Für einen Tag war ich ein Reisender zwischen den Zeiten. 20 Minuten lang eine HPS-Honda Fireblade mit 204 PS fahren, kurze Pause, umziehen, dann auf die BMW R 69 S-Rennmaschine steigen, um auch sie über den großen Kurs in Hockenheim zu treiben. Und wieder von vorn. Dieser Wechsel zwischen unterschiedlichen Epochen erwies sich als Herausforderung und war enorm lehrreich. Denn im extremen Gegensatz der beiden Motorräder traten ihre Charaktere besonders deutlich hervor, mitsamt deren Auswirkungen auf Fahrdynamik und Fahrstil.
Laufen lassen, schöne runde Bögen fahren, so lautet das Motto auf der BMW. Es ist wie schwungvolles Zeichnen, nur eben auf der Strecke statt auf Papier. Für den modernen Fahrstil mit engen Bögen im Kurvenscheitel und möglichst geraden Brems- und Beschleunigungszonen fehlt es der BMW R 69 S schlicht an Leistung. Was nicht heißt, dass sie langsam wäre. Zumindest bin ich mit ihr im Motodrom nicht der Langsamste, und sie ermöglicht mir präzise, elegante Linien. Wegen der geringeren Geschwindigkeitsunterschiede im Lauf einer Runde und weil die schmalen Reifen weniger Schräglage verlangen, strengt das Fahren auch längst nicht so an wie auf einem modernen Motorrad. Das verstärkt den Eindruck einer harmonischen Verbindung von Fahrer und Maschine.
594er blieb im R 50-Chassis
Die blau-orangene Veteranin, Anfang der 60er-Jahre ursprünglich als R 50 S gebaut, ist die weniger bekannte von Helmut Dähnes Renn-BMW. Weniger wichtig ist sie nicht, denn sie begleitete seinen Einstieg in den Rennsport. Ab Mitte des Jahrzehnts begann ihre allmähliche Verwandlung, zur Saison 1967 hat Helmut Dähne den Motor auf den Stand der BMW R 69 S umgerüstet. 1968 lief sie auf der Prüfungsfahrt an der Solitude mit Telegabel statt Vorderradschwinge, im Jahr darauf bei der Zuverlässigkeitsfahrt am Schottenring mit Vollverkleidung.
In der ersten Hälfte der 70er-Saison erlebte die Maschine eine wahre Motorjonglage: Für Zuverlässigkeitsfahrten behielt sie den leicht aufgebohrten (zweites Übermaß) 594er-Motor der BMW R 69 S, für B-Lizenzrennen in der 500er-Klasse wurde ihr ein 500er-Prototypenmotor mit Rollenstößeln eingepflanzt. Den hatte Nachwuchsfahrer Dähne von BMW-Entwicklungsleiter Hans-Günther von der Marwitz erhalten. In der zweiten Saisonhälfte kam ein Prototypen-Chassis aus der R 75/5-Entwicklung für den 500er dazu, der 594er blieb im R 50-Chassis.
BMW R 69 S wurde 1979 stillgelegt
1971 verkaufte Helmut Dähne das Motorrad an einen Herrn aus seiner Nachbarschaft, der es weiterverkaufte an einen Angehörigen der US-Streitkräfte, Myles mit Nachnamen. Diese Epoche ist die dunkle Phase in der Geschichte der Rennmaschine; was Mr. Myles mit der BMW R 69 S angestellt hat, ist nicht bekannt. Als er in seine Heimat zurückbeordert wurde, tauschte er sie beim bekannten BMW-Gespannrennfahrer Heinz Luthringshauser gegen eine Megola ein, die er in die Staaten mitnahm. Die BMW wiederum ging im Frühjahr 1979 an den Sammler Heiner Seibert aus Worms, erlitt einen Getriebeschaden und wurde im Herbst des Jahres stillgelegt. Um das Jahr 2002 tauschte Heiner Seibert die R 69 S gegen einen 1934er-Lanz Bulldog, seither gehört sie Klaus Weidmann. Er reparierte das Getriebe und den durch einen Sturzschaden leck gesprungenen GFK-Tank, der als einziges Teil neu lackiert werden musste. Und weil er schon einmal dabei war, wechselte er ein paar Dichtungen, die Züge und Ölfüllungen, kurz, er ließ der BMW all die Pflege angedeihen, die sie lange Jahre vermisst hatte. Wenn sie fährt, was regelmäßig geschieht, wird sie zügig bewegt, wenn sie nicht fährt, liebevoll erhalten. Paradiesische Verhältnisse für ein älteres Motorrad.
Die BMW R 69 S dankt dies bei unserem Rendezvous mit stets bereitwilligem Anspringen und tadellosen Manieren. Boxertypisch schüttelt sie sich ein wenig beim Warmlaufen in niedrigen Drehzahlen, die mit vorsichtiger Hand am Gasgriff gehalten werden wollen, weil die SSI-Vergaser von Dellorto kein Leerlaufsystem haben. Der mit höchster Sorgfalt aufgebaute Motor läuft mechanisch sehr ruhig, donnert jedoch sonor aus den formschönen Auspuffen, die offenbar mit ziemlich luftigen Dämpferelementen bestückt sind. So hat man wenigstens etwas zu hören, wenn man mit Halbgas durch die schnelle Parabolika zur Spitzkehre hinausfährt.
Temperament und Laufkultur des Motors
Ja, Halbgas. Die BMW R 69 S ist zu kurz übersetzt für Vollgas in dieser Passage. Um den Motor nicht zu Tode zu drehen, richte ich mich aus der Verkleidung auf und fahre mit Halbgas ganz links am Streckenrand, damit die anderen ungestört überholen können. So richtig vor mir hertreiben kann ich sie erst ab der Spitzkehre wieder. Beim zweiten Turn gibt mir Klaus für die Parabolika 8500/min frei. Der alte Boxer liefert sie mit Begeisterung, und das begeistert wiederum mich. Auf dem Leistungsprüfstand würde der Motor wahrscheinlich in der Zehntelsekunde vor dem Auseinanderfliegen die Spitzenleistung bringen, nach meiner Schätzung deutlich mehr als 60 PS. Da ist bis 8500/min kein Nachlassen zu spüren; wahrscheinlich würde der Motor auch über 9000/min noch weiter zulegen. Doch was hilft‘s, wenn er mechanisch die Drehzahl bei Höchstleistung nicht übersteht?
Wegen seines Temperaments und seiner Laufkultur verdient der Motor eine nähere Beschreibung. Er ist, was spezielle Teile anbelangt, nicht so weit weg von der Serie wie die vorangegangene Schilderung vermuten lässt: Sportnockenwelle und die besagten Dellorto-Vergaser, das war‘s. Dafür erfolgten die Vorbereitung und die Montage der Serienteile mit unendlicher Sorgfalt. Die Nadeln der Pleuellager hat Helmut Dähne aus einem in tausendstel Millimeter abgestuften Sortiment ausgewählt, die fertig gebaute Kurbelwelle peinlich genau auf Rundlauf ausgerichtet und die Kanäle von Hand „richtig schee g‘macht“, wie er selbst schildert. Der Erfolg gibt ihm recht: Seit der Montage 1967 musste das Gehäuse mit dem wälzgelagerten Kurbeltrieb nicht mehr aufgemacht werden. Dabei stammt er eigentlich aus der Baureihe, die vor allem in der ersten Hälfte der 60er durch zahlreiche Motorschäden auffiel. Weil sie ihre hohe Nenndrehzahl von 7650/min kaum aushielt, hatte man die R 50 S ja überhaupt nur zwei Jahre lang produziert.
In einem Punkt, so lernte Helmut Dähne von seinem Motor, bringt große Sorgfalt nichts. Er hatte Pleuel und Kolben peinlich genau auf dasselbe Gewicht gebracht, im Glauben, damit einen wichtigen Faktor für die hervorragende Laufkultur geschaffen zu haben. Als er eines Tages per Achse auf dem Weg zur Isle of Man war, riss der rechte Zylinder ab. Ein Versuchsfahrer brachte Ersatz, hatte aber nur Standard- statt der Übermaßteile zur Verfügung. Notgedrungenermaßen baute Dähne sie ein, um festzustellen, dass der Boxer der BMW R 69 S mit den unterschiedlichen Einzelhubräumen genauso kultiviert lief wie zuvor.
Hinterradfederung mit knappem Federweg
Ein ähnlich feines Teil wie der Motor, zu sensibelstem Ansprechen erzogen, ist die Gabel. Sie entstammt der Serie, die Ende der 60er in die US-Exportmodelle der BMW R 69 S eingebaut wurde, während dieses Modell in Europa noch mit Vorderradschwinge produziert wurde. Und sie macht ihre Sache sehr gut. Weit besser als die Hinterradfederung, deren knapper Federweg ihr enge Grenzen setzt. Man merkt das vor allem beim Herausbeschleunigen aus der Senke des Hockenheimer Motodroms, wenn es auf der kleinen Kuppe an Ausfederweg mangelt und es das ganze Motorrad von hinten nach vorn kräftig durchrührt. Solche Eigenheiten dokumentieren den Stand der Technik in der Zeit seiner Entstehung ebenso wie das wieder einmal nicht sehr entgegenkommende Getriebe.
Obgleich sie ebenso ferner Vergangenheit angehört, setzt sich die Doppel-Duplex-Trommelbremse im Vorderrad besser in Szene. Moment, werden jetzt Kenner sagen, da sind Standard-BMW-Teile zu sehen, und das waren nur Duplex-Bremsen. Doch es stimmt schon. Dem Vorbild Ferdinand Kaczors folgend, hat Helmut Dähne zwei serienmäßige Duplex-Trommeln vertikal geteilt, die beiden rechten Hälften wieder zusammengeschweißt und einen um 15 Millimeter breiteren Bremsring eingeschrumpft. Die so geschaffene Doppel-Duplex-Bremse beißt zu Anfang moderat, mit zunehmender Erwärmung aber immer knackiger zu. Im Verlauf lang anhaltender Bremsmanöver ist sogar regelrecht Vorsicht beim Dosieren angesagt. Frühe Scheibenbremsen an Serienmotorrädern waren längst nicht so bissig. Aber es ist mit der Trommelbremse genauso wie mit dem ganzen Motorrad: In den frühen 70ern waren sie in der Endphase ihrer Entwicklungsfähigkeit. Das Neue war zunächst nicht viel besser, bot aber viel mehr Potenzial.
Daten und Erfolge BMW R 69 S





Technische Daten
Motor: Luftgekühlter Zweizylinder-Viertakt-Boxermotor, längs eingebaut, eine stirnradgetriebene, untenliegende Nockenwelle, je zwei Ventile pro Brennraum, über Stoßstangen und Kipphebel betätigt, Bohrung x Hub 72 x 73 mm, Hubraum 594 cm³, Leistung ca. 41 kW (56 PS)
Kraftübertragung: Einscheiben-Trockenkupplung, Vierganggetriebe, Kardanantrieb
Fahrwerk: Doppelschleifenrahmen aus Stahlrohren, hydraulisch gedämpfte Telegabel vorn, Schwinge mit Geradewegfederung hinten, Drahtspeichenräder mit Alufelgen, Reifen vorn 100/90-18, hinten 110/90-18, Doppel-Duplex-Trommelbremse vorn, Simplex-Trommelbremse hinten, Durchmesser 200 mm
Maße und Gewichte: Radstand 1415 mm
Fahrleistung: Höchstgeschwindigkeit zirka 190 km/h
Die Erfolge
Zwischen Mai 1968 und Oktober 1970 bestritt Helmut Dähne mit dem Motorrad dieser Geschichte sechs Zuverlässigkeitsfahrten, vier Berg- und drei Rundstreckenrennen. Dabei errang er sieben erste Plätze, einen zweiten Platz und zwei dritte Plätze. Ein weiterer Sieg wäre bei der Solitude-Zuvi 1968 möglich gewesen. Dähne fuhr auf der BMW R 69 S die schnellste Sonderprüfung, machte aber beim Stempeln einen Fehler und bekam eine Strafminute. Mit einem 500er-Boxer im gleichen Chassis gewann er 1968 sein erstes Bergrennen am Sudelfeld. 1970 gelang ihm mit dieser Kombination eine Serie von drei Siegen bei Bergrennen in Schotten, Rotenburg und am Ellerberg. Kurz darauf fand der Motor eine neue Heimat in einem Prototypenrahmen der R 75-Entwicklung. Die R 69 S fuhr Helmut Dähne zuletzt 2014 in Schotten.