Da stehen sie nun. Wenn sie rauchen könnten, würden sies tun. Filterlose zweifelsfrei. Man muss schon genau hinsehen, um Unterschiede zu erkennen. Auffälligstes Merkmal: Die 1200er Nightster rollt auf Speichen-, die 883 Kubik starke Iron auf Gussrädern. Und der luftgekühlte, urwüchsige 45-Grad-V2 präsentiert sich in unterschiedlichen Gewändern: grau mit polierten Ventildeckeln bei der Nightster, schwarz bei der Iron. Auch ist die Riemenabdeckung der 1200er gelocht und die Lackierung unterschiedlich, bei der Nightster sogar zweifarbig ausgeführt. Aber sonst Wenn ein pragmatisch denkender Mensch die beiden Testmaschinen umschleicht, wird er sich vielleicht Folgendes fragen: Was rechtfertigt bei zwei technisch beinahe identischen Bikes den Preisunterschied von mindestens 1875 Euro? Sind die Speichenräder der 1200er so viel teurer als die Gusspendants der 883? Polierte Ventildeckel erklären den Aufpreis wohl kaum. Eine Nachforschung fördert Erstaunliches zutage: Die Gussräder sind mit 1187 Euro gegenüber 637 Euro für die Speichenräder der Nightster sogar fast doppelt so teuer. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Amis die Preise ihrer 883-Einsteigermodelle bewusst niedrig ansetzen, um Kunden langfristig in die Harley-Welt zu holen oder auch vom Kauf eines japanischen Mittelklasse-Cruisers wegzufischen, ist hoch.

Egal, die beiden lehnen sich mit ihren Seitenständern so lässig gegen die Straße wie James Dean an die Wand. Steigen wir einfach auf. Man sitzt anders. Die Nightster hat einen breiteren Lenker, und der Sitz ist unkomfortabler, da er etwas weniger Polsterung als das Iron-Pendant besitzt. Dieser Unterschied schlägt sich auch in der Höhe nieder: Mit 740 Millimetern hockt der Iron-Fahrer 20 Millimeter höher als der Nightster-Pilot. Wurscht, beides ist tief und damit cool genug. Wendemanöver sind durch den zierlicheren Lenker für Menschen mit kurzen Armen etwas einfacher, sie brauchen nicht so weit zu greifen. Die Soundwertung gewinnt die 1200er, allerdings nur mit wenig Abstand. Wunderts wen? Mehr verbrannte Luft, etwas höher verdichtet sogar, zwängt sich durch Röhren mit identischen Durchmessern. Die Kupplung geht bei beiden Modellen gleich schwer, zierliche Persönchen mit Spaghetti-Unterarmen werden daran verzweifeln. Aber hier ist der erste Vorteil der 1200er: Beim zielfreien, innerstädtischen Cruisen braucht der Nightster-Fahrer weniger kuppeln als der Iron-Pilot. Warum? Um 50 km/h bei wohlfühlend-lässigen 2500/min zu cruisen, reicht bei der 1200er der zweite Gang, während bei der 883 der dritte eingelegt sein muss. Somit ist ein Schalt- wie Kupplungsvorgang mehr notwendig. Der Grund dafür liegt in der kürzeren Getriebeübersetzung des kleinen Sportster-Modells - bei 170 km/h ist nämlich Schluss, während die große Schwester bis 210 übersetzt ist.
Aber noch etwas wird deutlich: Die Differenz von 53 PS (Iron) zu den 67 Pferden der Nightster ist gar nicht so riesig, denn die kürzere Übersetzung kaschiert sie beim Landstraßencruisen. Wer im gemütlichen 70- bis 100-km/h-Bereich unterwegs ist, der wird bei der Iron überhaupt nichts vermissen. Das viel höhere Drehmoment merkt man hingegen in niedrigen Drehzahlen, vor allem beim Anfahren. Doch fahren wir nicht an, besuchen wir lieber einen 150 Kilometer entfernten Freund, zu dem die Strecke über ein Autobahnteilstück führt. 120 km/h Cruise-Speed sind optimal für die beiden Sportster. Man könnte jetzt annehmen, der kleinere Motor wäre laufruhiger. Denkste! Der 1200er-V2 gibt sich bei konstant 120 km/h subjektiv ein wenig cooler und lässiger, denn er dreht übersetzungsbedingt nur 3500/min, während die Kurbelwelle des 883-Aggregats bei identischem Speed 800-mal mehr rotieren muss. Gefühlt hat der 1200er-Motor die etwas größere Schwungmasse, was dem Cruisen sicherlich zugute kommt. Mit 96,8 Millimeter haben beide Twins identischen Hub, das Hubraumplus der 1200er gewinnen die Amis durch eine 12,7 Millimeter größere Bohrung. Doch das macht den eigentlich langhubigen Motor - die Rumpfkonstruktion ist identisch - noch lange nicht zum Kurzhuber.

Und das an den Stammtischen politisierte Hubraumplus? Natürlich zieht die 1200er besser durch als die 883er. Und sie beschleunigt auch etwas besser, keine Frage. Aber das allein macht es nicht aus. Beim Ampelstopp hüpfen beide Antriebe unnachahmlich und wunderbar asynchron in ihren Rahmenhalterungen, beide transportieren „Good Vibrations und der kleine Soundunterschied ist ebenfalls vernachlässigbar, denn hier rüsten viele sowieso mit Zubehörschalldämpfern auf. Auch beim beinah identischen Gewicht - die Iron ist vier Kilogramm schwerer: kein Unterschied spürbar. Bremsen - identisch. Fahrwerke - identisch. Federwege und deren Abstimmung - identisch. Also zurück zur Kernfrage: Reichen auch 883 Kubik? Antwort: ja! Denn das lässige, unnachahmliche Fahrgefühl, wie es nur die luftgekühlten Milwaukee-Twins verschenken, transportiert selbst das kleinste Baby des US-Konzerns. Deshalb folgen-der Rat: Wer für die Erfüllung seines Traumes das Geld monatlich mühselig in 100-Euro-Summen zusammensammeln muss, braucht in diesem Fall nicht unbedingt zwei Jahre weitersparen - die Iron tuts auch. Wer die 9995 Euro für die einfarbige 1200er jedoch schon zusammen hat, und aufs Hubraum-Prestige nicht unbedingt Wert legt, der sollte ebenfalls die Iron wählen und sie mit den gesparten 1875 Euro individuell customizen oder lackieren lassen.
Fazit
Die Frage nach Leistung stellt sich kaum. Wer auf ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis Wert legt, kommt an der Iron nicht vorbei: Für kleines Geld bietet sie echtes und großes Harley-Feeling. Das Erlebnis Motorrad ist aufgrund eingeschränkter Fahrdynamik auf beiden Bikes nahezu identisch, was ebenfalls für die 883 spricht. Den etwas höheren Motorerlebniswert bietet natürlich die 1200er. Hubraumfetischisten sollten deshalb zum Brocken mit den dickeren Kolben greifen.
Technische Daten

Harley-Davidson Sportster Iron 883 | Motor |
Bauart | Zweizylinder-Viertakt-45-Grad-V-Motor | Einspritzung | Ø 45 mm |
Kupplung | Mehrscheiben-Ölbadkupplung | Bohrung x Hub | 76,2 x 96,8 mm |
Hubraum | 883 cm3 | Verdichtung | 09:01 |
Leistung | 39,0 kW (53 PS) bei 5900/min | Drehmoment | 70 Nm bei 3750/min |
Fahrwerk | Rahmen | Doppelschleifenrahmen aus Stahl |
Gabel | Telegabel, Ø 39 mm | Bremsen v/h | Ø 292/292 mm |
Assistenz-Systeme | – | Räder | 2.50 x 19; 3.00 x 16 |
Reifen | 100/90 19; 150/80 16 | Bereifung | Michelin Scorcher 31 | Maße und Gewichte |
Radstand | 1510 mm | Lenkkopfwinkel | 60,0 Grad |
Nachlauf | 117 mm | Federweg v/h | 145/54 mm |
Sitzhöhe** | 740 mm | Gewicht vollgetankt** | 261 kg |
Zuladung** | 193 kg | Tankinhalt/Reserve | 12,5/3,8 Liter |
Service-Intervalle | 8000 km | Preis | 8120 Euro |
Nebenkosten | zirka 350 Euro | MOTORRAD-Messwerte |
Höchstgeschwindigkeit* | 170 km/h | Beschleunigung 0–100 km/h | 6,4 sek |
0–140 km/h | 12,8 sek | Durchzug 60–100 km/h | 7,2 sek |
100–140 km/h | 8,8 sek | Verbrauch |
Landstraße | 4,1 Liter/Super | Reichweite Landstraße | 305 km |
Harley-Davidson Sportster Nightster 1200 | Motor |
Bauart | Zweizylinder-Viertakt-45-Grad-V-Motor | Einspritzung | Ø 45 mm |
Kupplung | Mehrscheiben-Ölbadkupplung | Bohrung x Hub | 88,9 x 96,8 mm |
Hubraum | 1202 cm3 | Verdichtung | 9,7:1 |
Leistung | 49,0 kW (67 PS) bei 5700/min | Drehmoment | 98 Nm bei 3200/min |
Fahrwerk | Rahmen | Doppelschleifenrahmen aus Stahl |
Gabel | Telegabel, Ø 39 mm | Bremsen v/h | Ø 292/292 mm |
Assistenz-Systeme | – | Räder | 2.50 x 19; 3.00 x 16 |
Reifen | 100/90 19; 150/80 16 | Bereifung | Michelin Scorcher 31 | Maße und Gewichte |
Radstand | 1510 mm | Lenkkopfwinkel | 60,0 Grad |
Nachlauf | 117 mm | Federweg v/h | 92/41 mm |
Sitzhöhe** | 720 mm | Gewicht vollgetankt** | 257 kg |
Zuladung** | 197 kg | Tankinhalt/Reserve | 12,5/3,8 Liter |
Service-Intervalle | 8000 km | Preis | ab 9995 Euro*** |
Nebenkosten | zirka 350 Euro | MOTORRAD-Messwerte |
Höchstgeschwindigkeit* | 190 km/h | Beschleunigung 0–100 km/h | 5,3 sek |
0–140 km/h | 10,1 sek | Durchzug 60–100 km/h | 6,1 sek |
100–140 km/h | 8,0 sek | Verbrauch |
Landstraße | 5,0 Liter/Super | Reichweite Landstraße | 250 km |
*Herstellerangabe; **MOTORRAD-Messungen; 1Zweifarb-Version 10 465 Euro