Harley-Davidson im Deutschland der frühen 1970er-Jahre? Ein absoluter Nischenanbieter, dessen Schwermetall hierzulande nur in homöopathischen Dosen unters Motorradvolk gebracht wird. Ein paar ewiggestrige Zauselbärte mit zu viel Geld, der ein oder andere motorradaffine Zuhälter und ein paar in West Germany stationierte GIs kaufen Harley. Mehr als eine sehr überschaubare dreistellige Zahl kommt damit pro Jahr nicht zusammen. Wenn überhaupt so viele. Kundenservice? Vergiss es, wer partout einen US-Saurier – fast immer handelt es sich dabei um eine Electra Glide – fahren möchte, muss das Gerät per Einzelabnahme zulassen.
(Vertrags-)Händlernetz? Ein paar Aufrechte gibt es, aber ihre Zahl bleibt lange Zeit einstellig. Das ändert sich erst 1976, als Harley-Davidson eine eigene Niederlassung im hessischen Groß-Gerau etabliert, die Motorräder mit Allgemeiner Betriebserlaubnis (ABE) ausgeliefert werden und das Händlernetz auf 20 Betriebe wachsen soll.
Enkel eines der Firmengründer für das Design verantwortlich
Wie praktisch, dass im gleichen Jahr ein (relativ) junger Harley-Designer, zufälligerweise Enkel eines der Firmengründer, zu seinem zweiten großen Streich ausholt. Nach der 1971 präsentierten und anfangs nur mäßig erfolgreichen Super Glide hat Willie G. Davidson mit der Harley-Davidson FXS Low Rider nun ein weiteres Modell geschaffen, das radikal vom bisherigen Harley-Einerlei abweicht. Mit ebendieser Maschine macht Willie G. im März 1977 das, was er neben dem Motorrad-Designen am liebsten tut: mit einer Harley zum Harley-Treffen fahren. Auf Achse geht es von Milwaukee/Wisconsin zur Frühjahrsparty nach Daytona Beach/Florida. Dort sorgt er für beträchtliches Aufsehen, denn eine solche ab Werk lieferbare Maschine hat die Harley-Welt bislang noch nicht gesehen. Zugegeben: Weder der Rahmen noch die Frontpartie und erst recht nicht der 1200er-Shovelhead-Motor sind neu, aber in dieser Kombination und mit diesen Anbauteilen ist das 280-Kilo-Eisen ein echter Knaller – eben „Factory Custom“.
Ab sofort gibt es zum Komplettpreis von (in Deutschland) 13.350 Mark alles das, was ambitionierte Schrauber zuvor in mühsamer Kleinarbeit zusammenstellen und umbauen mussten: verlängerte Gabel, flacher Lenker, Doppelscheibenbremse vorn und Einzelscheibe hinten, Ölkühler, „Highway Pegs“ (das zweite Paar Fahrerfußrasten), Stufensitzbank, einen stilbildenden Zwei-in-eins-Auspuff, weiß beschriftete Reifen und ein Tank-Logo, das zuletzt 1917 zum Einsatz kam. Nicht zu vergessen: Gerade mal 69 Zentimeter Sitzhöhe – der Modellname ist Programm.
In Deutschland offiziell mit 58 PS
Für Vortrieb sorgt der schon etwas angejahrte 1200-Shovelhead-Twin, der zwar ordentlich aus dem Drehzahlkeller drückt, es bei rund 5000 Touren aber auch lieber gut sein lässt. Ab Werk ist von 66 PS die Rede, in Deutschland bleiben davon offiziell 58 übrig. Es darf gekickt, aber auch elektrisch gestartet werden, und bereits 1979 ist die Harley-Davidson FXS Low Rider mit 13.260 von insgesamt 46.442 gebauten Maschinen das erfolgreichste Modell im Harley-Programm.
Unter der Modellbezeichnung Low Rider folgen – mit mehr oder weniger kurzen Auszeiten – bis heute diverse Generationen: ab 1980 mit dem 1340er-Shovelhead-Motor, ab 1985 mit dem Evo-Twin, ab 1999/2007 mit dem Twin Cam 88/99 und seit 2014 mit dem Twin Cam 103 – eine unendliche Erfolgsgeschichte?
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Technische Daten Harley-Davidson FXS Low Rider:
Luftgekühlter Zweizylinder-Viertakt-V-Motor, 1207 cm³, 43 kW (58 PS) bei 5150/min, 96 Nm bei 4000/min, Vierganggetriebe, Doppelschleifen-Stahlrohrrahmen, Gewicht vollgetankt 280 kg, Reifen v. 3.75-19, h. 5.10-16, Tankinhalt 13,2 Liter, Höchstgeschw. 168 km/h, 0–100 km/h in 7,3 sek.
Literatur:
„Harley-Davidson – Alle Modelle 1903–1983“ von Matthias Gerst, Motorbuch Verlag, 39,90 Euro; „The Harley-Davidson Motor Co. Archiv-Kollektion“ von Leffingwell/Holmstrom, Delius Klasing, 29,90 Euro;
erster Test in MOTORRAD: Ausgabe 15/1978.
Spezialisten:
Harley-Davidson Hannover, Tel. 05 11/8 99 49 60, www.hd-hannover.de;
Harley-Factory Frankfurt, Tel. 0 69/4 08 99 90, www.harleyfactory.de (beides HD-Vertragshändler mit Experten für Shovelhead-Motoren).
Marktsituation:
In den ersten drei Modelljahren, also bis zum Wechsel zum 1340er-Shovelhead, wurden vom Low Rider 26.789 Exemplare gebaut. Im Originalzustand dürfte davon nur noch ein verschwindend geringer Teil sein. In den USA werden für Topmaschinen bis zu 12.000 Dollar bezahlt, Baustellen beginnen bei 3000 Dollar. Ein europäischer Markt für die Urversion existiert praktisch nicht.
Internet:
www.shovel-head.de („Die Pre-Evo-Community“).