Fünf-Generationen-Motorradvergleich
Jubiläum: Eine Testmaschine aus jeder 500. Ausgabe

Die MOTORRAD-Redaktion wählte eine Testmaschine aus jeder 500. Ausgabe, machte eine Ausfahrt mit den fünf Maschinen und weiß nun, wie es sich anfühlt, wenn man durch Umsteigen von der einen zur nächsten in eine andere Zeit eintritt.

Jubiläum: Eine Testmaschine aus jeder 500. Ausgabe
Foto: jkuenstle.de

Die 500. Ausgabe von „Das Motorrad“ war Heft 10/1935. Leider enthält sie keinen Fahrbericht und auch keinen Test, beziehungsweise keine „Prüfung“, wie der Sprachgebrauch im Dritten Reich war, der selbst den heute kaum noch als solchen erkennbaren Anglizismus „Test“ zu vermeiden trachtete. Also weiterblättern. In Ausgabe 13/1935 taucht eine Imperia 350 „Wehrsport“ auf. Damals steckten viele Motorradhersteller Prototypen zusammen, mit deren Hilfe sie um Aufträge der Wehrmacht buhlten. Autor Helmut Werner Bönsch servierte dem Hersteller eine Art Gutachten über die Maschine und sorgte für Publizität. Im Gegenzug erhielt „Das Motorrad“ eine Geschichte. Ungefähr so muss damals der Deal gelaufen sein - diesen Anglizismus verwendet der Autor hier mit größtem Vergnügen. Die Imperia verschwand jedoch rasch wieder.

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Heft 15/1935, die Osterausgabe: „Das Motorrad“ prüft die Zündapp K 800. Na bitte, dann nehmen wir doch diese ungewöhnliche Vierzylinder-Boxermaschine aus dem 505. Heft. Doch heute tatsächlich noch eine solche aufzutreiben, war weniger einfach. Wahrscheinlich werden sich auf diesen Artikel Dutzende von K 800-Eignern melden und sich darüber wundern, dass man nicht gleich sie gefragt hat, doch es dauerte Wochen und bis zum letztmöglichen Termin, bis jemand gefunden war, der ein solches Motorrad in fahrbereitem Zustand besitzt, sogar mit originalem Seitenwagen. Nach reiflicher Überlegung war er dazu bereit, den MOTORRAD-Redakteur damit fahren zu lassen. Wolfgang Vollmer heißt der wagemutige Mann.

Bei der 1000. Ausgabe, Heft 25/1954, ergab sich ein ähnliches Problem: Kein Motorrad im Test. Zwei Ausgaben früher war jedoch eine frohe Botschaft auf dem Titel erschienen: „Test (!) DKW RT 175“. Womit die zweite Kandidatin für die Ausfahrt bestimmt und durch die Vermittlung des Balinger Spezialisten für alte DKW, Bernhard Greiner, auch rasch gefunden war. Georg Wilkens stellte uns seine 1954er-RT bereitwillig zur Verfügung.

Mit der Honda XL 250 Motorsport gelang eine Punktlandung. Zum einen wurde die Enduro mit dem ersten Vierventilmotor aus Großserienproduktion genau in der 1500. Ausgabe, Heft 5/1974, getes-tet, zum anderen fand sich ein schönes Exemplar dieses seltenen Typs im Besitz von Rudolf Probst, dem Pressesprecher von BMW Motorrad. Großzügig lieh er sie her, im Wissen, damit auch einer BMW ins Heft zu verhelfen. In der 2000. Ausgabe von MOTORRAD, Heft 11/1993, war nämlich ein Fahrbericht der R 100 R Mystic erschienen, und dieses Sondermodell mit klassischem Zweiventilboxer wurde ebenfalls für den Längsschnitt durch die Motorradgeschichte auserkoren. Beim BMW-Treffen in Garmisch fiel Jürgen Beck mit seiner 1995er-Mystic in die Hände der MOTORRAD-Rekruteure, so stieß ein wertvolles Exemplar aus einer letzten Serie von 300 Motorrädern mit senfgelb-schwarzer Zweifarblackierung, quasi ein Sonder-Sondermodell, zur Gruppe hinzu.

Aus dem Fundus der aktuell im MOTORRAD-Dauertest laufenden Maschinen empfahl sich die Ducati Multistrada 1200 S. Mit hochmoderner Elektronik, enormer Leistung und konsequentem Leichtbau verkörpert sie nahezu perfekt die Technik-Trends der Gegenwart.

Doch die Vergangenheit ist zunächst interessanter. Allein schon der Hebel der H-Schaltung auf dem Getriebe der Zündapp sorgt für Spannung beim MOTORRAD-Redakteur, vom Schaltschema ganz zu schweigen. Rechts hinten liegt der erste Gang, der zweite rechts vorn, der dritte links hinten, der vierte schließlich links vorn. Den Knauf des Schalthebels muss der Fahrer vor dem Schalten zwischen Rahmenprofil und abgespreiztem Knie hindurch ertasten. Meist werden die Gangwechsel von markanten Geräuschen begleitet, sogar beim erfahrenen Besitzer der dreirädrigen Antiquität. Das tröstet den Laien. Und zum Glück verlangt der seidenweich laufende, seitengesteuerte Vierzylinder-Boxer der Zündapp nicht viel Schaltarbeit.

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75 Jahre Entwicklung, gezeigt in fünf Motorrädern.

Vibrationen kamen erst mit den steigenden Verbrennungsdrücken von Hochleistungsmotoren auf; das lehrt dieser Schmeichler von einem Triebwerk sehr eindrucksvoll. 22 PS reißen andererseits auch keine Bäume aus, noch nicht einmal, wenn diese frisch gepflanzt sind. Die vier Zylinder werden von einem einsamen 22er-Vergaser über verwinkelte Kanäle mit Gemisch versorgt, strömungstechnisch eine Katastrophe. Konstrukteur Richard Küchen hat außerdem auf die Kühlung seiner Motoren nicht viel Wert gelegt. Er nahm es in Kauf, dass die hinteren Zylinder des fahrtwindgekühlten Motors bei warmem Wetter eine wahre Gluthitze erdulden müssen. Zusätzlich hat er die ganze Peripherie aus ästhetischen Gründen säuberlich verkapselt - Vergaser, Lichtmaschine, Zündspule, Verteiler. So entstand zwischen den Zylinderblöcken ein wohl aufgeräumter Hitzequader. Man sollte nach dem Anhalten entweder gleich weiterfahren, ehe der Wärmestau zu Dampfblasenbildung im Vergaser führt und den Kupferlack der Zündspulenwicklungen aufweicht, oder warten bis sich die eingebaute Klimakatastrophe normalisiert hat.

Auch in Sachen Bremsen und Fahrwerk könnte der Rücksturz in die Vergangenheit kaum drastischer ausfallen. Hinzu kommt der ganz normale fahrdynamische Wahnsinn, der Motorradgespanne ohnehin umjubelt.

Aus Angst, von der geraden Straße abzukommen, hat der MOTORRAD-Redakteur bei atemberaubenden 55 km/h lange Zeit der Überwindung gebraucht, bevor er die rechte Hand vom Lenker nahm, um den vierten Gang einzulegen - und sich vor Kreuzungen und Kreisverkehren memmenhaft viel Weg zum Zurückschalten und Bremsen gelassen.

Bitte nicht falsch verstehen, K 800 zu fahren macht unbändigen Spaß. Es möge sich nur niemand Illusionen darüber machen. Man tuckert im Mokicktempo durch die Gegend und hat doch alle Hände und Füße voll zu tun, hört, spürt und schnuppert nach allem, was das Motorrad gerade macht. Und nach wenigen Kilometern hat man das Gefühl, körperlich richtig etwas geleistet zu haben.

Weniger stark ausgeprägt, doch in ähnlicher Form geschieht das auch auf der DKW. Wenigstens lassen sich die Gänge mit leichten Tupfern auf den Schalthebel wechseln, leichter sogar als bei vielen modernen Motorrädern. Das ist auch gut so, denn mit 9,5 PS gilt es, in jeder anhaltenden Steigung oder bei Gegenwind zurückzuschalten. 90 km/h auf dem Tacho entsprechen ziemlich genau der Höchstgeschwindigkeit, und dabei behält der DKW-Fahrer gerne die Hände am Lenker, weil die RT eigene Vorstellungen zum Thema Linienwahl entwickelt.

Im Testbericht von 1954 beschäftigte sich der Autor Heinz Hahmeyer im Kapitel Fahrwerk hauptsächlich mit der einstellbaren Sattelfederung, welcher er großen Einfluss auf Komfort und Fahrstabilität zuschrieb. Die Sattelfederung war auf Besitzer Georg Wilkens Federgewicht justiert und ging beim MOTORRAD-Fahrer schon im Stand auf Block. Man hätte sie korrekt einstellen sollen …

Nach heutigen Maßstäben würde niemand die Halbnaben-Vorderradbremse der Honda XL 250 Motorsport als sehr gut bezeichnen, doch im Vergleich zur Zündapp und zur DKW ist sie eine Offenbarung. Die Oldies sind auf gleichmäßiges Fahren ausgelegt, und das betrifft nicht nur die Bremsen, sondern auch die Motorcharakteristik. Große Schwungmassen lassen sowohl den Vierzylinder-Viertakt-Boxer als auch den Einzylinder-Zweitakter gemächlich hochdrehen und die jeweilige Drehzahl vergleichsweise lange halten. Fast wie Stationärmotoren scheinen sie stets auf einem Drehzahlniveau zu laufen und werden durch die Getriebeübersetzungen auf verschiedene Geschwindigkeiten gebracht.

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Zündapp K 800 Gespann, DKW RT 175, Honda XL 250 Motorsport, BMW R 100 R Mystic und Ducati Multistrada 1200 S im Generationenvergleich.

Die Dynamik des Motorradfahrens, die wir gewohnt sind, das rasche Hochdrehen der Motoren, bringt erst die Honda von 1973 (ein Import aus den USA und deshalb älter als „deutsche“ XL) in die Gruppe der Zeitreisemaschinen Das mag bei einer Leistung von 20 SAE-PS und den schon erwähnten Halbnabenbremsen merkwürdig klingen.

Der flinke Feger ist aber tatsächlich viel schneller schnell und auch wieder langsam als seine Altvorderen. Wer den Vierventil-Einzylinder in der Phase des Warmlaufens vorsichtig behandelt und früh hochschaltet, erkennt sein Temperament noch nicht. Doch zwischen 5000/min und 8000/min, wo der rote Bereich beginnt, blüht er richtig auf. Allerdings vibriert er mit steigender Drehzahl auch kräftig; bei Überlandfahrt lautet die Frage, welche Vibrationsdosis man sich und dem Motorrad auf Dauer zumuten möchte.

Das Fahrwerk der kleinen XL, mit Wilbers-Federn in der Gabel zielsicher verbessert, zeigt ebenfalls, dass die Moderne zwischen 1954 und den frühen 70er-Jahren begonnen hat. Denn Bodenwellen und die Reaktionen der Federung darauf haben hier wirklich etwas miteinander zu tun. Trotz der gut ansprechenden Parallelogrammgabel der K 800 ist dies bei den älteren Maschinen nur bedingt der Fall. Da federt es wegen des Seitenwagens, wegen Verwindungen und Reibung vorn und hinten halt irgendwie vor sich hin. Und sei es, wie bei der Zündapp mit ihrem Starrrahmen, nur der Hinterreifen.

Die BMW R 100 R Mystic wurde bei ihrem Erscheinen 1993 schon als Neoklassiker angesprochen. Das stimmt; sie ist eines der letzten Motorräder einer Entwicklungslinie, die mit der BMW R 75/5 von 1969 begann. Trotzdem wirkt das Fahrwerk der Mystic modern. Obgleich die Gabel etwas rumpelig anspricht, arbeitet die Federung vorn wie hinten komfortabel und ist trotzdem genügend straff gedämpft. Auf neuen Bridgestone BT 45 sind Handlichkeit und Zielgenauigkeit ein Gedicht, und die Doppelscheibenbremse vorn erweist sich als bissig.

Der gute alte Zweiventilboxer entfaltet einen schwer beschreibbaren Charme. Sein gleichmäßiger, kerniger Auspuffton, das Ventiltickern, der Wechsel zwischen Laufruhe und Vibrationen beim Durchlaufen des Drehzahlbands sowie ein beachtliches Temperament wirken harmonisch zusammen. Andererseits zeigen die sich selbst verstellenden Einstellschrauben für das Leerlaufluftgemisch oder das im halbwarmen Zustand mitunter zur Orgelei ausartende Startverhalten des Boxers die Grenzen der Vergasertechnik schonungslos auf.

An diesem Punkt demonstriert die Ducati Multistrada, was zeitgemäße Elektronik vermag. Wenn sie schwer anspringt, liegt das höchstens an zu geringer Batteriespannung, denn die Gemischaufbereitung selbst ist stets perfekt, wie kalt oder halb gar der Motor auch sein mag. Selbst im Vergleich zur zweitjüngsten Maschine wirkt das Fahrwerk präzise wie ein Skalpell, die Bremsen, akkurat vom ABS kontrolliert, arbeiten bei kräftigem Zug am Hebel gnadenlos effizient, und ihre knapp 150 PS können sich in einer Weise entfalten, die unseren motorradfahrenden Großvätern wohl wie ein Ritt auf einer Kanonenkugel vorgekommen wäre. Es ginge aber auch ganz sanft und kontrollierbar. Davon jedoch wollten sich weder K 800-Fahrer Vollmer noch RT 175-Besitzer Wilkens überzeugen lassen, welche beide die Ausfahrt begleiteten. Das Angebot einer Probefahrt lehnten sie dankend ab, sie würden lieber in ihrer Welt bleiben.

Dabei ist es doch dieselbe Welt, nur jeweils zu einem anderen Zeitpunkt erfasst. Und von Zeitpunkt zu Zeitpunkt untrennbar mit dem Heute verbunden.

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Zündapp K 800 Gespann.

Zündapp K 800

Daten
Vierzylinder-Boxermotor, seitengesteuert, 791 cm³, 22 PS bei 4000/min, Doppelschleifen-Blechpressrahmen, Viergang-Kettengetriebe, Kardanantrieb, Parallelogrammgabel, hinten Starrachse, Simplex-Trommelbremse vorn und hinten, Tankinhalt zwölf Liter, Gewicht vollgetankt ca. 199 kg (ohne Seitenwagen). Preis 1935: k. A.

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DKW RT 175: Voll verkapselt ist bei der RT der Bereich unter dem Fahrersattel - Konstrukteur Küchen wirkte auch für DKW.

DKW RT 175

Daten
Einzylinder-Zweitaktmotor, 174 cm³, 9,5 PS bei 5000/min, 13,7 Nm bei 3600/min, Doppelschleifen-Stahlrohrrahmen, Vierganggetriebe, Kettenantrieb, Telegabel, Geradewegfederung, Simplex-Trommelbremse vorn, Ø 150 mm, Halbnaben-Trommelbremse hinten, Ø 150 mm, Tankinhalt 13 Liter, Gewicht vollgetankt 117 kg. Preis 1954: 1475 DM.

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Honda XL 250 Motorsport: Scheinwerfer, Blinker und Rücklicht der Motorsport ließen sich für ernstes Gelände leicht entfernen.

Honda XL 250 Motorsport

Daten
Einzylindermotor, 248 cm³, 20 SAE-PS bei 8000/min, 19 Nm bei 6500/min, Einschleifen-Stahlrohrrahmen, Fünfganggetriebe, Kettenantrieb, Telegabel, Federbeine, Halbnaben-Trommelbremse vorn und hinten, Ø 120 mm, Tankinhalt zwölf Liter, Gewicht vollgetankt 135 kg, Preis 1974: 3538 DM.

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BMW R 100 R Mystic.

BMW R 100 R Mystic

Daten
Zweizylinder-Boxermotor, 980 cm³, 44 kW (60 PS) bei 6500/min, 76 Nm bei 3750/min, Doppelschleifen-Stahlrohrrahmen, Fünfganggetriebe, Kardanantrieb, Telegabel, Federbein, Doppelscheibenbremse vorn, Ø 285 mm, Trommelbremse hinten, Ø 200 mm, Tankinhalt 24 Liter, Gewicht vollgetankt 228 kg, Preis 1993: 17950 DM.

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Ducati Multistrada 1200 S.

Ducati Multistrada 1200 S

Daten
Zweizylinder-V-Motor, Hubraum 1198 cm³, 109 kW (148 PS) bei 9250/min, 134 Nm bei 8000/min, Stahl-Gitterrohrrahmen, Sechsganggetriebe, Kettenantrieb, Upside-down-Gabel, Federbein, Doppelscheibenbremse vorn, Ø 320 mm, Scheibenbremse hinten, Ø 260 mm, Tankinhalt 20 Liter, Gewicht vollgetankt 212 kg, Preis 2012: 18250 Euro.

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023