Eines muss vorab gesagt werden: MOTORRAD wollte nicht warten, bis die Harley-Davidson Street 750 Ende September auch in Deutschland erhältlich ist, und hat sich für diesen Test ein Exemplar aus dem südlichen Europa besorgt. Dort stehen die Street 750-Modelle bereits seit Juni in den Schaufenstern der Dealer. Etwas, das nicht alle glücklich macht. Denn hinter vorgehaltener Hand hört man vereinzelt Händler knurren.
An der Harley-Davidson Street 750, so heißt es, sei kaum ein Teil verbaut, das mit den anderen Baureihen kompatibel ist: den erfolgreichen Sportster-, den Dyna-, V-Rod-, Touring- oder Softail-Modellen. Gefühlt sind diese Bikes bereits seit kurz nach dem Aussterben der Dinosaurier am Markt und erfreuen sich steigender Beliebtheit. Ersatzteilversorgung gesichert. Nun geht es um zusätzliche Lagerhaltung und Investitionen. Das alles wäre kein echtes Problem, wenn die Neue bei ihrer Weltpremiere nicht nur den Inder, sondern auch den Europäer überzeugt hätte. Hat sie aber nicht.
Harley-Davidson Street 750 wird komplett in Indien gebaut
Journalisten meckerten über grobschlächtige Verarbeitung, kunterbunte Steckverbindungen und attestierten ihr fehlenden Charme. Warum? Eine Harley ist gemeinhin zeitlos. Sie ist in erster Linie kein Motorrad, sondern gilt als Transportmittel für ein Lebensgefühl. Und ebendies traute man der Neuen von Beginn an nicht zu. Wäre da nicht das auf den breiten und flachen Tank geklebte Logo der US-Marke – die Harley-Davidson Street 750 könnte genauso gut in der hintersten Ecke eines Hyosung-Ladens staubbedeckt auf Kundschaft warten.
Warum die Maschine so aussieht, wie sie aussieht, ist schnell erklärt: Harley-Davidson will den Fan-Kreis erweitern, die Harley-Davidson Street 750 soll europäische Neukunden im Alter zwischen 18 und 30 Jahren begeistern. Vor allem aber möchte die Company vom Boom in den asiatischen Wachstumsmärkten profitieren. Deshalb hat Harley-Davidson ein Werk in Indien errichtet, in dem die Modelle Street 500 (kommt nicht nach Europa) und Street 750 komplett gebaut werden.

Da steht sie also nun, in Deutschland. Der Preis ist noch nicht festgelegt, wird sich aber um die 8000 Euro bewegen, lässt der Importeur verlauten. Und ergänzt: ABS wird es für die Harley-Davidson Street 750 erst ab 2016 geben. Leider steht sie neben einer Harley-Davidson Sportster Iron 883, dem recht erfolgreichen Einstiegsmodell der Company. Mit 9495 Euro inklusive ABS ist die Iron Harleys günstigstes und zugleich auch ein ungemein cooles Modell. Egal, aus welcher Richtung die Sonne an diesem herrlichen Sommertag auch scheint – die Neue steht im Schatten der „kleinen“ Iron. Mit Größe hat das weniger zu tun. Eher mit Ausstrahlung. Doch lassen wir das.
Hoch das Bein, rein in die Sitzmulde, Daumen auf den Knopf für den E-Starter. Auch Kurzbeinige erreichen bei der Sitzhöhe von 720 Millimetern mit den Füßen noch sicheren Stand. Allerdings hockt man ziemlich inaktiv, zusammengefaltet, man kauert förmlich – Langbeinige fühlen sich deplatziert. Darüber hinaus muss leider gesagt werden: Alles an der Harley-Davidson Street 750 wirkt auf den ersten Blick billig gemacht. Die Schalterchen könnten aus dem Kaugummiautomaten stammen, und die runde Scheinwerfer-Verkleidung wirkt wie aus einem großen schwarzen Joghurtbecher geschnitten. Und auch die Befestigung der Verkleidung … Jungs, nee! Das könnt ihr besser. Da reicht ein Blick auf Schwester Iron. Wenigstens klingt der wassergekühlte 60-Grad-Vau-Motor nicht impotent. So richtig, als wolle er die Nacht draufmachen, hört er sich jedoch auch nicht an. Es handelt sich um eine Neuentwicklung, die mit dem ebenfalls wassergekühlten V-Rod-Motor bestenfalls den Zylinderwinkel gemein hat. Na, dann mal los!
Im Vergleich beider Motoren agiert der 750er lebendiger
Der 750er-Motor überrascht vom ersten Meter an, denn er schafft einen lobenswerten Spagat: Auf der einen Seite ist das kurzhubig ausgelegte Aggregat recht drehfreudig, auf der anderen gefällt ihm niedertouriges Gebummel. Mit 2000/min im fünften Gang durch die Stadt cruisen ist gar kein Problem. Das mag die luftgekühlte, 883 Kubik starke Schwester weniger, obwohl ihr Motor langhubig ausgeführt ist. Überhaupt: Im direkten Vergleich beider Motoren agiert der 750er wesentlich lebendiger, tatendurstiger, läuft zudem geschmeidiger und vibriert viel weniger. Die Abstimmung ist allerdings noch etwas verbesserungswürdig. Gerade beim Mitschwimmen im Stadtverkehr überrascht die Harley-Davidson Street 750 mit leichtem Konstantfahrruckeln. Der in der Harley-Davidson Sportster Iron 883 werkelnde, beinahe schon anachronistische 45-Grad-V2 mit seinen vier unten liegenden Nockenwellen, Stößelstangen und Kipphebeln läuft hingegen mechanisch lauter und geht phlegmatischer ans Werk, doch er hängt perfekt am Gas.
Boxenstopp. Rauchend umrundet ein neugieriger Passant beide Bikes. Wie sich herausstellt ein passionierter Harley-Fahrer. Der Harley-Davidson Sportster Iron 883 nickt er anerkennend entgegen, zur neuen Harley-Davidson Street 750 sagt er: „Wenn du im Niemandsland mal mit leerem Tank und pleite stehen bleibst und ein Schrotthändler in der Nähe ist, verkauf einfach die Achsmuttern von Schwinge und Hinterrad. Bei den Dimensionen bekommst du dafür den Gegenwert einer Tankfüllung.“ Es sind 36er, grobe Ausführung. Was er zu den Stahlträgern sagt, die sie in Indien als Fußrastenträger zurechtgeschustert haben, sollte man Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, an dieser Stelle lieber ersparen. So viel sei jedoch gesagt: In puncto Finish, Materialauswahl und Spaltmaß ist noch viel Luft nach oben. Hier sollte der Hersteller nachbessern. Dass er es kann und es auch anders geht, zeigt Harley mit der ebenfalls günstigen Iron.

Sicherlich fährt auch das Auge mit, aber diese Dinge sind subjektiv. Ganz objektiv betrachtet, lenkt sich die Harley-Davidson Street 750 wesentlich leichter und spielerischer als ihre Schwester und ist handlicher. Auffällig ist allerdings ein leichtes Rühren um den Lenkkopf, nur eine hauchzarte Irritation, die durch ein zu straff angezogenes Lenkkopflager herbeigeführt werden könnte. Oder aber durch die Geometrie in Verbindung mit dem zierlichen 15-Zoll-Vorderrad. Es ist nicht bedrohlich, nie gefährlich. Aber spürbar. Auch hier gibt sich die Harley-Davidson Sportster Iron 883 im direkten Vergleich träger und unhandlicher, obwohl sie lediglich 27 Kilogramm schwerer ist.
Fahrwerksseitig liegt die Harley Davidson Sportster Iron 883 eine Nuance satter auf der Straße, wirkt homogener abgestimmt. Den Begriff Komfort zu verwenden wäre allerdings falsch. Die 92 Millimeter Federweg vorn respektive 41 Millimeter hinten sorgen gerade mal dafür, dass das Gebiss nicht rausfliegt, wenn man einen Bahnübergang überquert. Dagegen wirkt die Harley-Davidson Street 750 mit ihren vergleichsweise üppigen Federwegen von 140 Millimetern vorn und 90 hinten fast wie eine Sänfte und offeriert etwas mehr Komfort, wobei sowohl das Federbein als auch die Gabel tendenziell mehr Dämpfung vertragen könnten.
Seit 2014 kommt in den Harley-Modellen ein neues ABS zum Einsatz
Seit 2014 kommt in den Harley-Modellen ein neues ABS zum Einsatz, mit dem die Harley-Davidson Sportster Iron 883 ebenfalls bestückt war (Aufpreis: 500 Euro). Doch die Bremsanlagen unterscheiden sich nicht nur durch das fehlende ABS, sondern auch in der Hardware. Und vor allem der Wirkung. So ist in puncto Bremsleistung bei der Harley-Davidson Street 750 noch viel Luft nach oben: Ihre Vorderradbremse wirkt stumpf, verlangt nach viel Handkraft und hat keinen klaren Druckpunkt. Die Wirkung der Hinterradbremse ist okay. Mehr aber auch nicht.
Das Gegenteil ist bei der Harley-Davidson Sportster Iron 883 der Fall. Hier stimmt alles. Die Verzögerung ist mit beiden Bremsen sehr gut und der Druckpunkt klar definiert. Einzige Schwachstelle beim Verzögern sind die Reifen: Die montierten Michelin Scorcher 31 sind im Nassen nicht nur beim Übertragen der Bremskraft eine Katastrophe, sondern auch bei geringer Schräglage, denn sie rutschen schnell weg. Diesbezüglich verhält sich der auf der Harley-Davidson Street 750 montierte Michelin Scorcher 11 bei Nässe etwas besser. Allerdings läuft er jeder Rille hinterher.
Das Harley-Feeling bleibt aus
Zurück zum Subjektiven: Stellt sich auf der Harley-Davidson Street 750 das legendäre Harley-Feeling ein? Jener Mix aus Die-ganze-Welt-kann-mich-mal und dem Relaxtsein? Ab Werk wird das schwer. Mit vorverlegten Fußrasten, einem gefälligen Kennzeichenträger, einem coolen Lenker und einem kernigeren Auspuff könnte sich die Neue jedoch durchaus zu etwas mausern, nach dem sich die Nachbarn umdrehen, wenn man zur Arbeit fährt. Und das Archaische? Moment! Auch die V-Rod-Modelle haben Jahre gebraucht, um von der recht eingefahrenen Harley-Szene als „echt“ anerkannt zu werden. Harley-Davidson musste in die Zukunft investieren. Und hat dies mit der Street bestens getan.
Kommen wir zur letzten Frage: Die Harley-Davidson Street 750 wirkt nicht besonders edel, aber sie fährt manierlich – wie sieht die Zielgruppe der Street 750 in Deutschland aus? Die Antwort ist denkbar einfach: Alle, die mit einer Harley schon lange liebäugeln, denen die Brocken aus Milwaukee jedoch bislang zu schwer und zu groß waren, könnten theoretisch zur Street 750 greifen, der handlichsten Harley im Programm. Interessenten gibt’s bestimmt. Wer das nicht glaubt, darf sich gern an den überragenden Erfolg der Yamaha XV 535 erinnern. Ebenso interessant dürfte die 750er für junges Publikum ohne die viel gerühmte Harley-Brille auf der Nase sein.
Denn wer bislang den Harley-Laden betrat, hatte im Allgemeinen ein bestimmtes Bild vor Augen, dem die Harley-Davidson Street 750 nicht unbedingt gleich entspricht. Letzten Endes könnte einem Erfolg hierzulande jedoch die Preispolitik im Weg stehen. Denn wenn beide Maschinen im Showroom nebeneinanderstehen, muss die Preisdifferenz größer sein als nur rund 1000 Euro. Was nicht bedeuten soll, dass man den Preis der Harley-Davidson Sportster Iron 883 anheben sollte.
Technische Daten Harley-Davidson Sportster Iron 883

Motor
Bauart | Zweizylinder-Viertakt- 45-Grad-V-Motor |
Kupplung | Mehrscheiben- Ölbadkupplung |
Bohrung x Hub | 76,2 x 96,8 mm |
Hubraum | 883 cm³ |
Verdichtung | 9,0:1 |
Leistung | 39,0 kW (53 PS) bei 5750/min |
Drehmoment | 70 Nm bei 3750/min |
Fahrwerk
Rahmen | Doppelschleifenrahmen aus Stahl |
Gabel | Telegabel, Ø 39 mm |
Bremsen vorne/hinten | Ø 300/260 mm |
Assistenz-Systeme | ABS |
Räder | 2.50 x 19; 3.00 x 16 |
Reifen | 100/90 B 19; 150/80 B 16 |
Bereifung | Michelin Scorcher „31“ |
Maße und Gewichte
Radstand | 1510 mm |
Lenkkopfwinkel | 59,0 Grad |
Nachlauf | 117 mm |
Federweg vorne/hinten | 92/41 mm |
Sitzhöhe* | 750 mm |
Gewicht vollgetankt* | 258 kg |
Zuladung* | 196 kg |
Tankinhalt/Reserve | 12,5 Liter |
Service-Intervalle | 8000 km |
Preis | 8995 Euro |
Preis Testmotorrad | 9495 Euro² |
Nebenkosten | 380 Euro |
*MOTORRAD-Messungen; ²ABS (500 Euro) |
MOTORRAD-Messwerte
Höchstgeschwindigkeit* | 160 km/h |
Beschleunigung 0-100 km/h 0-140km/h | 7,1 sek 14,5 sek |
Durchzug 60-100 km/h 100-140 km/h | 7,5 sek 9,9 sek |
Verbrauch Landstraße/100 km | 4,4 Liter |
Reichweite Landstraße | 284 km |
*Herstellerangabe |
Technische Daten Harley-Davidson Street 750

Motor
Bauart | Zweizylinder-Viertakt- 60-Grad-V-Motor |
Kupplung | Mehrscheiben- Ölbadkupplung |
Bohrung x Hub | 85,0 x 66,0 mm |
Hubraum | 749 cm³ |
Verdichtung | 10,5:1 |
Leistung | 42,0 kW (57 PS) bei 8000/min |
Drehmoment | 60 Nm bei 4000/min |
Fahrwerk
Rahmen | Doppelschleifenrahmen aus Stahl |
Gabel | Telegabel, Ø 37 mm |
Bremsen vorne/hinten | Ø 300/292 mm |
Assistenz-Systeme | – |
Räder | 2.50 x 17; 3.50 x 15 |
Reifen | 100/80 R 17; 140/75 R 15 |
Bereifung | Michelin Scorcher „11“ |
Maße und Gewichte
Radstand | 1535 mm |
Lenkkopfwinkel | 58,0 Grad |
Nachlauf | 115 mm |
Federweg vorne/hinten | 140/90 mm |
Sitzhöhe* | 720 mm |
Gewicht vollgetankt* | 231 kg |
Zuladung* | 169 kg |
Tankinhalt/Reserve | 13,1 Liter |
Service-Intervalle | 8000 km |
Preis | zirka 8000 Euro |
Preis Testmotorrad | zirka 8000 Euro |
Nebenkosten | 380 Euro |
*MOTORRAD-Messungen; ²ABS (500 Euro) |
MOTORRAD-Messwerte
Höchstgeschwindigkeit* | 170 km/h |
Beschleunigung 0-100 km/h 0-140km/h | 5,7 sek 11,6 sek |
Durchzug 60-100 km/h 100-140 km/h | 6,1 sek 11,5 sek |
Verbrauch Landstraße/100 km | 4,2 Liter |
Reichweite Landstraße | 312 km |
*Herstellerangabe |
Leistungsmessung

Harleys kurzhubig ausgelegter, wassergekühlter 750er-Motor ist deutlich drehfreudiger als sein größerer langhubig ausgelegter, luftgekühlter Bruder. Diese Drehfreude lässt sich auf der Straße direkt in Spaß umsetzen. Im Vergleich wirkt der Antrieb der Harley-Davidson Sportster Iron 883 antiquiert, stets gestresst und agiert phlegmatisch.
Während der neue 750er stets agil am Gas hängt und vorwärts will. Dennoch vermittelt der Motor der Harley-Davidson Street 750 auch Ruhe. Die Drehmoment-Delle bei 2700/min fällt im Fahrbetrieb ebenso wenig auf wie der Drehmoment-Buckel bei 3800/min. Ganz im Gegenteil: Der auf dem Diagramm schwachbrüstig wirkende 750er fährt dem größeren Modell in jeder Situation um die Ohren.
Fazit

Motorrad fahren. Harley fahren. Zwei Dinge, die nicht unbedingt dasselbe bedeuten müssen. Worauf die Company auch stolz ist. Während die Harley-Davidson Sportster Iron 883 sich ikonenhaft schüttelt und charakterstark die Bühne betritt, das Image der Marke und die damit verbundenen Erwartungen zu 100 Prozent erfüllt, ist an der Harley-Davidson Street 750 noch einiges verbesserungswürdig. Das gilt vor allem für grobschlächtige Details, Spaltmaße, Schraubengüte und Finish. Das Archaische und Zeitlose der luftgekühlten V2-Modelle wird sie zwar nie erreichen, eventuell könnte sich jedoch eine Zielgruppe aufbauen wie seinerzeit bei der Yamaha XV 535.