Gut Ding will Weile haben. Der Sechseinhalb-Zentner-Cruiser nahm sich drei Jahre Zeit für den Langstreckentest. Dafür überstand die Yamaha XV 1600 A Wild Star die 50000-Kilometer-Distanz so gut wie ohne Probleme.
Gut Ding will Weile haben. Der Sechseinhalb-Zentner-Cruiser nahm sich drei Jahre Zeit für den Langstreckentest. Dafür überstand die Yamaha XV 1600 A Wild Star die 50000-Kilometer-Distanz so gut wie ohne Probleme.
Die Wild Star ist und hatte es nicht leicht. Brachte erstens 335 Kilogramm auf die Waage. Und musste zweitens Flüche und Spott von Sportmotorrad-Fahrern im Fahrtenbuch über sich ergehen lassen wie der Dschungel einen Monsunregen. MOTORRAD-Leser Fredy Falbe aus Berlin, einer von rund 3900 deutschen Fans der 1600er, formuliert es in seiner Zuschrift ironisch: »Objektiv gesehen ist die Wild Star eine Gurke. Aber wenn ich mit ihr unterwegs bin, dann ist die Welt so was von in Ordnung, da ist mir das völlig egal.«
Von der Harley-Gemeinde wurde die Dicke bei ihrem Debüt 1998 mit einem milden Lächeln um die Mundwinkel und hochgezogenen Augenbrauen registriert und als billiger Abklatsch einer Harley-Davidson Road King Classic abgetan.
Billig? Okay, mit einem damaligen Verkaufspreis von 19990 Mark war die XV gegenüber dem amerikanischen Vorbild nahezu 15000 Mark günstiger. Aber Abklatsch? Nein, Yamaha versteckte im Cruiserkleid nicht nur aufwendige Motorentechnik, sondern schuf 1999 mit der XV 1600 auch den hubraumstärksten Serienzweizylinder unter den Motorrädern. Mit einem Kolbenhub von gewaltigen 113 Millimetern und einer Kurbelwelle mit einem Gewicht von 21,8 Kilogramm.
Dimensionen, wie man sie bei kleineren Schiffsdieseln und nicht bei Zweirädern vermutet. MOTORRAD war gespannt, ob sich das Dickschiff über 50000 Kilometer auf Kurs halten würde.
Der Erste, dem das im wahrsten Sinne des Wortes ziemlich schwer fällt, ist Tester Christian Vetter. Genau vier Wochen nach der Zulassung am 27. April 1999 schreibt er bei Kilometerstand 2345: »Es ist unmöglich, mit dieser Karre einen sauberen Kurvenstrich zu fahren. Wenn man nicht mit dem Schalten beschäftigt ist, muss man aufpassen, dass der Bock nicht bei der kleinsten Schräglage aufsetzt.« Womit geklärt wäre, woher der Ausdruck Trittbrett-Surfen stammt. Was für den Fahrer angesichts des kratzenden Geräusches und der sprühenden Funken anfangs noch witzig ist, entpuppt sich bald als Falle. Denn die klappbaren
Trittbretter der XV 1600 erreichen schnell ihren Anschlag und hebeln die gut sechseinhalb Zentner im ungünstigsten Fall aus der Kurvenbahn. Mit der Wild Star ist es wie mit Tieren: Nur bei artgerechter Haltung wird man richtig Freude an ihr haben. Also möglichst immer geradeaus fahren.
Der Kritikpunkt des häufigen Schaltens wird nicht nur oft im Fahrtenbuch notiert, sondern taucht auch in den Leserzuschriften häufig auf. Yamaha hat die Getriebeabstufung der Wild Star eher cruiseruntypisch gewählt. Hat den vierten und fünften Gang elendslang übersetzt und damit verhindert, dass der letzte Gang zum gemütlichen Gleiten genutzt werden kann. Wer im landsträßlichen Verkehrsfluss nicht als Hindernis gelten will, der verpasst seinem Schaltfuß notgedrungen ein exzessives Workout.
Viel passiert auf den ersten zehntausend Kilometern nicht, von merkwürdigen Geräuschen aus dem Scheinwerfergehäuse und der kurzzeitigen Dienstverweigerung des Lenkschlosses mal abgesehen. Und die Sportfahrerfraktion hat sich immer noch nicht mit der Dicken angefreundet. Auszüge aus dem Fahrtenbuch: »Leerlaufgeräusche wie ein Stationärdiesel, leichtfüßig wie ein Flusspferd, gelungener Versuch, die Nachteile eines Autos mit denen eines Motorrads zu kombinieren.« Liebe Sportfahrer, ihr seid nicht aufgeschlossen. Angeschliffene Kniepads sind bei den Wild-Star-Eignern so angesagt wie Herr Bohlen bei Frau Feldbusch.
Sommerzeit, Reisezeit. Aus dem Yamaha-Zubehörangebot wird die Wild Star im Juli 1999 durch lederne, aber mit einem Preis von 2124 Mark auch sehr teure Packtaschen, eine Gepäckbrücke und ein Windschild aufgewertet. Werden die praktischen Packtaschen von den meisten XV-Treibern gern angenommen, so hagelt es für die Scheibe heftige Kritik. Die reicht von verzerrter Sicht und Irritationen durch die sich bei Nacht in der Scheibe spiegelnde Instrumentenbeleuchtung bis hin zu massiven Verwirbelungen. Diese sind besonders bei Regen störend. Denn die Regentropfen schwirren wie ein Schwarm aufgescheuchter Bienen um den Oberkörper des Fahrers und werden durch die Luftwirbel teilweise sogar von unten in den Helm gedrückt.
MOTORRAD-Mitarbeiter Peter Badtmann ist jemand, der sich mit der Gemütlichkeit der Dicken anfreunden kann. Er huldigt ihr: »Wenn der Stress des Alltags vom satten Schlag des V-Zwo abgeschüttelt wird, ohne dabei zu vibrieren, kommt ein Fahrspaß der ganz besonderen Art auf.« Dem kann der Geschäftsführende Redakteur Harry Humke nur zustimmen. Er übernimmt die Patenschaft für die Wild Star, pilotiert sie in den genau drei Jahren, die sie für die Testdistanz von 50000 Kilometern benötigt, über 13000 Kilometer. Nutzt sie als Ausflugsdampfer, zum Stressabbau, als schnödes Transportmittel. Ist völlig begeistert: »Tanken und fahren, was willst du mehr?«
Harrys Baby ist extrem pflegeleicht, verlangt außerhalb der Inspektionen nie nach Öl, nur zweimal nach neuen Bremsbelägen, braucht im Schnitt um die 6,5 Liter Benzin auf 100 Kilometer und ab und an einen neuen Hinterreifen. Hier erweist sich der Dunlop D 404 mit durchschnittlich 9300 Kilometer Laufleistung als der Langlebigste, dicht gefolgt von dem Bridgestone Exedra und dem Pirelli Route 66. Wobei der Pirelli die Wild Star geringfügig präziser führt als die Konkurrenz. Eine deutliche Verschlechterung der Fahreigenschaften war bei keinem der montierten Reifen zu verzeichnen. Das für viele Piloten gewöhnungsbedürftige Fahrverhalten resultiert zum einen aus dem Gewicht von 335 Kilogramm, zum anderen aus der unterdämpften Federung. Hinzu gesellt sich die Eigenart, dass der Lenker schnell dazu neigt, in engen Kehren und beim Wenden einzuklappen. Dies zusammen erstickt die Wunschträume der Heizer im Keim.
Technisch kämpft das Dickschiff auf der gesamten Distanz nur mit verhältnismäßig kleinen Problemen. Außer einem undichten Tank bei Kilometerstand 26960 er wird auf Garantie getauscht notiert das Fahrtenbuch 10000 Kilometer später noch eine rutschende Kupplung und einen gebrochenen Auspuffhalter. Die Kupplungslamellen werden getauscht, der Halter auf Garantie ersetzt. Erneut tauchen Hinweise über ein mysteriöses Scheppern aus dem Scheinwerfer im Fahrtenbuch auf. Zielstrebig steuert die 1600er dem Ende des Langstreckentests entgegen.
Und leider auch einer Verkehrsinsel. Harry, der Pate, selbst ist es, der sein Pflegekind bei strömendem Regen zu Fall bringt und gegen einen Betonsockel rutscht. Den Auspuff zerschraddelt, die vordere Felge und die Bremsscheiben verbiegt, den Krümmer einstampft. Die Dicke kommt in die Zweiradklinik, Harry mit dem Schreck davon.
Endspurt ist angesagt. Die Wild Star wehrt sich gegen die bevorstehende Zerlegung ein-, zweimal mit sporadischen Zündaussetzern. Es nützt nichts. Nach genau drei Jahren Fahrzeit, und damit doppelt so lange wie Sportmotorräder, hat sie es geschafft. Wird zerlegt, vermessen und bestaunt. Denn: Der Motor präsentiert sich in nahezu einwandfreiem Zustand. Lediglich die Auslassventile künden mit starken Brandspuren auf den Sitzflächen von einem zu engen Ventilspiel, vermutlich ein Servicefehler der Werkstatt. Sie müssen auf jeden Fall erneuert werden. Die Sitzflächen der Einlassventile sind leicht eingeschlagen, nach einer Überarbeitung jedoch weiter verwendbar. Auf einem Nocken der Nockenwelle ist beginnendes Pitting zu erkennen. Die Kupplungstellerfeder hat sich gesetzt, sie muss getauscht werden. Im absoluten Topzustand zeigt sich das Getriebe, es sind kaum Laufspuren oder Verschleiß feststellbar. Das Pleuellagerspiel liegt zwar noch im Toleranzbereich, allerdings ist die erste Laufschicht der Lager leicht angegriffen. Sie sollten ebenfalls getauscht werden. Dasselbe gilt für das verschlissene Lenkkopflager.
Insgesamt hinterlässt der dicke Cruiser einen recht zufrieden stellenden Eindruck. Wenngleich sich nicht jeder mit dem hohen Gewicht und der Sitzposition auf Anhieb anfreunden konnte, muss man der Wild Star eines lassen: Sie war schwer in Ordnung.