Die Schweiz ist klein. Aber sie ist schön. Nicht nur wegen der Berge und der grandiosen Alpenstraßen. Sie hat auch sonst einiges zu bieten. Zum Beispiel hat sie uns den genialen Tuner und Fahrwerksspezialisten Fritz W. Egli beschert. Schon deshalb gebührt dem kleinen Land Dank. Was haben unsere jugendlichen Ohren einst geglüht, wenn der Name (ehrfurchtsvoll ausgesprochen) fiel. Und wie haben wir die Berichte in den Zeitschriften verschlungen, wenn eine Egli-Kawa oder -Honda getestet und gemessen worden war. Klar, wir träumten fast alle von leistungsstarken Vier- oder gar Sechszylindermotoren in stabilen Fahrwerken. So wie die bereits 1981 präsentierte Egli Target Honda CBX. Stark, schnell und schön zugleich. Und dann, 1983, überraschte uns der Schweizer mit einem Modell, das er erneut mit den Designern vom Ammersee auf die Räder stellte.
Target-Design, 1979 von Hans Georg Kasten gegründet, hatte sich bereits durch die maßgeblich von Mitstreiter Hans A. Muth entworfene Suzuki Katana einen Namen gemacht. Muth verließ die Firma bereits 1980 wieder, seine Handschrift in Sachen Design sollte allerdings nach wie vor unverkennbar durchschimmern. Zwei Jahre nach der CBX betrat nun also mit der Egli Target 600 ein ganz ähnlich aussehendes Bike die Bühne, nur eine Nummer kleiner, mit dem Einzylinder aus der Honda XL 600 R (PD 03). Quasi die Schrumpf-Version der 1000er. Nach dem ehrgeizigen Plan sollen es 200 Exemplare werden. Vor allem in Japan herrscht zu der Zeit eine begeisterte Nachfrage nach allem, was exklusiv ist und aus Europa kommt. Doch es entstehen nur wenige, wohl auch, weil der auf europäische Luxusgüter spezialisierte Handelspartner Osawa wenig später pleitegeht, bevor die Serienfertigung richtig begonnen hat.
Knopfdruck statt Kickstarter
Es folgt dennoch eine weitere Auflage, mittlerweile nicht mehr mit dem PD 03-Motor, der nur per Kickstarter anzuwerfen war, sondern mit dem Eintopf aus der inzwischen zur Reise-Enduro gereiften XL 600 LM (PD 04), nunmehr ab Werk auch per E-Starter zum Leben zu erwecken. Der Stumpf der Kickstarterwelle ragt zwar nach wie vor aus dem Gehäuse, der Hebel selbst passt aber nicht mehr, das Rahmenrohr stört. Doch sollen die zwei Batterien an Bord genügen, um den Single stets verlässlich zu starten. So die Theorie. Nach langer Standzeit, so wie bei dem von MOTORRAD Classic gefahrenen Exemplar der Fall, ist es ratsam, die Batterien frisch zu laden und von Vorteil, die Kniffe zu wissen, die den Kaltstart nicht zum frustrierenden Geduldsspiel ausarten lassen. Besitzer Helmut Knott kennt sein Schätzchen, und natürlich die richtigen Tricks: „Mit der Hand einen Ansaugtrichter etwas zuhalten, den Choke richtig dosieren und kein Gas geben.“
Als wir uns zum vereinbarten Termin treffen, hat die exklusive Schweizerin ihre Morgengymnastik bereits absolviert. Sie ist hellwach, sprich, sie springt auf Knopfdruck spontan an und bollert mit etwas niedrigem, unrunden Leerlauf vor sich hin. Wer angesichts des mattschwarzen Zwei-in-eins-Sportauspuffs Marke Egli/Schüle, so besagen es die Papiere, heillosen Lärm erwartet, wird sogleich beruhigt – oder enttäuscht sein. Kernig bassiges Bollern ertönt hier, doch kein ungebührlicher Krawall. Man darf also weiterhin darauf hoffen, dass die Nachbarn einen grüßen. Hinsehen werden sie auf jeden Fall, wenn die Egli vom Hof rollt, ebenso wie Passanten zumindest einen verwirrten bis neugierigen Blick auf das ungewöhnliche Bike werfen.
Gut ausgebaute Landstraßen sind ihr Revier
Mittlerweile habe ich Platz genommen auf, pardon, in der Egli Target. Angesichts der läppischen 710 Millimeter Sitzhöhe muss man es so nennen, und es fühlt sich auch so an. Doch weil die Lenkerstummel ebenfalls niedrig montiert sind, fällt dies nicht sonderlich auf, wenn man sich zusammenfaltet und diese aufgezwungene Sitzposition einnimmt. Viel Platz zum Variieren bietet sich hier nicht, Fahrer über 1,90 Meter stoßen hinten an den Höcker, während die Knie sich bereits an den Polstern der kleinen Halbschale abstützen. Eng geht es auch beim Rangieren zu, auf üppigen Lenkeinschlag sollte keiner hoffen, der versucht, auf einer normalen Fahrbahn zu wenden. 30 Grad weist das Datenblatt aus, was gefühlt noch übertrieben erscheint. Doch als wendiger Stadtflitzer war die 600er ja auch nie gedacht. Kurvige, am besten gut ausgebaute Landstraßen sind ihr Revier. Hier zeigt sie sich in ihrem Element. Am Ortsende beginnt der eigentliche Spaß mit der schlanken, weißen Exotin – Schluss mit Bummeln. „Nur keine Scheu vor Drehzahlen, der Motor muss sicher mal wieder ein bisschen frei gefahren werden“ hatte Helmut Knott mich noch ermuntert. Na denn.
Unter 3000/min fühlt sich der Vierventiler offensichtlich auch nicht sehr wohl, ruckelt und legt vor allem im letzten Gang nur unter hackendem Protest an Drehzahl zu. Zwischen 3500 und gut 6000 Touren bietet der Eintopf ein genügend breites Band für flotten Vortrieb, mit der leichten Fuhre hat der Motor keine Mühe, und kleine Zwischensprints ziehen die Mundwinkel wie von selbst nach oben. Großartig. Vom Blick auf den Tacho darf man sich allerdings nicht blenden lassen – der eilt wegen der eigentlich für 18-Zoll-Räder gedachten Übersetzung deutlich vor. Anzeige 130 sind lediglich echte 110 km/h, um genau zu sein.

Egal, wo bleiben die Kurven? Enges Geläuf meistert die deutsch-japanisch-schweizerische Koproduktion fast ebenso spielerisch (mit etwas Nachdruck beim Einlenken) wie schnelle, lang gezogene Bögen, die sie derart stoisch und ohne das geringste Zucken oder Rühren absolviert, dass man dem Fahrwerk ohne Weiteres einen 80 PS starken Twin zumuten würde. Hinten pumpt’s zwar leicht und die Egli-Gabel spricht auf kleinste Flicken nicht sehr sensibel an, doch die Maschine rollt ja auch auf etwas überdimensionierten Schlappen, die angesichts des läppischen Gewichts kaum Eigendämpfung bieten. Die wulstigen 16-Zöller wirken auf der filigranen 600er wie zu stark aufgepumpt, der 120er vorn auf der 3.25-Zoll-Felge und der 150er hinten auf einer 4.00-Zoll-Felge sind zweifellos etwas übertrieben.
Noch skurriler wird es, wenn man sich die Freigabe für die Paarung 130er vorn/160er hinten vor Augen führt. Man lebt eben auf großem Fuß, in der Schweiz. Mit den samt Fahrer gerade mal 235 Kilogramm haben die Bremsen wiederum leichtes Spiel: Die Brembo-Einzelscheibe vorn lässt sich sauber dosieren und zeigt linear mit der Handkraft steigende Wirkung – so soll’s sein. So gar nicht sein sollte übrigens zunächst der Wechsel der edlen 600er in Knotts Besitz. Der Vorbesitzer wollte eigentlich seine gesamte Motorrad-Sammlung komplett verkaufen, ohne die Egli Target, die sollte seine Tochter erhalten. Knott war dies recht, er war sowieso nur scharf auf die Benelli 900 Sei und ging auf den Deal schließlich ein. Die besagte Tochter machte sich jedoch nichts aus der Egli, also kam diese doch mit ins Paket. Der neue Besitzer beschloss bald darauf, nur die Benelli und die Egli zu behalten, den Rest veräußerte er wieder.
Das Ende der langen Standzeit
Das war 2005, zu diesem Zeitpunkt hatte die Egli Target bereits sieben Jahre gestanden. Der glückliche neue Eigner machte sich ebenfalls erst Jahre später daran, die 600er zu überholen und sich mit all den Hindernissen bis zur endgültigen Zulassung herumzuplagen. Erst 2011 prangte wieder ein Nummernschild mit TÜV-Stempel an dem raren weißen Bike. Nur knapp 20 Fahrzeuge sind laut Target-Chef Kasten überhaupt gebaut worden, knapp die Hälfte davon ging nach Japan. Neben Knotts Exemplar sind derzeit hierzulande nur drei weitere Fahrzeuge bekannt. Den Wert seiner Rarität vermag der 55-Jährige kaum zu beziffern. Sollte er sie je verkaufen, dann würde er sie weltweit anbieten. Irgendein betuchter, von europäischen Luxusgütern besessener Japaner wäre sicher bereit, jeden Preis zu zahlen. Vielleicht wartet ja einer seit fast 30 Jahren darauf, eine Egli Target 600 zu ergattern. Ich könnte es nach meiner Begegnung mit ihr verstehen.
Technische Daten
Motor: Luftgekühlter Einzylinder-Viertaktmotor, eine obenliegende Nockenwelle, vier Ventile pro Zylinder, Bohrung 100 mm, Hub 75 mm, 589 cm³, Verdichtung 8,5:1, 44 PS bei 6500/min, 51 Nm bei 5500/min, zwei 30er-Mikuni-Vergaser, Ölbadkupplung, Fünfganggetriebe, E-Starter, Kettenantrieb
Fahrwerk: Zentralrohrrahmen, Telegabel vorn, Ø 35 mm, zentrales Federbein hinten (Cantilever-System), Scheibenbremse vorn,
Ø 300 mm, Scheibenbremse hinten, Ø 220 mm, Gewicht vollgetankt 158 kg, Tankinhalt 10,6 Liter, Reifen vorn 120/80 V 16, hinten 150/80 VR 16
Höchstgeschwindigkeit: 170 km/h (Werksangabe)
Preis: (1986): 25.000 Mark
Der Besitzer über seine Egli Target 600
"Meine Egli Target mit Erstzulassung 1989 ist vielleicht das letzte gebaute Exemplar überhaupt. Ich bin vor acht Jahren eher zufällig darauf gestoßen, heute ist sie mir ans Herz gewachsen. Nicht nur, weil sie so selten ist und mit zeitlos begeisterndem Design glänzt, sondern auch, weil sie den Gedanken eines Einzylinder-Sportlers so konsequent umgesetzt hat. Zierlich, leicht, handlich – und heute schon eine Legende."