Kultbike Aprilia Moto 6.5
Stadtverkehr und Stadtflucht

Mit ungewöhnlichen Lösungen und erfrischendem Mut erkundete Aprilia in den 90er-Jahren jede erdenkliche Marktnische. Zum Thema Großstadtverkehr hatten die Italiener mit der Aprilia Moto 6.5 eine besonders starke Idee.

Stadtverkehr und Stadtflucht
Foto: Hartmann

Den Aufstieg zur ernsthaften Motorradmarke verdankt Aprilia Erfolgen im Offroad-Sport sowie dem Ausweiden dieser Erfolge durch jugendfrische 50er und 125er. Kein Wunder also, dass die ersten „großen“ Maschinen, die in Noale vom Band liefen, Enduros waren. Sie bedienten sich der robusten, aber etwas rüpelhaften luftgekühlten 350er- und 600er-Einzylinder von Rotax, mehrten aber dank guter Fertigungsqualität den Ruhm der Marke.

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Noch viel mehr tat dies ab 1992 die Aprilia Pegaso 650 mit neu entwickeltem und ebenfalls bei Rotax produziertem, wassergekühltem Fünfventil-Single. Eine ganze Zeit zählte dieser sehr leistungsstarke und robuste Motor zu den besten seiner Art, und deshalb keimte beim charismatischen Firmenboss Ivano Beggio der Wunsch, ihn auch anderweitig einzusetzen. Da traf es sich gut, dass „il presidente“ 1993 anlässlich einer Preisverleihung den motorradbegeisterten Stardesigner Philippe Starck kennenlernte.

Aprilia Moto 6.5 will auf keinen Fall Enduro sein

Der Franzose entwarf mit leichter Hand ein Kraftrad zum Verlieben. Oder zum Hassen. Fließende Linien vom Scheinwerfer bis zum Rücklicht, harmonische Übergänge zwischen allen Komponenten, merkwürdig matt schimmernde Lackflächen, selbst das rechts hinterm Zylinder untergebrachte Werkzeugfach geriet zum farblich und formal stimmig gestalteten Objekt. Die beiden Rahmenunterzüge umkurven in kühnem Schwung den gegenüber der Enduro leicht modifizierten Motor, links und rechts der hübschen Ovalrohrschwinge mit ihren praktischen Exzenter-Achsaufnahmen münden zwei dünne Auspuffrohre ins Freie. Der Lärm, den sie ver­sprechen, bleibt jedoch in einem geräumigen, unter Triebwerk und Rahmen geschmiegten Vorschalldämpfer stecken. Selbstredend verhindert dieses Arrangement die Montage eines Hauptständers, aber das ist Programm: Das Aprilia Moto 6.5 genannte und im Dezember 1994 in Bologna präsentierte Designstück widersetzt sich nämlich konsequent allen bis dahin bekannten Nutzungsmustern.

Trotz aufrechter Sitzposition und breiten Lenkers will die Aprilia Moto 6.5 auf keinen Fall Enduro sein. Sportler sowieso nicht, aber auch Allrounder lehnt sie mangels ausreichender Soziustauglichkeit ab. Genussmittel trifft es vielleicht am ehesten, wenngleich die schmal bereifte und wendige Aprilia sich auftragsgemäß besonders unter gestressten Großstädtern einiger Beliebtheit erfreut.

Sowohl für Stadtverkehr als auch Stadtflucht taugt die pragmatische, aber nicht kraftlose Charakteristik des von 48 auf 42 PS gedrosselten und recht trinkfreudigen Einzylinders, der sein Gemisch nicht mehr über zwei leistungs­orientierte 33er-, sondern über einen einzigen 40er-Gleichdruckvergaser von Mikuni bezieht. Er kommt super aus dem Keller, und natürlich schiebt er die Aprilia Moto 6.5 locker auf Geschwindigkeiten oberhalb 120 km/h, bei denen ihr Fahrwerk leise pendelt. Oder bei denen auf schlechten Straßen die billigen Federelemente schwächeln. Aber so etwas ist natürlich unwichtig bei einem Kultobjekt, das sogar schon mal im Guggenheim-Museum in New York ausgestellt war. Auch Monsieur Starck höchstselbst steigert die Wertschätzung: Vor wenigen Jahren bekannte er in einem Interview der „Zeit“, dass alles, was er je geschaffen habe, absolut unnötig sei.

Szene

Nicht zuletzt im MOTORRAD-Dauertest einer Pegaso 650 hat Aprilias Fünfventiler seine Robustheit bewiesen, auch dessen Performance stand selten infrage. In der Aprilia Moto 6.5 drückt er schon bei 3500/min an die 50 Nm – nicht schlecht für einen Single und bestens geeignet für den „new metropolitan biker“. So benannte Aprilia 1995 die Zielgruppe für sein nagelneues Designstück, um dessen Produktion bereits 1996 mangels Zielgruppe wieder auslaufen zu lassen. Doch die europaweite Erfolglosigkeit erhöht natürlich heute den Reiz für Sammler und Fans, weshalb ordentliche 6.5 gut und gerne 2000 bis 3000 Euro kosten. Interessenten sollten vor allem darauf achten, dass Plastikteile und Auspuffanlage intakt sind.

Literatur

Nachdem die Aprilia Moto 6.5 sich sowieso eher den Schöngeistern empfiehlt, mag ein Buch über ihren Designer von Interesse sein: Cooper/Doze: „Starck“, Taschen-Verlag, 9,99 Euro. Technische Literatur gibt es nicht.

Internet

Echte Liebe spricht aus der hingebungsvollen Arbeit von Peter Grabo, der auf seiner privaten Website (www.grabo.de) alles liefert, was Moto-Fans suchen. Inklusive Links zu einem genial aufbereiteten Handbuch sowie einem aktiven Forum.

MOTORRAD Classic

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Technische Daten Aprilia Moto 6.5

wassergekühlter Einzylinder-Viertaktmotor, 650 cm³, 31 kW (42 PS) bei 6250/min, 51 Nm bei 4500/min, Fünfganggetriebe, Einschleifenrahmen aus Stahlrohr mit doppelten Unterzügen, Gewicht vollgetankt 181 kg, Reifen vorn 100/90 x 18, hinten 130/90 x 17, Tank­inhalt 16 Liter, Höchstgeschwindigkeit 158 km/h, 0–100 km/h in 6,1 sek.

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