Yamaha XV 950 R im Fahrbericht
Gradliniger Cruiser ohne Schnickschnack

Die Yamaha XV 950 besinnt sich auf die tradierten Werte und präsentiert sich als gradliniger Cruiser ohne jeden Schnickschnack, aber mit viel Charisma. Wir sind sie schon gefahren.

Gradliniger Cruiser ohne Schnickschnack
Foto: Yamaha

Natürlich dürfen die von Yamaha sagen, was sie wollen. Dürfen auf ihre lange Tradition verweisen, ellenlange Stammbäume hervorholen und eine neue Ära beschwören, die „Sports Heritage“ heißen soll. Vorgemacht haben es trotzdem andere, nämlich die Jungs aus Milwaukee. „Sportster Iron 883“ hieß es bei Harley-Davidson, als man sich befreite von überbordendem Chrom und schwülstigen Accessoirs und wieder eine reine, puristische Fahrmaschine ersann, die so aufgeräumt dastand wie Muttis Küchenzeile nach dem Hausputz.

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Gradliniger Cruiser ohne Schnickschnack
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60-Grad-V2 aus schwülstiger XVS 950 A Midnight Star

Das ist jetzt kein Vorwurf. Das ist ein Dankeschön. Ein Dankeschön dafür, dass auch Yamaha den Mut fand, Dinge einfach wegzulassen. Wer hätte ernsthaft daran geglaubt, dass der altgediente gutmütige und vor allem nicht wassergekühlte 60-Grad-V2 aus der schwülstigen XVS 950 A Midnight Star noch einmal als puristischer Bobber-Antrieb Karriere machen ­würde? Und wer daran, dass es Yamaha gelänge, diesen Motor in ein Drumherum zu verpacken, das – egal aus welcher Perspektive – nicht irgendwie verquollen wirkt, sondern einfach Lust macht, aufzusteigen und umgehend loszubrausen?

Yamaha
Die Yamaha XV 950 R weist eine sehr gelungene Linienführung auf.

Hoch klettern braucht man dafür nicht. 690 Millimeter – größer darf der Abstand zwischen Boden und Einzelsitz (der Soziussitz mitsamt Fußrasten ist im Lieferumfang jeder XV 950 enthalten) aus optischen Gründen in dieser Klasse nicht sein, um die richtige Bobber-Optik zu gewährleisten. Keineswegs typisch ist hingegen die Ergonomie, weil Yamaha darauf verzichtete, der 950er weit nach vorne verlegte Fußrasten zu verpassen. So stört größere Fahrer höchstens der Luftfilter seitlich zwischen den ­Zylindern. Aber dafür gibt es an einem Motorrad, wo Tank noch Tank sein darf und nicht profane Hülle für die Airbox, beim ­besten Willen keinen anderen Platz.

Aber das hat schon andere nicht am Erfolg gehindert, im Gegenteil. Ebenso wenig wie ein begrenztes Tankvolumen, wobei die zwölf Liter der XV 950 durchaus als akzeptabel durchgehen. Außerdem verspricht ­Yamaha, bei der Überarbeitung des Motors (Mapping, Auspuff, Ansaugtrakt) nicht nur auf optimierte, sprich kernigere Leistungsentfaltung, sondern auch auf geringen Verbrauch geachtet zu haben. Im Ergebnis, das lässt sich schon nach den ersten Fahreindrücken sagen, geht zumindest die Sache mit der Leistungsentfaltung voll in Ordnung.

Nachdrücklich, aber nicht brutal stampft der Vierventiler los, 80 Newtonmeter bei 3000/min gibt Yamaha als Spitzenwert an. Das bedeutet in der Praxis einen schönen, gleichmäßigen Punch aus dem Drehzahlkeller, begleitet vom angenehm tiefen Bass, aber eben auch ein Drehvermögen, das mit einer Nenndrehzahl von 5500/min über das der Hubraumprotze hinausgeht. Am Ende sollen trotzdem nur 52 PS anliegen und damit weniger, als Harley für seinen kleinen 883-Motor (53 PS) vermeldet.

Yamaha
Die Yamaha XV 950 R weist eine sehr gelungene Linienführung auf.

Bevor Skeptiker jetzt die Nase rümpfen: Das reicht. Das reicht voll und ganz, um zusammen mit der komplett neu konstruierten Peripherie ein Fahrerlebnis zu schaffen, das über die Behäbigkeit der meisten Wuchtbrummen in diesem Genre hinausreicht und eine unmittelbare, ganz unkomplizierte Dynamik erzeugt. Die Sitzposition ist dank des flachen und nicht überbreiten Lenkers relaxt, der Radstand mit 1570 Millimetern gegenüber der alten XVS 950 (1685 Millimeter) spürbar geschrumpft. Auch hängt der Motor – übrigens nicht über eine Ausgleichswelle beruhigt – nicht nur sauber am Gas, sondern auch starr verschraubt im neuen Doppelschleifenrahmen und trägt so entscheidend zur guten Fahrstabilität der 950er bei.

Dazu kommen ausgesprochen schmale Reifen (Format 100/90 und 150/80 statt 130/70 sowie 170/70) und ein Gewicht, das mit 247 Kilogramm vollgetankt um satte 30 Kilogramm unter dem der Motorspenderin Midnight Star rangiert. Das Resultat der neuen Bescheidenheit ist eine überraschende Handlichkeit, die in Cruiser-Kreisen ihresgleichen sucht, und eine Zielgenauigkeit und Neutralität, die Kurven zum Vergnügen machen, zumal auch die Federelemente das ihre dazutun, um zusammen mit den guten Bridgestone-Pneus eine transparente Rückmeldung zu liefern.

Der Preis überzeugt

Apropos Federelemente: Besonderes Augenmerk widmeten die Yamaha-Ingenieure den hinteren Federbeinen, weil die geforderten kurzen Federwege (wegen der geringen Sitzhöhe) in Kombination mit den notwendigen Reserven für den Zwei-Personen-Betrieb ein feines Händchen bei der Abstimmung verlangen. Das Ergebnis: Es gibt zwei Modellvarianten, von denen die Standardversion mit herkömmlichen, nur in der Vorspannung einstellbaren Federbeinen auskommen muss, während die „R“ für 300 Euro Aufpreis nicht nur Federbeine mit Ausgleichsbehälter und einer einstellbare Druck­­stufe bietet, sondern auch ein etwas besseres Ansprechverhalten. In Kombination mit der sensiblen 41er-Telegabel herkömmli­cher Bauart ergibt sich daraus ein Cruiser-untypischer Fahrkomfort, der allerdings auf Fahrbahnkanten seine Grenzen finden muss. Hier teilt auch die XV 950 R durchaus mal beherzte Schläge ins Kreuz aus.

Yamaha
Erhältlich ist die Yamaha XV 950 R in Weiß oder Schwarz.

Trotzdem werden viele sagen: Wenn schon, dann bitte die „R“, denn die bietet für nur 300 Euro mehr (8895 statt 8595 Euro) nicht nur die besseren Federbeine, sondern mit schwarzen Streifen auf dem Tank und anderem Sitzbankbezug auch das aufregendere Äußere, zumal ihr die Farbvarianten Matt Grey und Camo Green exklusiv vorbehalten bleiben. Ein ABS hingegen haben beide Varianten. Leider standen bei der Präsentation in Kalifornien nur US-Modelle ohne ABS zur Verfügung, sodass sich über die Doppelkolben-Anlage mit jeweils einer 298-Millimeter-Wave-Bremsscheibe vorne und hinten nur sagen lässt, dass sie ordentlich zubeißt und auch bei einer beherzten Pass-Abfahrt kein Fading zeigt.

Aber das ist sicher ein nachgeordnetes Kriterium bei einem Motorrad wie der XV 950. Viel entscheidender ist: Hier gibt es für unter 9000 Euro eine erwachsene Fahrmaschine, die im Alltag ebenso überzeugt wie auf dem Boule­vard. Ein Motorrad, das sich aus dem reichhaltigen Yamaha-Zubehörprogramm ebenso individualisieren lässt wie in Eigenregie in der heimischen Garage. Nur eines fehlt: Eine 48-PS-Variante wird ­offiziell nicht angeboten. Doch entspre­chen­de Angebote werden, wenn die XV ab ­Oktober auf dem Markt ist, garantiert nicht lange auf sich warten lassen.

Daten

Yamaha
Mit ihren 52 PS liegt die Yamaha nur knapp unter der Leistung, welche Harley-Davidson für seinen kleinen 883-Motor vermeldet.

Motor
Luftgekühlter Zweizylinder-Viertakt-60-Grad-V-Motor, je eine obenliegende, kettengetriebene Nockenwelle, vier Ventile pro Zylinder, Kipphebel, Nasssumpfschmierung, Einspritzung, Ø 35 mm, geregelter Katalysator, Lichtmaschine 460 W, Batterie 12 V/18 Ah, mechanisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Fünfganggetriebe, Zahnriemen, Sekundärübersetzung 2,333.
Bohrung x Hub85,0 x 83,0 mm
Hubraum942 cm³
Verdichtungsverhältnis9,0:1
Nennleistung 38,3 kW (52 PS) bei 5500/min
Max. Drehmoment 80 Nm bei 3000/min

Fahrwerk
Doppelschleifenrahmen aus Stahl, Telegabel, Ø 41 mm, Zweiarmschwinge aus Stahl, zwei Federbeine, verstellbare Federbasis, Scheibenbremse vorn, Ø 298 mm, Doppelkolben-Schwimmsättel, Scheibenbremse hinten, Ø 298 mm, Einkolben-Schwimmsattel, ABS.

Alu-Gussräder 2.50 x 19; 4.50 x 16
Reifen 100/90 19; 150/80 16

Maße+Gewichte
Radstand 1570 mm, Lenkkopfwinkel 61,0 Grad, Nachlauf 130 mm, Federweg v/h 120/70 mm, Sitzhöhe 690 mm, Trockengewicht 251 kg, Tankinhalt 12,0 Liter.

Garantie
zwei Jahre

Farben
Schwarz, Weiß

Preis XV 950/XV 950 R
8.595/8.895 Euro

Nebenkosten
zirka 200 Euro

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023