Leben: Wahnsinn Ankerberg

Wahnsinn Ankerberg Ausnahmezustand

Der Ankerberg, ein Hügel ­neben dem Sachsenring, ist seit dem Grand Prix 1998 das Zentrum der Party-Anarchie.

Ausnahmezustand Henniges
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Bitte lassen Sie diese Szene auf sich wirken: Während eines Spaziergangs kommt Ihnen ein Aufsitzrasenmäher entgegen. Sitzbänke sind drangeschraubt. Darauf thronen rund zehn Mann, die zu tief ins Glas geschaut und sich verkleidet haben wie zu Fasching. Sie schwenken volle Gläser zu einem Song, der nur aus einem Wort besteht: "Oberschenkelmuskel". Begegnet Ihnen diese Combo im ­zivilen Leben, rufen Sie vielleicht die Jungs mit den Zwangsjacken. Auf dem berüchtigten Ankerberg ist dieser Auftritt allerdings kaum der Rede wert. Er ist ganz normal…

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Ankerberg? Im Rahmen des deutschen MotoGP-Laufs am Sachsenring wird ein beschaulicher Hügel gegenüber der Rennstrecke für eine Woche zum Campingplatz umfunktioniert. Und das bereits seit 1998, als die Motorrad-WM auf dem Sachsenring Einzug hielt. "Zu Beginn ging das auf dem Berg hoch her", erinnert sich Mirko Schindler, der die schwere Aufgabe hat, das freie Campen auf dem Ankerberg so gut wie möglich in normale Bahnen zu lenken und für Recht und Ordnung zu sorgen. "Da explodierten Motoren auf mitgebrachten Eigenbau-Prüfständen und fackelten ­Zelte ab", erinnert er sich. Um diesem Treiben Herr zu werden, hat die Gemeinde Auflagen erlassen, die Schindler mit seinen Mannen umsetzen soll.

Zum Unmut der Ankerberg-Camper ­allerdings. Laut Schindler wird eine Kaution auf all die Dinge erhoben, die nicht unbedingt zum Campen gehören. Für ein Sofa sind beispielsweise 100 Euro fällig, für einen Kühlschrank 25 Euro. "Wenn man da nicht konsequent durchgreift, wachsen die Müllberge in den Himmel, viele lassen alles zurück." Allein letztes Jahr wurden laut Schindler 82 Tonnen Müll entsorgt. Wie viel Prozent davon liegen gebliebene Gegenstände sind, bleibt offen. "Da sind schon ganze Motorräder stehen geblieben", erinnert sich ein Security-Mann.

Viele der angereisten Party-Camper sehen diese Maßnahmen allerdings als Abzocke: "25 Euro sollten wir für eine Kabeltrommel als Kaution hinterlegen", beschwert sich ein Camper, der schon seit fast zehn Jahren auf den Ankerberg kommt. "Ja, spinnen die? Wer lässt denn seine Kabeltrommel hier zurück?" Ob das stimmt, ist allerdings fraglich, es kursieren viele Anekdoten und Gerüchte auf dem Platz. Fakt ist jedoch: Trotz Dauerregens besetzten in diesem Jahr rund 6900 Camper den Ankerberg. Kosten pro Person: 50 Euro – egal wie lange man dort zeltet. Und feiert.

Denn zum Feiern sind sie hier. An zwei Tagen Ankerberg sieht, erlebt und trinkt man mehr als im gesamten Jahr zusammen. Und man sieht Dinge, die man nie für möglich gehalten hätte: vom frisch tätowierten Sechzigjährigen mit Geschmacksproblemen bis zu Menschen, die ihren Teddybären am Strick hinter sich herschleifen, dem sie zuvor eine Intimrasur verpasst haben. Der Dancefloor vor dem riesigen Party-Turm mutierte beispielsweise am Freitagabend zu einer Fangopackung. Knöcheltiefer, weicher Schlamm sorgte für Bewegungen der besonderen Art. Aus Tanzen wurde Schlamm-Catchen. Und aus flachen Turnschuhen ein Artefakt, das in bestimmten Kunstausstellungen als Meisterwerk durchgehen könnte.

Doch der Wettergott hatte Erbarmen. Während am Sams­tag­nach­mittag bei schönstem Sonnenschein auf dem 400 Me­ter Luftlinie entfernten Sachsenring die Motoren brüllten, trieb man es auf dem Ankerberg bunt. Auffällig: Weniger als fünf Prozent der Ankerberg-Bewohner waren in diesem Jahr mit dem Motorrad angereist. Vielleicht weil die Wetterprognosen schlecht waren. Vielleicht aber auch, weil sie noch nicht mal den Führerschein dafür haben.

Egal. Eine Woche lang gleicht das Leben und Treiben auf diesem kleinen Hügel, den sie Ankerberg nennen, einer Parallelwelt, die nicht jeder verstehen kann, zumindest aber mal gesehen haben muss. Denn egal, ob hier der Grundschullehrer und seine Kumpel Porno­heftchen zum Grillen nutzen oder sich zwei Maschinenbau-Inge­nieure ein neues Spiel ausdenken, das letztlich nur darauf abzielt, mit möglichst viel Spaß und Sport viel Alkohol zu konsumieren – letztlich zählt nur eins: Die Lust am Leben. Selten sieht man so viele glückliche und zufriedene Menschen auf einem Haufen.

Das bestätigt auch Ankerberg-Koordinator Mirko Schindler: "Keine Schlägereien, keine Diebstähle, keine großen Verletzungen – bei der Anzahl von Menschen ein kleines Wunder." Ob dieser Frieden auch fürs Rennen galt, lesen sie auf den folgenden Seiten.

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