinen auf hohem Niveau. Die Handkraft ist bei der GSF auch im kalten Zustand gering. Bei der F4 S muss der Fahrer bei kalter Bremse hingegen kräftiger zupacken. Erst bei »Betriebstemperatur« sinken die Handkräfte, am ehesten also bei Passabfahrten oder auf der Rennstrecke.
Wozu ist also der technische Aufwand der MV Bremse nötig? Zumindest im Alltagsbetrieb ist die Bremsanlage der Suzuki jener der MV ebenbürtig, wenn nicht gar besser, da sie schneller ihre volle Leistungsbereitschaft herstellt. Erst bei hoher Belastung, etwa im Renneinsatz profitiert die MV von der hochkarätigen Technik. Bleibt letztendlich die Faszination, die die MV nicht nur aus ihrem Gesamtkonzept, sondern auch aus ihren technischen Details bezieht.
Stopp and go-Verkehr
Die Bremse der MV arbeitet umso besser, je wärmer sie ist. Dass zeigt die leicht ansteigende Kurve (links) des Bremsendiagramms. Das diese am Ende sanft abfällt, liegt daran, dass der Fahrer etwas Bremsdruck abbauen musste, um einen Überschlag zu verhindern. Die Unregelmäßigkeiten in der Kurve der Suzuki resultieren aus einem an der Blockiergrenze operierenden Vorderreifen mit einhergehender Rücknahme des Bremsdrucks. Der Peak am Ende der Bremsung markiert den Übergang von Gleit- in Haftreibung. Ein Vorteil der MV-Bremse: Die größere Oberfläche des Sattels führt die Wärme besser ab, die Bauteile und mit ihr die Bremsflüssigkeit erhitzen sich langsamer als bei der Suzuki (Diagramm rechts). Gut: Auch nach vielen aufeinander folgenden Vollbremsungen blieb die Temperatur weit unterhalb des Siedepunkts aktueller Bremsflüssigkeiten wie DOT 4. Die Bremse der MV ist unter Extrembedingungen standfester.