Geheimzahl eingeben, bestätigen – jetzt ist sie mein! 900 Euro verschieben sich auf das Konto von Honda-Händler Guido Schmid in Bermatingen, zwei Zündschlüssel wandern von seiner Hand in meine. Noch steht das Goldstück im Showroom, bald aber vor meiner Tür. Das „Goldstück“ ist eine PD06 aus erster Serie mit Metallic-Lack, fast 30 Jahre alt, mit 78 000 Kilometern auf dem Buckel. Was man ihr auch ansieht. Kein herausgeputztes Sammlerfahrzeug, sondern eine tatsächlich viel gebrauchte Gebrauchte. Im Zuge einer Recherche am Bodensee war dies ein spontaner, unkomplizierter Motorradkauf, im Vorbeifahren sozusagen. Aber mal ehrlich, kann man bei einer Honda Transalp, dieser Maschine mit Unkaputtbar-Nimbus, bei diesem Preis inklusive Händler-Gewährleistung überhaupt was falsch machen? Vielleicht ja, aber das ist mir jetzt egal, endlich schließe ich die Lücke, begleiche eine alte offene Rechnung. Denn nur sie hatte ich noch nicht, sonst hatte ich sie alle, zumindest in Tête-à-Têtes: Alle Maschinen, die meinen Neigungen als schotterfixierter Mann mit Wollust auf enge, steile Serpentinen und vernarbten Asphalt entsprechen. Denn ich mag nicht das Glatte, Befestigte, Kontrollierbare – ich will Steine in den Weg gerollt bekommen, Schläge einstecken müssen, in Abgründe blicken. Die Honda Transalp erscheint mir dazu die richtige Gespielin.
Die erste Enduro mit Vollverkleidung wurde Mitte der 80er als sportliche Replika der Paris-Dakar-Maschine NXR 750 erwartet. Doch die Honda-Entwickler hatten andere Ansinnen. Beim Stapellauf 1987 notiert Ersttester Michael Griep, später selbst Dakar-Fahrer, die Transalp sähe der Wettbewerbsmaschine zwar zum Verwechseln ähnlich, ihre Talente würden aber wohl eher in der Touristenklasse für Furore sorgen. Damit sollte Griep recht behalten.
Okay, wir haben uns damals geschüttelt angesichts von so viel Plastik, wie es zuvor nie gab an einer Enduro. Die Meinungen über die Schale waren so geteilt wie die Fahrer unterschiedlich groß. Aber nach Touren mit der Transe kamen sie alle voll des Lobes zurück. Mir war sie damals zu bieder, daher Dominator, später dann Africa Twin in fester, treuer Beziehung. Aus heutiger Sicht sage ich: Die Transalp hätte mir gut gepasst, als erstes Zweirad-SUV hat sie ein Genre gegründet, das mich seit drei Jahrzehnten in den Bann zieht. „Rally Touring“, so der Untertitel auf den Seitendeckeln; also das gemütliche Langstreckenfahren in Gegenden, wo der Asphalt endet und darüber hinaus.
Genau dorthin möchte ich jetzt mit ihr, der ersten ihrer Art, die nun endlich mein Eigen ist. Die zwei wassergekühlten Zylinder der weitgehend originalen Erstserien-Transalp – besohlt mit kernigen Stollenreifen, versehen mit 25-mm-Lenkererhöhung von SW-Motech (für bessere Offroad-Ergonomie), bepackt mit Campingausrüstung, Werkzeug und nur den nötigsten Sachen – vibrieren leicht. Ist es Vorfreude? Es tuckert gleichmäßig und sonor unter mir, als wir die Bodenseeregion in Richtung Schweiz verlassen. Ich fahre mit Oldschool-Crosshelm ohne Visier, Wachscotton-Jacke und Jeans. Die einst als ausladend wahrgenommene, nunmehr, verglichen mit aktuellen GS, Super Adventures und Super Ténérés, eher schlanke Verkleidung sowie die kurz geschnittene Scheibe entlasten die Schultern, lassen aber genug Fahrtwind an die Nase. So will ich es haben, so riecht echte Freiheit!
Bei Roland in der Nähe von Zürich kann ich auf einer Matratze pennen, von dort geht es los auf die Transalp-Rallye 2017. Teilnehmerzahl: bisher einer. Ich. Ziel: Monaco. Gewinnprämie: ein Pastis am Jachthafen. Die Hoffnung, meinen Schweizer Freund für diesen Trip mit möglichst vielen eingebauten Alpenpässen und Offroad-Schikanen zu gewinnen, verpufft beim Blick in die Garage. Roland hat seine fast neue Africa Twin wieder in Zahlung gegeben. Ich fasse es nicht. Schwärmte er doch von DCT und ABS, nun wich die Reiseenduro einem Roller! Roland erklärt: „Die großen Schiffe überfordern mich, ich brauchte was Einfacheres.“ Oh, Roland, wir werden alt, oder? Meinen Oldie betrachtet er belustigt. Klar, wenn der mal umfalle, was soll’s. Aber er muss neidvoll anerkennen: Ich immerhin wage das Abenteuer, kein hoher Wertverlust hält mich von Touren dorthin ab, wo hinfallen mit dazugehört.
Das Vorbild zu meiner „Rallye“ ist die Transalp-Rallye von 1987. Von Wien bis Nizza führte die ausschließlich Transalp Besitzern vorbehaltene Tour. Für eine Startgebühr von 250 Mark durften damals insgesamt 300 Teilnehmer aus ganz Europa mitfahren, auf dem Fahrprogramm standen 116 Alpenpässe und Tagesetappen um 300 Kilometer, abends suchten sich die Teilnehmer auf eigene Faust ihr Quartier, Campingplatz oder einfache, landestypische Herbergen – so sollten die Teilnehmer die Reize von Motorrad, Alpenregion und Natur erfahren. Klasse Idee! Bewaffnet mit dem „Denzel“, Standardwerk für Alpenfahrer, bereits in der 26. Auflage, und Michelin-Straßenkarten mit 1:200 000-Maßstab will ich mich aber jeweils erst am Vorabend an die Etappenplanung machen. Kein Navi oder anderer digitaler Routenplanungs-Schnickschnack, ich möchte einfach nur von frühmorgens bis Sonnenuntergang unterwegs sein. Der Rest ergibt sich schon von allein. Ich habe eine Woche Zeit, und ich will fahren, fahren, fahren. Wie damals.
Etappe 1
Zürich–La Fouly • 570 km
Es schifft wie Sau. Roland stellt mir einen starken Kaffee hin und wünscht mir stirnrunzelnd gute Fahrt. Nasser Klausenpass, Nebel, öde Industriegebiete, Schnellstraßen. Es prasselt gegen die Überzieh-Regenkombi, hinter der MX-Brille fühle ich mich wie ein Taucher, durch die Belüftungsgitter atme ich fein versprühte Tropfen ein, mir ist kalt. Schweiz und Motorradfahren von der eher ätzenden Seite. Über den unwirtlich mit schwarzen Wolken verhangenen Gotthardpass eiere ich unbeholfen, habe kein Kurvenvertrauen zu den fetten Profilwürfeln der TKC 80-Pneus. Die fürs rutschige Kopfsteinpflaster berüchtigte Tremolastraße spare ich mir gleich. Oha, das fängt ja gut an, erst ein paar Stunden unterwegs und schon Sehnsucht nach sicheren Straßenreifen, Bremsassistent, Traktionskontrolle und Gore-Tex-Klamotten. Bevor ich mich aber selbst als Heulsuse beschimpfen will, reißt auf der Passhöhe – bämm – der Himmel auf, und mit neuem Mut stürze ich das Asphaltband hinunter ins Tal. Airolo im Tessin wärmt mich mit mediterranem Klima wieder auf, nun soll es nach Westen gehen, ins Wallis, und dafür bietet sich der höchste innerschweizerische Pass an, der 2478 Meter hohe Nufenen/Passo della Novena. Laut Denzel teilweise Schwierigkeitsgrad (SG) 3: „Strecke erfordert Praxis und sichere Fahrtechnik auf Bergstraßen.“ Sollte machbar sein. Und in der Tat, griffiger Asphalt, rund geschliffene Kurven und breitbandiger Blick auf vergletscherte Berge heben in dünner Luft die Stimmung. Doch angekommen unten in Goms, führt die Route erneut durch wenig reizvolle Talkulisse, gespickt mit Lagerhallen und Bahndämmen. Ich pausiere an einer rustikalen Burger-Bude, vor dem als Saloon dekorierten Rasthaus parken Sonntagsausflügler auf herausgeputzten Harleys. Die ratzige Honda wirkt hier fehl am Platz, aber mir passt das fade Geschiebe durch Ortschaften ohnehin nicht. Ich muss raus hier, raus aus dem beengenden Tal, muss hoch hinaus! Also Karte raus, rallyewürdige Herausforderungen suchen. Der Denzel verrät, in Riddes sei eine steile Zufahrt zum Croix de Coeur zu finden, oben im Skigebiet von Verbier: „… teilweise sehr schmal und ausgesetzt; … grobschotterig und buckelig; … Höchststeigungen 18 %“; … SG 4: Auch für Berggewohnte schwierige Strecke, erfordert ein weit über den Durchschnitt herausragendes fahrerisches Können.“ Das klingt vielversprechend. Eineinhalb Stunden später: Verschwitzt und mit Staub gepudert erreichen wir, nun zum echten Team gereift, über den Col du Lein wieder festen Boden. Glücklich, beseelt. Nahe des Montblanc schlagen wir das Nachtlager auf, und ich stöbere noch im Denzel, was zu „SG 5“ steht: „Sehr schwierige und gefährliche Strecke! Nur für sehr erfahrene Lenker.“ Kurz vorm Einschlafen murmele ich: „Transe, was meinst du?“
Etappe 2
La Fouly–Col d’Izoard • 410 km
Im Rückspiegel vergrößert sich ein Scheinwerfer, eingefasst in weißer Frontmaske mit roter Kriegsbemalung. Unverkennbar eine Enduro, Baujahr Ende 1980er. Ténéré fährt Attacke auf Transe. Die noch am Vortag im Gelände goldwerten, weil sich in loses Gestein und durch schlammige Erdrinnen beißenden TKCs stöckeln nun kantig durch die Asphalt-Spitzkehren des Großen St. Bernhards. Mist, in Kurven klebt die Yamaha am Hinterrad der Honda, diese gewinnt aber auf Geraden dank homogener Zweizylinder-Power immer wieder an Land. Oldie-Battle, vergnüglich. Das Spiel zieht sich bis zur Passhöhe auf 2496 Metern, wo der Schweizer Pilot mir zuwinkt. Es gibt sie also noch, die alten Recken, die mit 45-PS-Eintopf in jeder Kurve alles geben. Die statt über mögliche Schräglagen nur zu reden, sie lieber fahren. Chapeau! Im Aostatal ruhe ich mich in Cruisermanier lässig nach hinten gebeugt auf der etwas durchgesessenen, aber gut konturierten Sitzbank aus, vor der Windschutzscheibe erhebt sich Europas größter Berg, der Montblanc. Sonne, Duft nach Süden, wenig Verkehr – perfekt. Die Auffahrt zum Arpy-See wirkt, als hätten die Straßenbauer eine Strecke für die Honda Transalp maßgeschneidert: enge Serpentinen, kaum längere als wenige Hundert Meter lange Geraden. Der Asphalt ist offenbar über Jahre gereift, gelöchert, porös mit tiefen Längsrillen, die das Vorderrad unvermittelt einziehen, wie ein Geldautomat eine überlastete Kreditkarte. Wer hier nach MotoGP-Power ruft, ist ein hoffnungsloser Raser mit suizidalen Tendenzen. Hier braucht es ein gutmütiges Motorrad, das Fehler verzeiht, mit genügend Federweg für alle Unwägbarkeiten. Bis auf leichtes Kippen in sehr engen Kehren, bedingt durch den hoch bauenden Tank, liegt die Transe mit breitem Lenker als passendes Werkzeug für dieses Asphalt- Extremklettern gut in der Hand. Die vordere Bremse allerdings: teigig und stuckerig wie mit Drahtzug aus einem Kinderrad betrieben. Bergab also gemächlicher – ist ohnehin altersgerechter und dient der Gesundheit. Das Übungsgelände scheint unendlich. Es geht gefühlt mit 1000 Kehren über den höchsten durchgehend geteerten Alpenpass zum Col de l’Iseran (2764 Meter) nach Susa, von dort auf den Colle delle Finestre, einen Asphalt-Schotter-Fahrstuhl, der einen atemberaubend innerhalb von nur 18 Kilometern 1675 Höhenmeter heraufbefördert, um anschließend auf die 34 Kilometer lange Assietta-Kammstraße zu führen, ein wunderbar abgelegenes, balkonähnliches Schotterband. Der Denzel sagt „SG 3–4“. Ich blinzele in die tief stehende Sonne, atme kristalline Bergluft ein und denke nur: Transalp-Traumrevier! Als feines Dessert am perfekten Fahrtag gönne ich mir bei Sonnenuntergang den Col d’Izoard, diesen Traumpass mit beschwingter Streckenführung, der nun nur mir allein gehört. Für die Quartiersuche ist es zu spät, ich kampiere wild unter sternenklarem Himmel und strecke nach elf Fahrstunden die müden Knochen von mir.
Etappe 3
Col d’Izoard–Apricale • 320 km
Der Muskelkater ist entsetzlich. Um fünf Uhr aufgewacht und gespürt, wie der Vortag nachwirkt. Das redundante Schotter-Schütteln, die unzähligen Kurven-Massaker, das saunamäßige Schwitzen unter der Protektoren-Rüstung bei Presshitze – Alltag ist anders. Bei 8 °C in 1800 Meter Höhe schäle ich mich nun von der Isomatte und schlüpfe in die vom Morgentau klammen Baumwollklamotten. Auch die Transe wirkt lädiert. Die Packtasche drückte auf das brüchige Gummi des Blinker-Auslegers, nun hängt er nur noch schlaff an den Adern herunter. Eine notdürftige Behandlung mit Gaffa-Tape muss reichen. Ohne Frühstück verlassen wir die Waldlichtung, halten Kurs Südost auf den Col Agnel zu. Die Transe schnurrt und wirft sich selbstsicher von einer Kurve in die nächste, erstaunlicherweise scheint die Kontur des TKC 80 mittlerweile durch abertausend Schräglagenwechsel so zurechtgeschliffen, dass der Geländereifen zu einem sehr passablen Straßengummi mutiert ist. Die Passstraße zum Agnel ist um diese Uhrzeit leer, doch nach einiger Zeit hängen wir hinter einem Vorkriegs-Oldtimer fest: Frazer Nash. Im urigen offenen Gefährt sitzen zwei Engländer, der Fahrer mit Militärjacke, Goggles und Barett wie bei der Air Force. Und wie ein Jagdflugzeug fliegt auch das Vehikel über den Pass. Bei Tempo 110 versetzt die ganze Fuhre über die komplette Straßenbreite, in Kurven driftet das laut sprotzende Teil mit dürren Speichenrädern, sodass einem angst und bange wird. Gegen dieses Auto mutet die Youngtimer-Honda an wie ein Weltraumgleiter – Transe und ich halten trotzdem lieber Abstand, an Überholen ist nicht zu denken. Ganz oben auf der Passhöhe treffen wir auf ein Dutzend Artgenossen, offenbar eine spezielle Ausfahrt. Kalte Hände werden gerieben, rote Nasen geschnupft und eingefrorene Glieder geschüttelt. Die Alpenkulisse in dieser Höhe mit gleißender, aufgehender Sonne zwischen rasant aufsteigenden Wolken ist imposant, doch nach kurzer Rast drücke ich wieder den Startknopf. Denn meine Transalp-Rallye soll heute zu Stellen mit Denzel-Prädikat SG 5 führen, und wir benötigen dringend Energielieferanten: Zucker und Benzin. Finden wir zum Glück in Sampeyre. Die Transe tankt 95 Oktan, ich wähle als Kraftstoff eine puddingdicke Latte di Cioccolato plus doppelten Espresso plus heißes Salami-Käse-Panini. Letzter Check, die Kette ist gefettet, etwas Wasser im Gesicht bringt Frische – los geht’s. Zum Monte Gilba baggert sich die Honda durch hohlwegartige Steilabschnitte auf farnbewachsenen Waldwegen, brachiale Steinstufen stauchen die 200 Millimeter Federweg komplett zusammen. Auch die insgesamt 50 Kilometer lange Varaita-Maira-Kammstraße mit grobem, losen Schotter fordert alles, dafür belohnt die schmale Trasse den Geländefahrer mit einer „Panoramafahrt durch mehrere Klima- und Vegetationsstufen“, wie vom Denzel versprochen, fantastisch! Doch für heute hat es sich ausgeschottert, den Rest des Tages gondeln wir beschwingt durchs farbenfrohe Piemont bis nach Apricale in Ligurien. Beim Abstellen streichle ich der Honda über den Tank und klopfe anerkennend die Flanken. Gut gemacht, Brauner!
Etappe 4
Apricale–LGKS, Teil 1 • 160 km
Die Baustellenampel zeigt die Zahl 25. Sekunden, denke ich. Sind aber Minuten. Shit, Geduldsprobe. Motor aus, Helm ab, Zippe an. Das junge, hippe holländische Pärchen aus dem Honda Civic vor mir steigt auch aus, wir kommen ins Gespräch, ich berichte von meiner bisherigen Rallye. „Was? Baujahr 1988? Wow, älter als wir, cooles Motorrad! Und die Farbe ist auch echt mega, voll wüstenmäßig irgendwie, sieht nach Abenteuer aus!“ Die Schwärmerei geht mir (und bestimmt auch Transe) runter wie Öl. Endlich mal jemand, der das „Nancy Beige Metallic“ zu würdigen weiß. Im Gegensatz zu den Lästerzungen, die fürs lichte Goldmetallic, schokoladige Braun und blütenreine Weiß nur einen plumpen Überbegriff finden: kackfarben. Ich gebe ja zu, vor gut drei Jahrzehnten stand ich auch etwas irritiert vor diesem Design, nun aber gefällt mir der dezente „Macchiato“-Look. Apropos: Beim Frühstück in der Pension startete der Tag nach bequemer Nacht im Federkernbett mit perfekt geschäumtem Milchkaffee. So schmeckt Urlaub! Öliger Schweiß, mit Dreck verkrustete Haut – alles reingewaschen unter heißer Dusche. Sich endlich wieder als Mensch fühlen, nachdem bei jedem Stopp um mich herum schon ganze Fliegenschwärme schwirrten. Im verwinkelten Bergdörfchen Apricale stieß ich auch auf die Gruppe Reiseenduristen, die mit dem MOTORRAD action team unterwegs sind. Netterweise darf ich mich anschließen, denn bei ihnen steht die Ligurische Grenzkammstraße, kurz: LGKS, auf dem Programm. Heute rücken wir zum Schnuppern aus, eingrooven auf versteckten Hinterlands-Bergrouten auf sich eng und steil hochwindendem Asphalt. Zwischen den teils nagelneuen Maschinen mit bis zu 160 PS, Schutzbügeln und Navisystemen, die allein schon den Gesamtwert der gebrauchten Transe überschreiten, kommen wir uns als Shabby-Duo etwas armselig vor. Auf losem Untergrund werden die Karten aber neu gemischt. Unbekümmert hoppelt die vollgetankt 194 Kilo leichte Honda über fette Brocken, das 21-Zoll-Vorderrad führt sicher durch Rinnen, bergab verpatzte Radien lassen sich gut korrigieren, und das Moped schiebt nicht gleich bedrohlich Richtung Abhang. Im Gegensatz zu den 1200er-plus-Hubraummonstern mit 50 Kilo mehr auf den Hüften tut sich die fast schon zierliche 600er leicht mit der ersten Tuchfühlung auf der Grenzkammstraße. Die Etappe – diesmal mehr Touring als Rallye – endet erst spätabends beim letzten Grappa nach fulminantem Abendessen auf dem Dorfplatz in Apricale, als die letzten anregenden Benzingespräche verklungen sind.
Etappe 5
Apricale–LGKS, Teil 2 • 210 km
Königsetappe Grenzkammstraße. Die alte, in Fels gehauene Heerstraße verläuft zwischen Frankreich und Italien und übte von jeher auf Reiseenduristen magische Anziehungskraft aus. Wo sonst bekommt man als Offroadfahrer einen vergleichbar epischen Fahrfluss serviert? Heutzutage wird für einen Abschnitt eine Eintrittsgebühr verlangt, an manchen Tagen herrscht Fahrverbot, und, wer weiß, vielleicht wird die LGKS für Motorräder zukünftig ganz geschlossen. Doch wir sind hier: BMW GS, KTM Super Adventure und 690 Enduro, Suzuki V-Strom, Tiger XC und, aha, eine neuere 700er-Transalp. Besitzer Martin blieb als routinierter Vielfahrer auf Asphalt an der Gruppe problemlos dran, doch nun verkrampft er als Schotter-Novize und streckt nach einigen Kilometern die Waffen. Auch die Honda schien gestresst von den vielen Schlägen, nur 170 Millimeter Federweg und 19-Zoll-Vorderrad muss man zumindest im Gelände-Habitat als evolutionären Rückschritt betrachten. Die über 20 Jahre ältere Erstserien-Transe ist offenbar von ganz anderem Blut, härter gesotten, jeepiger. Trommelbremse hinten, okay, antiquierte Technik aus den 80ern, aber fürs gefühlvolle Rumpeln über fußballgroße Felsbrocken völlig ausreichend. Aus Vergasern generierte 50 PS, nicht dolle, aber jederzeit perfekt dosierbare Leistung sowie ein auch nach fast 30 Jahren Gebrauch immer noch sauber schaltendes und optimal abgestuftes Getriebe verhelfen auf losem Untergrund mit steilen Rampen zu einer sauberen Linienwahl. Unbestritten trägt die Transe bei strenger Test-Punktebewertung gegenüber modernen Reiseenduros weit abgeschlagen die rote Laterne. Ist eine alte Gebrauchtgurke. Und dennoch: Hier auf der LGKS wirkt sie immer noch frisch und knackig genug, um sich keineswegs abhängen zu lassen. Im Gegenteil, sie scheint in ihrem Element, wedelt in über 2000 Meter Höhe über Auswaschungen und tiefe Querrinnen, pflügt behände entlang ausgesetzter Passagen und ungesicherten Abbrüchen. Bei der Mittagspause am Rifugio sammelt sich die Gruppe. Unter brennender Sommersonne stehe ich im eigenen Saft, die Wachsbeschichtung der Jacke schmilzt nach innen und legt sich als schmieriger Film auf die Haut. Die Jeans starrt so vor Schmutz, dass man sie einfach in die Ecke stellen könnte. Den anderen geht es in ihren Gore-Tex-Klamotten nicht anders, auch sie wirken schachmatt. Aber keiner mault, keiner jammert. Das hier ist nichts für Sitzbankpupser, die möglichst bequem von einem Burger-House zum nächsten Eiscafé chauffieren. Die sollen unten bleiben, im Tal. Wer hoch hinaus will, wo sich nicht alle auf den Füßen herumtreten, muss sich anstrengen, muss mit seiner Maschine einen Bund eingehen, muss Sportsgeist wecken. Dann kommt man mit stolzgeschwellter Brust unten wieder an. Dies ist kein Wettbewerb, trotzdem fühlt man sich als Gewinner, egal mit welcher Maschine. Liebe Transe, du warst die Erste beim Motorrad-Mehrkampf „Rally Touring“, deiner und meiner Lieblingsdisziplin. Wir sind älter geworden und vielleicht nicht mehr ganz so fit wie damals. Aber nun stehen wir hier, haben zusammen fünf Etappen und mehr als 2000 anspruchsvolle Kilometer überstanden. Und uns lebendig gefühlt wie lange nicht mehr. Für mich bleibst du ein Siegertyp!
Epilog
Monaco ist kacke. Drecksverkehr, Stillstand, Stau. Bestimmte Zonen sind für Motorräder gesperrt, oder wirke ich in meiner verstaubten Motorradkleidung mit der ungewaschenen Transe einfach nur zu schmuddelig für die Plätze, wo die feinen Leute ihre Luxuskarosse parken? In Monte Carlo vor dem Casino werde ich jedenfalls des Platzes verwiesen, beim Halten vor dem Rolex-Geschäft kommt sofort ein Polizist herbeigeeilt, um mich nach meinen Absichten zu befragen. In langen Kolonnen schieben sich Lamborghinis, Maseratis und Rolls-Royce in Schrittgeschwindigkeit voran, mit der Honda rolle ich langsam und grinsend daran vorbei bis zum Jachthafen. Wie versprochen, Pastis bestellen, Foto und dann wieder aufsatteln. Denn nach betörenden Tagen in den Alpen ist die Zieleinfahrt meiner ganz persönlichen Transalp-Rallye ein einziger Abtörn, also bloß nichts wie weg hier!
Autobahn ist scheiße. Über 800 stickige Kilometer, die übermäßig viel Öl und Reifen fressen. In Ermangelung äußerer Reize ziehe ich mich in meinen Helm zurück, lasse den Gedanken freien Lauf, während mein Hintern sich langsam platt sitzt. Nun werden auch Knie und Schultern müde, zu allem Überfluss setzt der Motor ab und zu aus. Zündung, Spritzufuhr? Verflucht, aber solange die Maschine läuft, verschiebe ich die Diagnose auf zu Hause. Kopfrechnungen, um vom Autobahn-Stumpfsinn abzulenken. Benzinverbrauch: minimal 4,16, maximal 6,03 Liter. Ölverbrauch nach 2500 Kilometern: gut 1,5 Liter. Geht in Ordnung bei dieser hohen Laufleistung. Der Hinterreifen ist nach stundenlanger Geradeausfahrt eckig und unbrauchbar für weitere Touren. Er wird demnächst einem handlicheren und langstreckentauglicheren TKC 70 weichen, der, so mein Resümee, für meine Transalp-Rallye wohl völlig ausgereicht hätte, obwohl der rustikale Evergreen TKC 80 in schlammigen und ausgesetzten Passagen eine sichere Bank war. Solche Strecken, legal befahrbar, die über den höchsten Denzel-Schwierigkeitsgrad hinausgehen, finden sich in Europa allerdings nicht so leicht. Pyrenäen, Balkan, Karpaten? Schöne Gedankenspiele während strapaziöser Heimreise. Auf den letzten Metern schifft es wie Sau, Kilometerstand nun fast 81 000. Transe, wir werden wieder ausrücken, nicht wahr? Wir wollten Abenteuer und haben es gefunden. Haben zusammengehalten und waren wild wie damals. Und sagen: Ob Rallye oder Touring, Gelände oder Straße, Adventure, egal, was auf euren Motorrädern steht und wie alt sie sind – zögert nicht, fahrt einfach los!
Infos
Selbst organisiert oder mit dem MOTORRAD action team: Ein Trip zur Ligurischen Grenzkammstraße gilt als Pilgerfahrt für Rallye-Touristen.
Auf den Spuren der Transalp-Rallye: Als Alleinfahrer sollte man für die Geländesektionen etwas Erfahrung mitbringen und sich auch auf grobem Schotter sicher fühlen.Bitte bedenken: Selbst flotte Fahrer und Offroad-Könner sollten für anspruchsvolle Alpenrouten (in den Etappenkarten mit „Sonderprüfung“ ausgewiesen) nicht mit einer höheren Durchschnittsgeschwindigkeit als zirka 50 km/h kalkulieren, teils ergaben sich strapaziöse Fahrtzeiten von über elf Stunden. Nicht fit genug? Kein Problem, die meisten Verbindungsstrecken („Liaison“) empfehlen sich ebenfalls als tolle Alpen-Touren.
Geführte Tour: Das MOTORRAD action team bietet für Reiseenduristen die sechstägige Tour „Piemont-Ligurien“ an, die in Chur/Schweiz startet. Die Reise ist ein optimaler Einstieg für angehende Rallye-Touristen, schließlich gelten die unbefestigten Gebirgs- und Militärstraßen im Nordwesten Italiens inklusive Ligurische Grenzkammstraße als europäisches Top-Revier für Adventure-Rider. Voraussetzungen: Geländeerfahrung und sehr gute Motorradbeherrschung für Tagesetappen von 150 bis 450 Kilometern. Mehr Infos: www.actionteam.de