Top-Test Harley-Davidson Fat Boy Injection
Ganz großes Theater

Es ist egal, auf welcher Bühne die Fat Boy spielt: Mit ausholenden Gesten entführt sie in eine andere Welt. Dabei hat sie entsprechend der Inszenierung sowohl Drama als auch Lustspiel im Repertoire.

Ganz großes Theater
Foto: Gargolov

Nicht viele Sätze der Weltliteratur haben eine solche Karriere gemacht. Werden so ungeduldig vom Auditorium herbeigesehnt, mitgesprochen, mitgelitten. Vor allem mitgelitten. Dieses Mal im Top-Test. Die Fat Boy gibt den Hamlet, der Pylonenparcours symbolisiert ein Gemäuer irgendwo im Nebel Dänemarks, und wieder heißt es: Sein oder nicht sein - das ist hier die Frage.
Es ist ein Drama. Aber eines mit glücklichem Ausgang. Weil auf dieser Bühne lediglich ein Maßband jenen Punkt markiert, wo sich in der bundesdeutschen Verkehrswirklichkeit diese existenzielle Frage in sehr vielen Fällen mit »nicht sein« entscheiden würde. 47 Meter Bremsweg und eine mittlere Verzögerung von 8,2 m/s2 wären für den Ernstfall wohl zwangsläufig der letzte Vorhang. Für die Harley, den Fahrer - und angesichts einer Masse von 326 Kilogramm vollgetankt auch für den Gegner.
Keine Frage: Betrachtet man die üblicherweise erzielten Werte um die 40 Meter, ist die Fat Boy eine tragische Figur. Ratlos müht sich der Vierkolbensattel vorne, die Beläge mit dem angemessenen Druck an die einsame 292-Millimeter-Scheibe zu pressen, während der Bremsfuß am mächtigen Pedal wegen der sehr progressiven Wirkung des hinteren Pendants mit der Dosierung nicht nachkommt. Blockieren oder nicht blockieren, vorne oder hinten? Die Botschaft ist eindeutig: Diese Bremsen wissen nicht, was zu tun ist, weil vorne das Gefühl für die Blockiergrenze nicht eindeutig definiert ist und hinten die dynamische Achslastverteilung trotz 1630 Millimetern Radstand nach wie vor gilt.
Genau wie die Wahrheiten, die sie in den vorangegangenen Akten ans Publikum brachte. Denn auch, wenn es an den ernsten Stoff der Fahrdynamik geht, sind fettleibige Helden eher traurige Gestalten. Da macht die Fat Boy keine Ausnahme. Auf einen durchtrainierten Sportler fehlen ihr im schnellen Slalom runde 20 km/h. Diese Tatsache allein auf ihr Gewicht zu schieben wäre nicht ganz richtig, denn immerhin gelingt es ihr, die Pfunde sehr ausgewogen zwischen Vorder- und Hinterrad zu verteilen. Es ist vielmehr diese bewusst zur Schau gestellte Lässigkeit von locker auf Grasnabenhöhe hängenden Trittbrettern und ausladendem Lenkgeweih, die beim gemütlichen Ausritt Sinn macht, in dieser Wettkampfsituation aber als Leistungsverweigerung durchgehen muss. Schraddel, schraddel, schraddel – schon beim Ansatz, die Fahrtrichtung dramatisch zu verändern, sperren sich diese Trittfelder gegen jedes weitere Grad Schräglage, während der tapfere Reiter vor allem am Umkehrpunkt Gefahr läuft, bei vollem Lenkeinschlag das kurvenäußere Lenkerende aus der Reichweite zu verlieren.
Der Vorhang fällt, das soll des Dramas letzter Akt gewesen sein. Der Ausgang der Geschichte bleibt der Fantasie überlassen. Was würde passieren im langsamen Slalom, in der Kreisbahn, diesen letzten, gnadenlosen Prüfungen, wo vor allem Schräglagenfreiheit gefragt ist. Derb würde es zugehen, für Mensch und Material, zu derb wahrscheinlich. Wohl bliebe jemand auf der Strecke. Besser, wir wechseln das Genre, schreiben leichtere Kost auf den Spielplan.
Die Szenerie: ein milder Spätherbstabend, das Tagewerk vollbracht, die Fat Boy gibt die wohlproportionierte Lady. Ziert sich ein wenig, kreischt empört bei ungehobelten Avancen. Ganz klar, es gilt, die Form zu wahren. Also zweimal kurz den Knopf der Fernbedienung gedrückt, und schon ist die Alarmanlage entschärft. Für kurze Zeit, wohlgemerkt. Wer an der Tankstelle seine Rechnung begleicht und unbedarft wieder aufsteigt, bringt die Lady erneut in Wallung und macht sich selbst zum Trottel. Das Lustspiel ist zur Freude des Publikums im vollen Gange.
Und setzt sich in der nächsten Szene zumindest für den Fahrer erbaulicher fort. Denn endlich kommt der Motor hier zu seinem Recht. Im Parcours-Drama trotz aller optischen Reize noch Statist, genießt er nun den Auftritt. Ein Druck aufs Knöpfchen reicht, und schon ist Leben in der Bude. Zumindest mit der von Harley optional angebotenen und mit einem unbescheidenen Extra-Obolus von 695 Euro versehenen Einspritzung. Sauber abgestimmt, läuft der V2 vom ersten Meter an rund, nimmt spontan Gas an, kurz – ist trotz altehrwürdiger Mechanik zumindest in dieser Hinsicht auf der Höhe der Zeit. Gepflegte Umgangsformen, die sich konsequent durch die ganze Handlung ziehen. Sanft, sehr sanft gibt er – unterstützt vom nahezu spielfreien Zahnriemenantrieb und einem sehr langen Weg am Gasgriff – seine Leistung ans Hinterrad weiter, produziert dank zweier Ausgleichswellen unter Last wenig, im Schiebebetrieb praktisch keine Vibrationen. Und führt behutsam in eine Geschichte, in der die beklemmenden Szenen aus dem Pylonendschungel schnell in Vergessenheit geraten.
Die Fat Boy schafft den Rollentausch perfekt. Eben noch tragischer Held, nun Muse, die selbst Hardcore-Biker mitnimmt in eine Welt, in der Messwerte allenfalls statistischen Wert haben. Nur 64 PS bei 5500/min – na und! Sogar die braucht angesichts einer wunderbar gleichmäßigen Leistungs- und Drehmomentkurve kein Mensch. Ebenso wenig wie einen Drehzahlmesser. Wenn es an der Zeit ist, zieht der Fahrer bedächtig die Kupplung, mit Krawumm fordert er den nächsten von fünf Gängen mittels mächtiger Schaltwippe – und den Rest wird der Twin Cam 88 B dank eines ausgeprägten Drehmomentplateaus zwischen 2000 und 4700/min (da liegen immer über 90 Newtonmeter an) schon richten.
Tut er auch, weil Geschwindigkeit auf der Fat Boy – immer untermalt vom sehr verhaltenen Gebrabbel aus der Doppelrohranlage – vom zwanghaften Imagefaktor zu einer ganz nebensächlichen Größe mutiert. Auf Autobahnen mit 120er-Limit mit 100 km/h daherkommen – auf der Harley passiert es, weil der Winddruck hinter dem ewigbreiten Lenker dann als Erfrischung und nicht als Qual empfunden wird und der Motor genau in diesem Drehzahlbereich – nicht zuletzt dank zweier Ausgleichswellen – seidenweich läuft. Innerorts im fünften Gang mit vorschriftsmäßigen 50 km/h plus zehn Prozent unterwegs – gar kein Problem, weil die Fat Boy just ab dieser Marke ruckfrei durchzieht. Das absolut Erstaunliche: Auf diesem Motorrad verlieren selbst für ausgewiesene Freiheitskämpfer die staatlich verordneten Tempolimits ihren repressiven Charakter. Dafür reift die Erkenntnis, dass man Zeit nur gewinnt, wenn man sie sich nimmt. Nicht, wenn man ihr nachläuft.
So gesehen passt die fahrwerksseitige Vorstellung der Fat Boy denn auch schlüssig in den Handlungsstrang. Ist sie am Ende, ist alles ohnehin zu schnell. Da darf die mächtige Gabel schon mal deutlich nachwippen, dürfen die beim Einfedern auf Zug belasteten Federbeine unter dem Rahmendreieck nur unsensibel dämpfen: Grundsätzlich hat die Fat Boy mit ihrem neutralen und gemessen an Masse und Radstand sogar beinahe handlichen Fahrwerk gute Argumente für einen Ausflug auch in winkelige Ecken. Wenn es sein muss, sogar zu zweit, denn der Soziusplatz bietet mehr Komfort, als es zunächst scheint. Zwar fehlt ein Haltegriff, ist die Sitzfläche recht kurz bemessen. Dafür fällt sie nach vorne – und nicht wie bei der Kollegin V-Rod – nach hinten ab, Sitzkomfort und Kniewinkel sind erträglich.
Neben den oben beschriebenen bewusstseinsfördernden Maßnahmen sorgt ein weiterer Punkt dafür, dass die Vorstellung der Harley nicht einmal auf Fernreisen Längen hat. Es ist die Getriebecharakteristik. Der fünfte Gang ist auf 220 km/h übersetzt, obgleich schon die 173 km/h Höchstgeschwindigkeit eher theoretischer Natur sind. Das sorgt – angesichts von 5,7 Litern Landstraßenverbrauch und einem 18,9-Liter-Spritfass – nicht nur für eine beträchtliche Reichweite, sondern angesichts des erfreulich niedrigen Drehzahlniveaus auch für erholsame Phasen innerer Einkehr.
Die wiederum steht im krassen Gegensatz zum Glamour, den die Fat Boy bei der Kaffeepause verbreitet. Chrom, wohin das Auge schaut, dazu zum 100sten Geburtstag Anniversary-Features an allen möglichen und unmöglichen Ecken, auf Wunsch Zweifarb-Lackierung (930 Euro extra): Was so ein richtiger Charakterdarsteller ist, der steht auch abseits der Bühne gerne mal im Rampenlicht. Und er lässt sich sein Engagement gerne fürstlich honorieren. 20940 Euro plus 400 Euro Nebenkosten. Doch dafür sind spannende Vorstellungen garantiert. Manchmal Drama, meistens Lustspiel.



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So testet MOTORRAD - Sitzkomfort Fahrer

MOTORRAD erklärt die einzelnen Kriterien der 1000-Punkte-Wertung (Teil 10)

Bequem wie Omas Sofa oder bretthart wie eine Bierbank – über das, was eine komfortable Sitzposition ist, gehen die Meinungen weit auseinander. Gattungsspezifisch bedingt sind die ergonomischen Voraussetzungen extrem unterschiedlich. Auf einem Sportler ist der Fahrer zwangsläufig völlig anders untergebracht als auf Enduro, Streetfighter oder Chopper. Das wirkt sich im Alltagsbetrieb - und allein der fließt in die 1000-Punkte-Wertung ein – ganz unterschiedlich aus. Wer auf einem Supersportler permanent den Bückling machen muss, wird damit abseits der Rennpiste wohl kaum glücklich. Und wer sich auf einem Chopper nach dem ausladenden Hirschgeweih-Lenker strecken muss, steuert meist schon nach kurzer Fahrzeit den erstbesten Parkplatz für eine Pause an.Neben den grundsätzlichen ergonomischen Gegebenheiten, also der Position von Rasten, Sitz und Lenker, spielen auch Kleinigkeiten eine Rolle. Die Sitzbank muss gut gepolstert sei, soll keine störenden Kanten haben, und der Übergang zum Tank darf nicht mit den Schenkeln kollidieren. Interessanterweise bemängeln die MOTORRAD-Tester mindestens ebenso häufig eine zu weiche Sitzbank wie eine zu harte, weich ist also nicht gleichzusetzen mit bequem. Weit abgespreizte Beine, schlechter Knieschluss oder asymmetrische Sitzhaltung sind weitere Kritikpunkte. Wie üblich beurteilen auch dieses Kriterium Tester unterschiedlicher Statur.

Fazit - Harley-Davidson Fat Boy

Die Fat Boy ist eine Charakterdarstellerinn, keine Frage. Und denen sieht man kleine Macken gemeinhin nach. Darum ist die magere Punktausbeute kein Beinbruch. Doch auch Charakterdarsteller müssen sich in der profanen Alltagswelt zurechtfinden. Darum sollte Harley in Sachen Bremsanlage dringend in sich gehen, denn deren Vorstellung ist beim besten Willen nicht mehr zeitgemäß.

Was sonst noch auffiel - Harley-Davidson Fat Boy

PlusÖltank der Trockensumpfschmierung gut zugänglich, Ölstand einfach kontrollierbarWartungsfreundlicher ZahnriemenantriebTankuhr und Warnlampe im linken TankdeckelRelativ gute Sicht in den RückspiegelnUmfangreiches BordwerkzeugMinusSeitenständer sehr weit vorn und schwer erreichbarKontrollleuchten unterhalb des Tachos nur ablesbar, wenn der Blick von der Straße gewendet wirdAltertümliches, separates LenkschlossAlarmanlage aktiviert sich innerhalb kürzester ZeitZündschlüssel muss nach Freigeben der Zündung wieder abgezogen werdenSpritzwasser vom Vorderrad landet direkt auf den SchienbeinenKein Platz für Bordwerkzeug

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MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023