Vergleichstest Cruiser

Vergleichstest Cruiser Cool-Tour-Gut

BMWs boxernder Cruiser schielt als plastikverkleidete Tourervariante über den großen Teich. Richtung Harley Electra Glide. Geht »König Ludwig« dabei baden?

Cool-Tour-Gut fact

Keine Nische scheint klein genug, als dass nicht noch eine BMW reinpassen würde. Selbst wenn es eine ganz, ganz große ist. Ihnen ist die R 1200 C – Spitzname »König Ludwig« – nicht touristisch genug? Kein Problem, die Münchner Strategen haben da was für sie. BMW-Motorrad-Designchef David Robb hat nämlich die dicken Zeichenstifte ausgepackt und dem nackten Cruiser mit kühnen Schwüngen ein monumentales Kunststoffkleid verpasst. Und sich selbst dabei gleich als waschechten Ami geoutet. Denn mit den guten alten Habermann-Schalen, hinter denen schutzsuchende Tourenfahrer anno dunnemals in Deckung gingen, hat das lenkerfeste Teil nix mehr zu tun. Eher mit schwülstigem US-Style – haarscharf an der Grenze guten Geschmacks entlangbalancierend. Gleich vier Frontscheinwerfer – übrigens von hervorragender Wirkung - künden von Selbst- und Geltungsbewusstsein.
Das kann nicht schaden, soll der Münchner Luxuscruiser doch vor allem jenseits des großen Teichs auf Kundenfang gehen und »dem Mitbewerber«, wie es BMW-Mannen ausdrücken, gutsituierte Kundschaft abspenstig machen. Die setzte bis dato in der Regel auf Harley-Davidsons Electra Glide, wenn es galt, große Distanzen - zumal mit Sozia und Gepäck – in traditionsreich-gepflegter Atmosphäre zu überwinden.
Traditionsreich auch der Boxer, im Luxuscruiser kämpft der unverändert aus der R 1200 C übernommene 1170-cm3-Motor mit seinen 59 PS gegen stolze 328 Kilogramm, macht ein Leistungsgewicht von 5,6 kg/PS, die E-Glide Classic erreicht mit ihren 68 PS und 371 Kilogramm etwa den gleichen Quotienten.
Für amerikanische Verhältnisse geht das schwer in Ordnung, beim Cruisen schielt schließlich kein Mensch aufs Leistungsgewicht. Cool und lässig soll die Fuhre anschieben, relaxed gleiten, beruhigend wummern. Und da hat die Münchnerin so ihre Schwierigkeiten. »Hat sich sehr bemüht« heißt so etwas in Arbeitszeugnissen. Irgendwie wirkt der mit Einspritzung gefütterte, G-Kat-gereinigte Vierventiler immer etwas angestrengt. Speziell unter Volllast emittiert er störende, harte Vibrationen, die von mechanischen Geräuschen akustisch untermalt werden. Die seitlichen Verkleidungsteile bilden eine Art Trichter, der den Piloten unfreiwillig am Treiben der aufwendigen Ventilsteuerung mit ihren Ketten, Stoßstangen und Kipphebeln teilhaben lässt.
Zudem plättet das veritable Gewicht des Reiseriesen den – durchaus vorhandenen - Drehmomenbuckel. Subjektiv jedenfalls. Ab etwa 5000 wird’s endgültig zäh, Drehmoment im freien Fall, mechanische Geräusche stark ansteigend. Immerhin, zwischen 2000 und 5000/min schiebt der 1200er redlich und hält die CL sogar im lang übersetzten Overdrive in Schwung. Zur besseren Langstreckentauglichkeit verpassten die Münchner dem Luxuscruiser nämlich ein – neu entwickeltes -Sechsganggetriebe. Wer sich per Schaltwippe durch die zäh zu schaltende Box bis zum Sechsten hochgekickt hat, brummelt bei Tempo 100 mit etwa 2800/min dahin.
Noch easier glidet es sich an Bord der Harley, die trotz ihrer lediglich fünf lautstark und ebenfalls per Schaltwippe zu wechselnden Gängen auf der Landstraße mit nur rund 2700 Touren dahinwummert. Genau, wummern, das kann die Harley. Sie nutzt ihr Hubraumplus von knapp 300 cm3 gegenüber der BMW aus und verwöhnt mit satt wogender Kraftentfaltung. Der Dreh am Gasgriff ist wie der Biss in einen dampfenden BicMac. Saftig, kalorienreich. Und vor allem cruisergerecht. Per Vergaser gefüttert, liefert das Trumm zwischen 2500 und 4500 Touren dreistellige Drehmomentwerte, die per Zahnriemen zum Hinterrad geleitet werden. Zwar mit nicht gerade berauschenden Abgaswerten, jedoch ohne nervende Lastwechsel. Das Twin Cam 88 genannte Aggregat verzichtet auf eine Ausgleichswelle, hängt aber heftigst gummigelagert im Stahlrohrrahmen. Und lässt so lediglich im Stand mit niederfrequenten Vibrationen die Mächte seiner gewaltigen Massenkräfte aufblitzen. Einmal in Fahrt toben sich diese in den weichen Lagern aus. Der Rest, der durchkommt, trägt seinen Teil zum multimedialen Unterhaltungsprogramm bei, das sich der Besatzung bietet.
Einfach in das sofaähnliche Sitzbank-Arrangement lümmeln und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Just cruisin‘ eben. Und die Musik zum Film liefert die Stereoanlage. Bei Harley serienmäßig, bei BMW mit 1170 Euro aufpreispflichtig. Dafür gibt’s bei den Münchnern neben dem vom Lenker fernbedienbaren, modernen RDS-Radio auch einen CD-Player im rechten Koffer, der von einem kleinen Ventilator kühlende Außenluft zugefächelt bekommt. Harleys Kassettenradio wirkt etwas angestaubt, kann klanglich jedoch durchaus mithalten. Die Lautstärke reicht bei beiden für peinlich berührt blickende Passanten in der Stadt und unterschwellige Untermalung auf der Schnellstraße. Leider müssen BMW wie Harley mit zwei Frontlautsprechern auskommen, einen klangstärkeren Viererpack gibt’s bei den Amerikanern serienmäßig nur in der Luxusschwester E-Glide Ultra Classic. Diese bringt auch einen echten Tempomaten mit, Classic-Fahrer müssen sich mit einem rustikalen Rändelrad zum Feststellen des Gasgriffs begnügen, obwohl die Verkabelung des elektronischen bereits an Bord ist. Angenehmer gestaltet sich Konstantfahren jedenfalls mit dem elektronischen BMW-Tempomaten – Aufpreis 300 Euro. Unter solch paradiesischen Umständen geraten selbst die sonst ungeliebten Konstantverbrauchsfahrten mit Tempo 100 und 130 zum Vergnügen. Wunschtempo einstellen, fertig. Du lauschst der Musik und - vor allem auf der Harley - den beruhigenden Twin-Beats. Sämtliche zahlenmäßigen Ergebnisse der Well-Mess-Fahrten finden Sie auf Seite 71. Nicht in Zahlen pressen lässt sich der Komforteindruck. Und der wäre an Bord der BMW fast perfekt, wenn deren Riesenscheibe nicht die dusselige Scharte in der Mitte hätte. Diese lässt mehr Elemente und Viehzeug passieren, als Jet-Helm-Trägern lieb ist. Ansonsten nimmt die windkanalerprobte Verschalung inklusive Seitenteilen Menschen nahezu jeder Größe hervorragend in Schutz vor Wind und Wetter, ohne etwa bei Seitenwind Überraschungen parat zu halten. Nur etwas laut ist’s hinter dem Schild. Kleineren Piloten steht übrigens eine niedrigere Scheibe zur Verfügung.
Auf dem US-Gefährt zieht es insgesamt stärker, die konventionell geschnittene Scheibe verhilft Jet-Helmern jedoch zu einem stets strahlend weißen Lächeln und zu geringeren Windgeräuschen. Feine Sache beim zügigen Interstaten. Dennoch schlägt hier die Stunde der BMW. Bei Geradeausfahrt spurstabil und, wenn man erst mal Schwung geholt hat, ausreichend flott brummt sie über die Bahn. Der Speed reicht sogar für herzerfrischende Duelle mit ambitionierten Kleintransporter-Piloten. Selbst in deren Wirbelschleppe läuft die Münchnerin akzeptabel geradeaus - um irgendwann raus- und vorbeizuziehen. Langgezogene Kurven schmecken ihr allerdings weniger, hier gerät die CL ohne großartige äußere Anregung spürbar ins Pendeln. Nicht gefährlich, aber deutlich temperamentzügelnd – Transporter-Fahrer wittern ihre Chance zur Revanche.
Harley-Treiber nicht, denn obwohl die Electra-Glide für 2002 mittels stärkerer Schwinge und Radachse sowie neu abgestimmten Federelementen auf Stabilität getrimmt wurde, erteilt sie unverbesserlichen Hektikern bereits sehr früh die erste Mahnung. Bei ruhiger Fahrt noch einfach und homogen dahingleitend, beginnt sie jenseits der 120er-Marke bereits bei leichtesten Anregungen deutlich zu schlingern. Schon bei Landstraßentempo scheint sich die ganze Fuhre auf Bodenwellen zu verwinden. Insgesamt kommt die Harley mit ihren unterdämpften Federelementen indifferenter des Wegs als die durchweg stabiler liegende BMW. Zudem erfordert die Bremsanlage des US-Klassikers bärigen Zugriff am Handhebel, deren Wirkung trotzdem reicht, den Vorderreifen wimmern zu lassen. Um das hochstehende Pedal der hinteren Bremse zu betätigen, muss der ganze Fuß vom Trittbrett, was zu mieser Dosierbarkeit führt und in Verbindung mit schlechtem Nassgrip der Reifen insbesondere bei Regen zu höchster Vorsicht mahnt.
BMW setzt hier auf die markentypische bremskraftverstärkte Anlage samt ABS – beim Cruiser in Vollintegral-Version. Am Handhebel ist die Chose gut zu dosieren und gefällt mit üppigen Reserven, die Betätigung per Fuß ist jedoch problematisch. So muss der rechte sorgsam zwischen Pedal und Zylinder eingefädelt werden, um dann schon bei leichtem Tritt brachiale Bremswirkung heraufzubeschwören. So brachial, dass es altgediente Cruiserfahrer glatt aus dem Sattel hauen könnte. Dafür werden diese mit dem CL-Handling keine Probleme haben, obwohl zwischen den weiter auseinandergerückten Holmen des Telelever ein fetter 150er-Schluffen rotiert. Ansprechverhalten und Schluckvermögen der Front gehen selbst auf üblen Fahrbahnbelägen in Ordnung, das Einlenkverhalten weniger. So kippt der Cruiser bei langsamer Fahrt in die Kurve hinein und läuft wie die Harley jeder Spurrille nach. Tadellos funktioniert hingegen das neue hintere Federbein mit wegabhängiger Dämpfung, dessen Federbasis wie gehabt per Handrad hydraulisch einstellbar ist, während Electra-Glider die luftunterstützten Federbeine per zentralem Ventil fummelig auf Zuladung vorbereiten müssen.
Zuladung - rund 200 Kilo Mensch und Material dürfen an Bord. In Sachen Sozius- und Gepäcktransport bieten beide Cruiser beste Bedingungen. Knautschig-kuschlig abgepolstert, mit Arm- und Rückenlehnen das Harley-Fauteuil, straffer und ebenfalls mit Rückenlehne plus riesigen Haltegriffen das CL-Abteil. Eine Werbung fürs Mitfahren. Und Selberfahren, denn auch die vorderen Arrangements haben sich maximaler Entspannung verschrieben. Mit Sitz- und Griffheizung (250 plus 180 Euro) sowie wärmender Abluft von Ölkühlern und Zylinder hält die BMW noch einen Extraservice für kühle Tage bereit. Und dank jeweils zwei Koffern plus Topcase – das sind rund 100 Liter Stauraum – kann man auf den Reisecruisern wirklich jedes Gut auf Cool-Tour mitnehmen zu können.

Kompletten Artikel kaufen
Vergleichstest Cruiser Cool-Tour-Gut
Sie erhalten den kompletten Artikel (10 Seiten) als PDF

1. Platz - BMW R 1200 CL

Feigheit kann man den BMWlern wahrlich nicht vorwerfen, denn mit CL schicken sie ein konsequent-verwegen gestyltes Gerät auf Reisen. Mit so ziemlich allem, was dasselbe angenehm gestaltet. Trotzdem, das typische Cruiser-Feeling will sich nie so recht einstellen. Schuld hat der angestrengt vor sich hin vibrierende, metallisch klingende Motor. Mit durchweg toller Verarbeitung und einem Fahrwerk, das seinen Namen auch verdient, sowie der opilenten Ausstattung, die bis zum mit Teppich ausgeschlagenem Topcase und - optionaler - Sitzheizung reicht, kann die CL dennoch kräftig punkten. Und spätestens bei der ersten Passfahrt mit voller Zuladung lernen selbst Klassik-Cruiser die enormen Reserven der Bremsanlage zu schätzen.

2. Platz - Harley-Davidson Electra Glide Classic

Dem neumodischen Auftritt des bajuwarischen Technokrads setzt die Harley hemdsärmelige Gelassenheit entgegen. Typisch amerikanisch. Lass die anderen nur machen, die Electra Glide zieht seit Urzeiten mit derselben Masche erfolgreich durch die Lande: kuschelige Sitzecke mit massig Stauraum plus schiffsdieselartigen Big Block. Da kann man gar nicht anders, als sich entspannt zurückzulehnen. Widerspenstige zähmt das Schiff mit deutlichen Schaukelbewegungen, die jedoch nie bösartig werden. Echte Kritik verdienen aber die zum Teil billigen Detaillösungen, wie die Baumarktschlösser oder die klapprigen Koffer. Trotz oder wegen dieser Unzulänglichkeiten bleibt das Original allerdings in der Emotionswertung weiterhin ungeschlagen.

Zur Startseite
Harley-Davidson Electra Glide/Touring
Artikel 0 Tests 0 Markt 0
Alles über Harley-Davidson Electra Glide/Touring
Mehr zum Thema Cruiser/Chopper
Tacita T-Cruise
Elektro
E-Chopper SR
Elektro
Bagger Party Race 2022
Sport & Szene
Harley-Davidson Apex Factory Custom Paint
Chopper/Cruiser
Mehr anzeigen