Reportage Glemseck 101
Festival für die Sinne

Größer, skurriler und bedeutender denn je: Anfang September 2016 stieg die elfte Auflage des Kulttreffens Glemseck 101 bei Leonberg. Ein Stück gelebte Anarchie und echter Motorrad-Kultur ist das, ein Treffen der internationalen Customizer und eine Feier des Motorrads an sich. Wesentlich dabei sind die Poeten des Sprints, echte Künstler(innen) an Gasgriff und Kupplung.

Festival für die Sinne
Foto: jkuenstle.de

Es ist der Nachmittag des ersten Samstags im September. Über Tausenden Motorradfahrern kreist ein Polizeihubschrauber am strahlend blauen Himmel. Es muss ein starker Anblick sein von dort oben, dieses T-förmige Motorradtreffen auf der ehemaligen Solitude-Rennstrecke. Die Beamten im Helikopter genießen einen tollen Überblick über kilometerlange Schlangen von parkenden Autos und Motorrädern. Aber auch über volle Zeltplätze, die Bühne und die Sprint-Rennstrecke über die Achtelmeile am ehemaligen Start-Ziel-Turm, wo noch in den 60er-Jahren GP-Rennen ausgetragen wurden.

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Das Motorradfestival Glemseck 101 in Leonberg platzt aus allen Nähten. So sehr, dass gerade eben eine der Tugenden dieses Treffens kurzzeitig kippt: Eigentlich darf jeder mit seinem Motorrad mitten durchs Gewühl. Helmpflicht? Nicht hier, nicht bei Schrittgeschwindigkeit. Lässig, am liebsten mit offenem Jethelm, coolem Lederjäckchen und klassischer Jeans. Doch an diesem übervollen Nachmittag sperren Ordner die Zufahrt für Motorräder. Es ist einfach zu voll. Zu viele Leute holen sich Inspirationen, bewundern schicke Motorrad-Mode und verwegene Zweiräder.

Laut Wikipedia gilt Glemseck 101 als „größte Marken- und typübergreifende Motorrad-Open-Air-Veranstaltung in Deutschland“. Daran lässt die elfte Auflage in diesem wunderschönen Spätsommer 2016 keinen Zweifel. Sehen und gesehen werden sind Programm, skurrile bis verrückte Typen auf zwei Beinen und zwei Rädern die Regel, komplett originale Serienmaschinen eher die Ausnahme.

Erlaubt ist, was gefällt. Es muss ja nicht bei jedem gut ankommen. Hauptsache, das eigene Bike ist nicht langweilig. Eintritt? Gratis. Erlebnisfaktor? Grandios. Hier triffst du das gesamte Spektrum von Um- und Eigenbauten: vom ersten Umbau namenloser Einzelkämpfer bis zu weltbekannten Tuning-Firmen. Benzinköpfe aus halb Europa, ja sogar aus den USA, zeigen hier, was sie in ihren Garagen, Werkstätten und Workshops auf die Räder gestellt haben, wohin die Customizer-Trends gehen.

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Metamorphose auf Rädern: verwegen langer und schmaler Jawa-Twin von Urban Motor aus Berlin. Wer schön ist, muss nicht so schnell sein.

Hinterhofschrauber geben fahrende Visitenkarten ab, die Crème de la Crème der internationalen Tuner-Zunft zeigt, was sie drauf hat, wie bei Yamahas „Yard Built-Bikes“ mit sehr schönen Interpretationen von MT-07, XJR 1300 und Vmax. Handwerk mit Leidenschaft trifft auf Kreativität in Vollendung. Eine nicht endende Aneinanderreihung von in Metall gegossenen, gedengelten und gefrästen Ideen. Es ist die perfekte Show aus Verve und Fantasie.

Peter Dannenberg, Chef von Urban Motor aus Berlin, hat eine federleichte Interpretation eines Jawa-Twins kreiert, siehe Foto. Peters Credo: „Damit werden wir nicht die Schnellsten beim Sprint sein – aber wer langsam fährt, wird länger gesehen.“ Und gehört, denn der tschechische Zweitakter tönt ziemlich sonor aus den kunstvollen, kurzen Krümmern. Jochen Schmitz-Linkweiler, Kopf der bekannten Tuning-Schmiede LSL, freut sich über die Vielfalt und Toleranz: „Jeder gönnt dem anderen Erfolg und tolle Ideen für klasse Umbauten.“ Nein, Neid kommt hier nicht auf. Nur Staunen über so viele kreative und verrückte Ideen an jeder Ecke, übers Beben, Grollen und Stampfen.

Selbst die großen Hersteller haben sich eingelassen auf dieses Flair, diese vibrierende und pulsierende Atmosphäre: Am Stand von BMW stehen vor allem Umbauten aller möglichen Art, Zweiventil- und Vierventil-Boxer, aber auch die Studie eines eleganten Baggers auf K 1600-Basis. Davor parkt eine mit „Rostlack“ überzogene BMW R 51/3 von 1952. Gebaut hat sie der 34-jährige Dominik Winklhofer aus Bayern, der dem Lack und Chrom dieses Flat-Twins eigens mit Salzsäure auf den Leib gerückt ist. Genie, Enthusiasmus oder Wahnsinn? Auf jeden Fall guter Gesprächsstoff!

Nicht nur Aussteller, auch die Besucher bringen alle möglichen rollenden Schätze mit, von A wie Adler bis Z wie Zündapp. Motorische Vielfalt in Reinkultur mit allen möglichen Zylinderkonfigurationen: Singles, Reihen- und V-Motoren, längs und quer eingebaut, gerne und meist luft- und manchmal eben auch wassergekühlt. Ein-, Zwei-, Drei-, Vier-, Sechs- und Achtzylinder (Boss Hoss!). Noch nie eine rollende Replika der legendären Honda 250er-Sechszylinder RC 166 von Mike Hailwood und Jim Redman gesehen? Kein Problem, parkt irgendwo vor einem der vielen Ausstellerzelte, scheint aber privat zu sein. Ganz normale Motorradfahrer, durchgestylte Hipster und tätowierte Rocker Seite an Seite feiern hier drei Tage lang den Motorrad-Kult.

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Heiße Nächte: Motorradfahrer aus halb Europa geben hier Gummi.

Das A und O von Glemseck 101 aber sind die vielen Sprintrennen am Samstag und Sonntag über die Achtelmeile. In den verschiedensten Klassen wird losgehechtet, Mann gegen Mann, Frau gegen Mann oder Frau gegen Frau. Künstler des Sprints sind viele hier: Der Engländer Carl Fogarty gilt mit vier Weltmeistertiteln als der erfolgreichste Superbike-Fahrer aller Zeiten, startet hier für Triumph auf einer neuen Thruxton R, nur eben mit Kompressor-Aufladung. Als eine der schnellsten Frauen der Welt gilt Maria Costello, Member of the British Empire. Die Britin fährt regelmäßig TT. Erfolgreich.

Eben dort, auf der Isle of Man, ist Conor Cummins zu Hause. Hier und heute sprintet er auf einer Replika von Freddie Spencers Superbike. Ganz egal, wer startet, es ist eine wilde Hatz, bei Café Racern, 50ern („Fireflies“), Maschinen mit Starrrahmen („StarrWars“) oder dem mittlerweile weltweit beachteten International Sprint – das Prinzip ist immer das gleiche. Zuerst nimmt das Start Girl Blickkontakt zu beiden Protagonisten auf. Wenn es dann in die Luft springt und die karierte Flagge senkt, gilt es.

Dann musst du voll konzentriert sein. Stimmt die Drehzahl? Kupplung am Schleifpunkt? Wer einen Sekunden-Bruchteil zu spät reagiert, hat meist schon verloren, doch ein Frühstart führt zur Wiederholung des Rennens. Das Hinterrad soll nicht durchdrehen, das Vorderrad nicht zu sehr steigen. Selbst Hochschalten ohne Kupplung will geübt sein. Sieht von außen alles einfacher aus, als es ist. Für Dutzende Fahrer/innen auf zum Teil verwegenen, oft richtig starken Maschinen eine echte Herausforderung. 2016 geben viele heiße Ladys auch fahrerisch eine gute Figur ab.

Josef hat Mühe, die angeblich über 200 PS seiner Moto Guzzi mit Lachgas-Einspritzung auf die Straße zu bringen; die Kupplung verraucht. Gebaut hat dieses lange Monster der V2-Enthusiast Stefan Bronold von Radical Guzzi für die „Sultans of Sprint“. Wer als Zuschauer nicht lange vor Beginn einen Tribünenplatz findet, hat keine Chance auf einen Sitzplatz. Videoübertragung auf Bildschirme ist ein schwacher Trost. Immer internationaler wird diese Veranstaltung, viele Nationen feiern und fahren gemeinsam. So wie in der Sprint-Klasse, in der je fünf französische und deutsche Fahrer gemeinsam als Team „gegen den Rest der Welt“ antreten.

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Heißes Flacheisen: Harley-Brenner mit gleich zwei hintereinandergeschalteten V2-Motoren.

Letztlich ist das hier ein Overkill an Sinneseindrücken: Nicht einmal wer von Freitagnachmittag bis Sonntagabend dabei ist, kann alles sehen, alles mitbekommen. Lang sind die Leonberger Nächte, abends gibt’s Rockabilly (für passenden Stil sind Friseurinnen und Barbiere vor Ort!), Livemusik vom DJ und Rockmusik bis in die frühen Morgenstunden. Am Sonntag kurz vor Schluss öffnet der Himmel seine Schleusen, der MO-Classic Racer-Sprint wird kurzfristig abgesagt. So geht das elfte Glemseck 101 etwas abrupt in strömendem Regen unter. Schade für alle, die noch auf zwei Rädern nach Hause oder ihre Stände abbauen müssen.

Aber wir sehen uns ja alle wieder – am ersten September-Wochenende 2017 in Leonberg. Und am Samstag, 8. Oktober 2016 auf der INTERMOT in Köln: Dann starten die zweiten Läufe zu den Sprintrennen der Klasse „Essenza“: Hier messen sich 16 pure, aufs Wesentliche reduzierte Maschinen, davon elf von Motorradherstellern in Auftrag gegebene – möglichst minimalistische Motorräder mit zwei Zylindern bis 1200 Kubik. Am Glemseck gewann Triumph-Pilot Carl Fogarty gegen die Italienerin Francesca Gasperi auf der grünen Kawasaki „Underdog“, einem 90 PS starken Vulcan S-Umbau. In Köln werden beide Ergebnisse addiert und mit der Design-Bewertung per Internet-Voting und Fachjury verrechnet. Der Spirit vom Glemseck 101 lebt intensivst weiter.

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Erscheinungsdatum 15.09.2023