Sprint-Spezial: Essenza – live dabei

Sprint-Spezial: Essenza – live dabei Mittendrin statt nur dabei

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Sprint. Leben und sterben in wenigen Sekunden. Sprint. Nächtelanges Schrauben für wenige Augenblicke. Sprint. Wer zögert, verliert. Man kann so vieles falsch machen. Und so wenig richtig. Rolf Henniges stieg für FUEL in den Sattel und gab Gas. Eine Story aus der ersten Reihe.

Mittendrin statt nur dabei Frank Ratering

Essenza. Sagt euch das was? Nein? Also, Essenza ist eine Serie, die aus der Kombination von Sprintrennen und einem Designwettbewerb besteht. Die treibenden Kräfte hinter der Idee sind Jörg Litzenburger, der Sprint-Pate von Glemseck 101, sowie Custom-Szenegröße Uwe Ehinger und Werbe-chefin Katrin Oeding. Alle großen Motorradhersteller sowie ein paar Custombike-Bauer wurden zu Jahresbeginn eingeladen, ihre Kreationen im Rahmen des Essenza-Projekts an den Start zu schieben. Für den Bikebau gelten übersichtliche Regeln: maximal zwei Zylinder, maximal 1200 Kubik. Dragster-Equipment wie Wheelie-Bar oder verlängerte Schwingen sind verboten. Was zum Zeitpunkt der Idee kaum jemand für möglich hielt, wurde wahr: Bis auf Honda sprangen alle wichtigen Hersteller auf den Zug auf. Aber kommen wir jetzt zur „Liveberichterstattung“.

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Irgendwann Ende April klingelt das Redaktionstelefon: „Harley hier. Sag‘, willst du nicht für uns beim Essenza-Rennen an den Start gehen? Wir bauen eine Sportster Roadster auf.“ Sprint fahren fehlt mir noch auf der Lebens-to-do-Liste. „Geht klar“, grinse ich. Kaum zugesagt und verkündet, kommen erste Bedenken. Die Redaktionskollegen, die der Kombination aus Harley und Sport tendenziell skeptisch gegenüberstehen, kritzeln Folgendes an die Lästertafel: 260 Kilogramm, 67 PS, maximal 5500/min, Hartgummi statt Reifen. Wie bitteschön, soll man mit solch einem Gerät konkurrenzfähig sein? Ähm, ja. Man könnte jetzt sagen: It’s not the machine, it’s the man. Doch leider habe ich keine Ahnung. Die rudimentären Erfahrungen, die ich in dieser Sportart gesammelt habe, sind 35 Jahre alt. Damals nannte man das „Stechen fahren“. Es wurde wann immer es ging von uns praktiziert, um so wichtige Entscheidungen zu fällen wie: Wer bezahlt abends das Bier, oder wer nimmt die schöne Elke nachher mit heim? Heim natürlich im Sinne von vor der Haustüre abliefern. Sprint kann ergo so schwer nicht sein. Geradeaus fahren kann doch jeder, denke ich.

Die ersten Gerüchte

Aber vielleicht nicht schnell genug. Kaum zwei, drei Wochen später kursieren die ersten Gerüchte: Kawasaki wird neben Extremtuning auch Lachgaseinspritzung einsetzen und hat mit der italienischen Rennfahrerin Francesca Gasperi eine wahre Meisterin des Genres verpflichtet. Oder Triumph: Sie werden zwei turboaufgeladene, über 160 PS starke Thruxton R-Modelle an den Start rollen, im Sattel der einen Maschine niemand Geringerer als der viermalige Superbike-Weltmeister Carl Fogarty. BMW hat, so wird kolportiert, einen US-Dragrace-Champion verpflichtet und den einzig noch aus dem Film übrig gebliebenen Flux-Kompensator aufgetrieben, Warp 4 sei in Reichweite ... Keine Frage, wenn nur die Hälfte davon stimmt, sehe ich mit der Harley keine Sonne. Da beruhigen auch die Worte von Stephan Maertz, dem Leiter der Harley-Pressewerkstatt, nicht. Er ist der Mann hinter dem Motorrad, mit dem ich starten soll. Der gelernte Kfz-Meister schaut auf eine langjährige Erfahrung mit den Milwaukee-Eisen zurück. Er sagt: „Das wird schon. Ich schraub’ einfach alles ab, was wir nicht brauchen, verbaue einen hauseigenen Stage-­4-Pro-Tuningsatz mit einem rennstreckentauglichen Auspuff von Vance & Hines und stimme alles sorgfältig auf dem Prüfstand ab. Reifen mit Grip drauf, Stummellenker und griffige Rastenanlage dran. Das sollte reichen.“ Hmmm. Skeptische Recherche. Derart aufgerüstete 1200er-Sportster-Motoren knacken zwar die 100 PS-Grenze. Aber gerade mal so.

Der Sommer kommt. Und er geht. Genau wie der Urlaub. Als ich am 2. September, einen Tag vor dem ersten Lauf, der im Rahmen des Glemseck 101 ausgetragen wird, aus dem wohlverdienten Urlaub zurückkehre, habe ich das Motorrad, auf dem ich starten werde, noch nicht ein Mal live gesehen. Die Sonne brennt, 65 000 Zuschauer drängeln, mittendrin empfängt mich Stephan und drückt mir einen Zündschlüssel in die Hand. „Hier“, meint er, „da hinten kannst du noch ein paar Mal hin- und herfahren, um dich an die Leistungsentfaltung und die Kupplung zu gewöhnen.“ Gesagt, getan. Überraschung. Ich bin schon viele 1200er-Sportstermotoren gefahren im Leben. So einen wie diesen hier aber nicht. Der hat wirklich Druck. Um blitzartig starten zu können, muss man bei rund 3000/min einkuppeln. Bei 6500/min greift der Begrenzer. Anders gesagt: Kuppelst du zu früh ein, kommst du nicht katapultig genug von der Stelle. Kuppelst du zu spät ein, macht dir der Drehzahlbegrenzer einen Strich durch die Rechnung. Und kuppelst du zu ruckartig ein, steigt die Kiste und wirft dich ab. Echt. Kein Witz. Harley. Steigt. Hoch. Mist. Fast überschlage ich mich mit dem Ding. Erklär das mal den Verantwortlichen ...

Meine Zuversicht bröckelt

Okay. Ich hab’s, denke ich. Bin zehn, zwölf Mal aus dem Stand gestartet, das sollte reichen. Also zurück ins Lager. Meine Zuversicht, alles richtig gemacht und im Griff zu haben, bröckelt in dem Moment, als ich dem Kawasaki-Verantwortlichen über den Weg laufe. „Wir haben das Bike penibel auf Francesca abgestimmt“, sagt Andi Seiler. „Sie hat vorgestern auf einem Flugfeld noch mal 40 Starts geübt. Nur um ganz sicherzugehen. Und um ihr Gefühl aus den 80 Starts von vor drei Wochen zu bestätigen. Das mit der Lachgaseinspritzung haben wir übrigens hinbekommen.“ Lachgas? 120 Starts? Bei mir haben sie die Stellung des Schalthebels an meine kleinen Füße angepasst ...

Apropos Schalthebel. Einige der Bikes treten mit Quickshiftern an. Harley-Händlergigant Ricks, der die zweite Harley für Essenza an den Start schiebt, hat sogar eine elektronische Schaltung verbaut. Fahrer Dominik Beier schießt die Gänge über einen Knopf am Lenker rein. Hinter vorgehaltener Hand kursieren Gerüchte über gigantische Summen, den Herstellern war anscheinend jedes Mittel recht, um den Sieg einzufahren. Triumph soll beispielsweise eine sechsstellige Summe in die Realisation ihrer Bikes gesteckt haben, was aber nie bestätigt wurde. Kann ich mir ehrlich gesagt auch nicht vorstellen.

Schwein gehabt

3. September. Mittag. Gleißende Sonne. Auslosung der Gegner. Ich denke nur: Wenn ich gegen 160 PS und Foggy antreten muss, fahre ich gar nicht erst auf Sieg. Sondern einfach nur Wheelie. Warum? Weil’s geht. Und niemand damit rechnet. Doch mein Gegner wird eine von Moto di Ferro aufwendig umgebaute Yamaha XV 950 mit italienischem Kennzeichen. Schwein gehabt. Die Entscheidung fällt im K.-o.-System: Zwei gehen rein, einer kommt raus und ist eine Runde weiter. So lange, bis nur noch der Sieger übrig bleibt.

Nun, was gibt es beim Sprint zu beachten? 1. Konzen­tra­tion! Zuschauer sind auszublenden. Du musst genau im richtigen Moment starten. Statt einer Ampel springt hier das Flag-Girl hoch. Sobald es die Zielflagge runterreißt, musst du vorwärts schießen. 2. Koordination! Ersten Gang verzahnen, bei exakt der richtigen Drehzahl einkuppeln. Darauf gefasst sein, dass das Hinterrad wegslidet. Oder das Vorderrad steigt. Finger an der Kupplung, um notfalls beides unterbinden zu können. 3. Den optimalen Leistungs- und Drehmomentverlauf des Motors kennen! Um schnell zu sein, muss der Gang bei der exakt richtigen Drehzahl gewechselt werden. Nicht zu hoch, nicht zu niedrig. 4. Vorbereitung! Reifen anwärmen, Motor auf Betriebstemperatur bringen. Kupplungsgriff und Schalthebel an den Fahrer anpassen. Die Ergonomie ebenfalls.

Und looooos!

Am Tag der ersten Entscheidung kommt alles anders, als man denkt. Denn die Kupplung entscheidet sich, über Nacht auszusteigen. Im Nachhinein ist nicht genau zu verifizieren, ob ihr meine Startversuche am Vortag oder die Stunden auf dem Prüfstand für die Abstimmung der Komponenten nicht bekommen sind. Auf jeden Fall fühlt sie sich heute matschig an. Und arbeitet leider auch so. Bereits auf dem Testlauf, den man gegen den vermeintlichen Gegner fährt, verzeichne ich eine heftige Diskrepanz zwischen Beschleunigung und Drehzahl. Hier passt nichts mehr. Dann das Rennen: alle Sinne angespannt, volle Konzentration, Blick aufs Startgirl. Tunnelblick auf die legendäre Achtelmeile mit ihren 201,17 Metern. Und looooos!

Wenn so eine Kupplung rutscht, kommt man mit dem Schaltpunkt völlig durcheinander, weil die hohen Drehzahlen dich plötzlich verwirren und dir der Begrenzer signalisiert, dass du besser früher geschaltet hättest. Ich weiß nicht wie, aber obwohl die Kupplung komplett aussteigt, schaffe ich gegen den Italiener ein Unentschieden, wir ballern gemeinsam über den Zielstrich. Und sollen den Lauf wiederholen. Doch schon beim Zurückfahren wird klar, dass nichts mehr geht. Ich muss aufgeben. Ratlose Gesichter. Enttäuschung bei allen Beteiligten. Markenkollege Dominik wird übrigens mit fast identischem Material Vierter in der Gesamtwertung. Und Foggy am Glemseck Erster.

Essenza-Sprint im Rahmen der INTERMOT

Vier Wochen später. Nächster und letzter ­Essenza-Sprint im Rahmen der INTERMOT. Chaos ist angesagt. Das schwarze Bike von Triumph geht nicht an den Start, Kupplungsschaden. Fürs zweite Bike haben sie den Zündschlüssel in England vergessen, über Nacht werden Zündschloss und Gabelbrücke getauscht. Zudem ist die Sprintstrecke zu schmal und mit 160 Metern kürzer als die Achtelmeile. Aus Sicherheitsgründen einigt man sich, die Fahrer einzeln starten zu lassen. Jeder muss zwei Mal beschleunigen, die Zeiten werden addiert und gemittelt. Sieger ist derjenige mit der schnellsten Durchschnittszeit aus zwei Läufen.

Wieder hatte ich keine Zeit, das Motorrad auszuprobieren, doch Stephan hat es perfekt vorbereitet. Bereits beim Probelauf habe ich ein sehr gutes Gefühl, die Kupplung ist super dosierbar, der Reifen hat, nachdem man ihn per Burnout angeheizt hat, guten Grip. Diesmal gilt’s. Volle Konzentration. Augen auf das Startergirl, Gas auf und einkuppeln. Ich komme gut weg, aber ich krieg den dritten Gang nicht richtig rein, muss nachhaken. Mist, verpatzt, denke ich. Doch es gibt Schulterklopfen – trotz des Missgeschicks war meine Zeit die sechstschnellste. Ausatmen, sammeln, zehn Minuten später der letzte Versuch. Diesmal passt alles. Reaktion, Start, Grip, Hochschalten. Es reicht für die fünftschnellste Zeit insgesamt. Wie eng es zugeht, zeigen die Zeiten: 5.50 Sekunden brauche ich für die Strecke. Patrick Sauter, der spätere Sieger auf Triumph mit „The white bike“ schafft es in 5.23 Sekunden. Dominik wird Gesamtdritter. Ein super Ergebnis für Harley-Davidson, denen man beim Sprint nicht viel zugetraut hat. Im nächsten Jahr geht Essenza weiter. Denn: Sprint ist nicht nur für Fahrer und Mechaniker, sondern auch Zuschauer ein Fest für die Sinne. Dass es immer schon so war und wohin das alles führen kann, lest ihr, wenn ihr weiterblättert. Ich sage an dieser Stelle nur: herzlichen Dank an alle für dieses Erlebnis.

Essenza erklärt

Der Wettbewerb hat klare Regeln: maximal zwei Zylinder, maximal 1200 Kubik, keine Wheelie-Bar oder längere Schwingen erlaubt. Der Gesamtsieger wird ermittelt aus den Ergebnissen der Sprintrennen und denen des Designwettbewerbs. Bei Letzterem voted eine Fachjury sowie das Publikum jeweils zu 50 Prozent. Der Gesamtsieger muss also nicht nur schnell, sondern auch schön sein.

Infos: www.essenza-the-essence-of-motorcycles.com

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