Jacek Ociepko freut sich. Der Chefredakteur von „Motocykl“, der polnischen Ausgabe von MOTORRAD, begrüßt uns deutsche Gäste in Breslau sehr gastfreundlich. Ob wir eigens wegen der Fußball-EM nach Breslau gekommen seien, in die Stadt, in der am 4. Oktober 1903 die erste Zeitschrift „Das Motorrad“ erschien - weil „Victory“ ja „Sieg“ heiße? Nein, uns gehts nicht um Fußball. Wir nehmen bloß die Touren-Cruiser mit ABS und pflegeleichten Zahnriemen beim Wort, testen ihre Langstreckenqualitäten auf Reise. Mit einem US-Bike und einem Nippon-Cruiser zu runden Begegnungen in die EM-Länder Polen und Ukraine.
Nun, gepflegtes Understatement ist nicht die große Stärke der gigantischen Straßenkreuzer: der rundlichen Kawasaki VN 1700 Voyager Custom und der noch ausladenderen, scharf gezeichneten Victory Cross Country Tour. Wer nicht auffallen mag, sollte tunlichst etwas anderes fahren. Wie war die 775 Kilometer lange erste Etappe mit den zweirädrigen Raumgleitern bis Breslau, in eine der schönsten Altstädte Europas?
Extrem entspannend und bequem. Und dies, obwohl das Bord-Thermometer der Victory Anfang Juni bei ungemütlichen 11°C verharrte. Mittags. Tempomat an und ab dafür. Beide Kreuzer tragen ihren Kapitän ohne Verspannungen oder andere Sitzbeschwerden auch über längere Tagesetappen. Wobei die Victory noch bessere Abstützung für die Lendenwirbel bietet, ihren Fahrer saugend in das üppige Sitzpolster einpasst. Eine tolle Möblierung.
Langstreckentauglich sind sie also. Unterhaltsam auch. Schon allein durch ihre herrlich anachronistischen, langhubigen V2-Motoren: Über zehn Zentimeter Hub und Kolbendurchmesser sind ein Wort. Doch für echte 73 respektive 85 PS käme man auch mit einem Drittel der Hubräume aus.
Genau 1,7 Liter rekrutiert die auschließlich rabenschwarz zu habende VN 1700 Voyager Custom. Sogar satte 1731 cm3, 106 cubic inches, bietet der „Freedom-V2“ der rot, schwarz oder eben weiß lackierten Victory.
Nein, über pure Leistung definieren sich diese Straßenkreuzer der 400-Kilo-Klasse nicht: Die wassergekühlte Kawasaki liegt mit 386 Kilogramm knapp unter dieser Marke, die viel größer wirkende, luftgekühlte Victory aus den USA wiegt 401 Kilogramm. Sind halt sehr solide gebaut, mit massiven Metall-Schutzblechen und haufenweise Chrom. Und mit dreistelligen Drehmomentgebirgen bestückt - echte 124 Newton-meter drückt die Kawa, 133 die Victory ab.
Das ist zwar weniger als in der Werksangabe und für solche XXL-Motoren keine besonders hohe Ausbeute. Aber was soll’s? In den breiten Sätteln erlebt man Vortrieb anders, jenseits aller Hektik. Soll ein drängelnder TDI doch überholen. Er ist einfach unwichtig. Hauptsache, man ist unterwegs. Ein kultiges Bluesmobil mit dickem V8-Motor lebt doch auch nicht von Zahlen.

Die üppiger bestückte Victory für 21500 Euro kommt etwas flotter aus den Hufen als die um 12 PS schwächere Kawasaki für 18000 Euro. Der Tritt ins Kreuz beim Beschleunigen fällt verhalten aus. Viel faszinierender dagegen ist es, wie die zwei V-Zwos Tachoanzeige 130 mit gerade mal 3000 Umdrehungen meistern. Dank Sechsgang-Schaltboxen mit drehzahlsenkenden Overdrives. Das ist und macht echt lässig! Der nächste Morgen, weiter nach Osten.
Doch vorher gilt es, die beiden Dickschiffe heil vom nachts bewachten Hotelparkplatz zu bugsieren. Rangieren ist keine leichte Aufgabe. „Sind das noch Motorräder?“, fragt der freundliche Portier. Nun, beim Koloss von Victory kann man schon mal zweifeln. 2,75 Meter Länge, mehr als ein Smart! Schiere Masse und Größe. Gefühlt sitzt man weit vom Vorderrad entfernt: Beim Wenden zieht es den breiten, stark zum Fahrer hin gekröpften Hirschgeweih-Lenker weit aus der Mittellage, dem Fahrer aus der Hand. Lange Arme sind gefragt. Plus Kraft.
Und eine Portion Mut. Nur Routiniers schlagen den in dämpfenden Gummi-Elementen gelagerten Lenker voll bis zum Anschlag ein. Man muss sich trauen, den gar nicht mal so großen Wendekreis voll auszukosten. Denn Gefühl fürs Vorderrad gibt’s bei Schrittgeschwindigkeit keines.
Irgendwo da vorne muss es sein … Hinzu kommt der hohe Schwerpunkt des weißen Riesen. Mit Fahrer und nur ein bisschen Gepäck ist er ein echter Halbtonner. Im Falle eines Falles (einmal selbst ausprobiert) legt er sich sanft auf die riesigen Sturzbügel und die Chromreling vorn und hinten ab, ohne einen einzigen Kratzer im Lack. Klasse.
Jürgen plagen auf der Kawasaki andere Probleme. Zwar wirkt die Voyager Custom zierlicher, sie ist ein gechoppter Fulldresser im „Bagger-Style“. Doch real braucht sie noch mehr Kraftaufwand beim Vom-Seitenständer-in-die-Senkrechte-Wuchten. Zudem ist sie einen Tick höher und viel breiter zugeschnitten. In Fahrt spreizt sie die Beine mehr. Die Füße ruhen weniger weit vorgestreckt als auf der Victory auf den Trittbrettern. Kleine Fahrer sitzen auf der Kawa kompakter, versammelter. Aber sie bekommen nicht beide Fußsohlen auf den rettenden Erdboden. Genau dies erlaubt die im Übergang Tank zu Sitzbank schmal gehaltene Victory. Dafür braucht ihr schwergängiger Seitenständer Aufmerksamkeit. Uff, geschafft, beide Cruiser gewendet. Start!
Verhalten klingt die Victory im Stand. Ansaugschnorcheln und mechanische Geräusche dominieren, ein auffälliges Tickern. Sind vermutlich die wartungsfreien Hydrostößel für die mit je einer obenliegenden Nockenwelle bestückten Vierventilköpfe.
All das hat auch die Kawasaki. Doch sie wummert bassiger, bollert dumpfer und sonorer aus den ebenfalls links und rechts verlegten, lang gestreckten Sidepipes. Kalonk! Die ersten Gänge sind drin. Das Verzahnen der massiven Getrieberäder erinnert ans Stellen einer Eisenbahnweiche. Jeder, wirklich jeder Schaltvorgang, sogar das Einlegen des Leerlaufs beim Ausrollen, wird lautstark aus der Gangschachtel untermalt. Klock. Mindestens 1500-mal, in den oberen Gängen eher 2000-mal, sollten die bleischweren Kurbelwellen tief im Maschinenraum schon drehen. Sonst ruckelt’s.

Wobei der Kawa-V2 im Drehzahlkeller einen Tick kräftiger ist und bei Bedarf auch weiter über 5000 Touren hinausdreht. Seine bevorzugte Drehzahl liegt bei rund 3000/min, der Wohlfühlbereich der Victory zwischen 3000 und 4500 Touren. Morgens den sechsten Gang einlegen und abends wieder rausnehmen? Dies vereiteln ellenlange Übersetzungen. Vorm Überholen auf der Landstraße ist Zurückschalten angesagt. Praktisch: Die Schaltwippe der Japanerin erlaubt Hackentricks.
Dafür ist ihre hydraulische Kupplung nicht ganz so fein dosierbar wie das amerikanische Seilzug-Pendant. Der Nippon-V2 ist ein Seelenschmeichler: Er pulsiert dank zweier kettengetriebener Ausgleichswellen wohldosiert, noch angenehm. Und lässt sich mit zwei elektronisch betätigten 46er-Drosselklappen weich ans Gas nehmen.
Härter geht der Victory-V2 ans Gas, vor allem nach Rollphasen. Und er hat mehr Spiel im Antriebsstrang. Ab 3000/min ändert die Cross Country ihr Klangbild. Unter nun ordentlichem V2-Stakkato prescht sie vor, hämmert härter aus der Airbox. Und die good Vibrations? Fallen
dezenter aus, nie störend.
Man merkt, dass der mächtige 50-Grad-V-Twin läuft, ohne je darunter zu leiden. Ab Werk hat der Cross Country-Motor 73 PS (54 Kilowatt). Victory entdrosselt ihn kostenlos auf nominell 83 oder mittlerweile 88 PS – durch Demontage des Drosselklappenanschlags und der Ansaug-Reduzierung vom Luftfilterkasten.
Gut haben die Amis die Einspritzung der maßkruggroßen Zylinder im Griff. Doch im Zweifelsfall läuft der luftgekühlte Motor eher fett. Davon künden schwarz verrußte Auspuffmündungen. Und sehr durstige 7,4 Liter Benzinverbrauch bei Autobahntempo 140. Dann tankt man alle 250 Kilometer.
Tribut an den Luftwiderstand der rollenden Wohnzimmerschrankwand. Unterhalb von 120 km/h rollt die Victory wesentlich sparsamer. Herrlich sinnlich knistert der luftgekühlte Schlegel nach dem Abstellen vor sich hin, stundenlang. Die Kawasaki kommt auf der Bahn locker mit einem Liter weniger aus. Effektivere Wasserkühlung erlaubt magerere Abstimmung, ihre kleinere Stirnfläche wirkt sich ebenfalls positiv aus. Im Gegenzug geht es hinter der gekappten Scheibe ziemlich luftig und zugig zu. Kopf, Schulter und Unterschenkel prangen voll im Luftstrom. Wenigstens völlig turbulenzfrei. Hinter der Kingsize-Scheibe der Victory ist es absolut ruhig und windstill. Da kann man auch bei 130 Sachen seine Lieblingssongs hören. Für gehobenen Audiogenuss sorgt Raumklang aus vier Boxen, zwei in der Front, zwei im Topcase. Das Cockpit zeigt den Sender und bei MP3-Betrieb Musiktitel wie Band-Name an. Auch die Kawa ist ein echter Musikdampfer, mit Radio und iPod-kompatibel. Doch dem ebenfalls guten Klang der zwei 40-Watt-Lautsprecher in ihrer Frontverkleidung kann man wegen großer Windgeräusche maximal bis Landstraßentempo lauschen.
Maßstäbe setzen insgesamt 155 Liter Stauraum der Victory: 80 Liter entfallen auf die Toplader-Koffer, der Rest aufs LED-bestückte- Topcase und Staufächer in der Front. Usus ist ein Einschlüsselsystem wie bei den Frontlader-Koffern der Kawa. Mit Topcase und besserem Wind- und Wetterschutz offeriert Kawasaki die Standard-Voyager mit riesenhafter Scheibe und zwei Nebelscheinwerfern - für 2000 Euro mehr als die Custom. Victory wiederum offeriert eine leicht abgespeckte Variante: Die Cross Country gibt’s auch mit kleinerer Scheibe, ohne Topcase und den Zusatz „Tour“ für 20000 Euro. Sie wiegt zarte 367 Kilogramm. So oder so: Entsprechende Modelle von Harley-Davidson kommen teurer.
Auf dem Weg nach Osten brilliert die Victory bei Wind- und Wetterschutz. Man kann stundenlang mit geöffnetem Visier oder Jethelm fahren. Drehbare Finnen unter der Verkleidung und innen in den riesenhaften Beinschildern leiten bei Bedarf kühlenden oder je nach Anstellung sogar vom Motor erwärmten Fahrtwind auf den Rumpf des Fahrers - Top-Touring-Tugenden!
Nur bei Regen, da bräuchte es einen Scheibenwischer, da die Tropfen an der steil stehenden Scheibe die Sicht versperren. Mittlerweile sind wir in der Ukraine angelangt, es wird wärmer. Kontinentales Klima.Hinter der EU-Grenze werden die Straßen schlechter, die Verhältnisse einfacher, die Menschen ärmer, das soziale Gefälle größer. Bis im Weltkulturerbe Lemberg purer Luxus einkehrt. Ukrainer kommen an die riesigen Motorräder heran, posieren für Fotos, sprechen uns an. Hübsche Damen wollen Probe sitzen. Erste Wahl für einen Sozius ist der opulente Victory-Sitz. Derjenige der Custom ist viel kleiner und fällt unglücklich nach hinten ab. Egal, auch so kommen sich Ost und West nah. Zu nah? Beim „Ausparken“ auf einer Gefällstrecke rammt das Victory-Topcase den Kotflügel eines dicht geparkten Daewoo-Taxis. Am Auto ist eine Delle, der Lack ab, am Motorrad gar nichts. Kostet nur einen Lackstift für drei Euro.

Wieder in Fahrt zirkeln wir um fußmattengroße, kratertiefe Schlaglöcher im Asphalt. Auch Autos schlagen Haken wie Hasen auf der Flucht, um das Chassis zu schonen. Deutlich zielgenauer, lenkpräziser fährt die Kawa trotz ballonartig breiten 16-Zoll-Vorderreifens. Ihre konventionelle Gabel spricht fein an. Handlicher und mit viel mehr Feedback umrundet die Kawa Kurven und Hindernisse aller Art. Allerdings bieten ihre luftunterstützten Federbeine nur schlappe 80 Millimeter Federweg. Deren unterdämpfte Zugstufe lässt das Heck bei heftigen Bodenwellen fröhlich nachschaukeln.
Die schwere Victory hat einen stabilen Alu-Brückenrahmen statt des Stahlrahmens der Kawasaki und eine gleichfalls gut ansprechende Upside-down-Gabel. Ihr Zentralfederbein mit satten 120 Millimeter Federweg hält auf grobem Kopfsteinpflaster mehr Reserven parat. Dafür gibt es gar keine Rückmeldung vom schmaleren, größeren Vorderrad (130/70 R 18). Und zum Einlenken braucht’s einen energischen -Impuls. Man fährt komfortabel, fast sänftenartig. Aber auch ein wenig in Watte gepackt, entkoppelt. Wie in einer Mercedes-Limousine. Zum Glück haften die Dunlop Elite 3-Reifen selbst auf nassen Straßen gut, wie die Bridgestone Exedra der Kawa.
In tieferen Schräglagen setzt die Victory zuerst mit den Schalldämpfern auf, droht in Bodenwellen auszuhebeln. Harmloser schrappt der Kawa-Koloss zuerst mit den nachgiebigen Trittbrettern. Die Victory trägt ein passabel regelndes ABS von Nissin.
Beide Räder werden komplett getrennt gebremst. Lästig: Beim Griff zum Handhebel fühlt es sich an, als sei Luft in den langen Leitungen - der ABS-Steuermodulator sitzt hinten unterm Heckkotflügel. Erst erneutes Nachfassen baut vollen Druckpunkt auf.
Kennt die Kawa nicht. Ihre clevere Kombi-Bremsanlage „K-ACT“ verschenkt trotz höherer Handkraft keine Meter. Bis 20 km/h bremsen Vorder- und Hinterrad getrennt, für gute Kontrolle in engen Kurven und beim Wenden. Bei höherem Tempo koppelt der Handhebel alle drei Bremsscheiben, das Auto-artige Bremspedal die Hinterradbremse und die rechte Vorderradbremse. Uns bleibt noch die komplette Rückfahrt, 1500 Kilometer retour. Kein Problem, die gutmütigen Giganten zelebrieren ja genussvolles Reisen. Keine Schwarz-Weiß-Malerei: Die charaktervolle Kawasaki ist stabiler, direkter, fahraktiver, die Victory der bessere Tourer. Tolle Cruiser sind beide.
Technische Daten

Kawasaki | Victory | Motor |
Bauart | Zweizylinder-Viertakt-55-Grad-V-Motor | Zweizylinder-Viertakt-50-Grad-V-Motor | Einspritzung | Ø 42 mm | Ø 45 mm |
Kupplung | Mehrscheiben-Ölbadkupplung | Mehrscheiben-Ölbadkupplung | Bohrung x Hub | 102,0 x 104,0 mm | 101,0 x 108,0 mm |
Hubraum | 1700 cm3 | 1731 cm3 | Verdichtung | 9,5:1 | 9,4:1 |
Leistung | 54,0 kW (73 PS) bei 5000/min | 61 kW (83 PS) bei 4500/min | Drehmoment | 136 Nm bei 2750/min | 143 Nm bei 2500/min |
Fahrwerk | Rahmen | Doppelschleifenrahmen aus Stahl | Brückenrahmen aus Aluminium |
Gabel | Telegabel, Ø 45 mm | Upside-down-Gabel, Ø 43 mm | Bremsen vorne/hinten | Ø 300/300 mm | Ø 300/300 mm |
Assistenzsysteme | Verbundbremse, ABS | ABS | Räder | 3.50 x 16; 4.50 x 16 | 3.00 x 18; 5.00 x 16 |
Reifen | 130/90-16; 170/70-16 | 130/70 R 18; 180/60 R 16 | Bereifung | Bridgestone G721/722 „E“ | Dunlop Elite 3 |
Maße + Gewichte | Radstand | 1665 mm | 1670 mm |
Lenkkopfwinkel | 60,0 Grad | 61,0 Grad | Nachlauf | 177 mm | 142 mm |
Federweg vorne/hinten | 140/80 mm | 130/120 mm | Sitzhöhe* | 730 mm | 720 mm |
Gewicht vollgetankt* | 386 kg | 401 kg | Zuladung* | 177 kg | 217 kg |
Tankinhalt | 20,0 Liter | 22,0 Liter | Service-Intervalle | 6000 km | 8000 km |
Preis | 17995 Euro | 21490 Euro | Nebenkosten | 180 Euro | inklusive |
*MOTORRAD-Messungen