Den Nachdruck des Einzeltests der Moto Guzzi 850 Le Mans aus MOTORRAD Ausgabe 24/1976 können Sie als Bild in der Bildergalerie sehen oder in besserer Qualität als PDF herunterladen (siehe E-Kiosk oben).
Die Moto Guzzi 850 Le Mans aus heutiger Sicht

Mit dem klangvollen Namen behaftet, der für Rennsport-Tradition steht, musste sich die sportliche 850er zum Kultbike entwickeln.
Hubraum war auch bei Moto Guzzi durch nichts zu ersetzen – außer durch noch mehr Hubraum. Die als Vorläuferin der Ur-Le Mans geltende, „nackte“ 750 S3 hatte bereits viel vom sportlichen Charakter zu bieten, den Liebhaber bei den Le Mans-Modellen schätzen.

Doch erst mit dem Quäntchen mehr an Hubraum kam auch das mehr an Bums, mit dem sportlichen Styling und der roten Lackierung das passende Flair und mit dem Namen Le Mans die Prise Mythos, die es braucht, um zur Legende zu werden. Die Le Mans I hat es heute geschafft, zur Begehrtesten der Baureihe zu werden und selbst die guten Nachfolgerinnen und gar die 1000er-Versionen in den Schatten zu stellen. Die erste Le Mans ist die kultigste – wer je eine hatte, bereut heute, sie damals verkauft zu haben.
Meinung Michael Pfeiffer

„Die Le Mans I war für mich der Inbegriff der italienischen Sportmaschine, und dazu noch mit Kardan“
Ganz ehrlich: Ich ärgere mich heute noch, dass ich meine Le Mans I hergegeben habe. Es war eine aus der ersten Serie, mit der Rahmennummer 632 am Ende, die ich sofort zurückkaufen würde! Zu spät! Sie ist weg und hinterließ eine schmerzliche Lücke in meiner Garage. Bis heute habe ich mir keine Moto Guzzi mehr gekauft, vielleicht, um die alte Dame so wie sie war für immer in Ehren zu halten. Ob ich übertreibe? Klar. Aus heutiger Sicht ist diese schmal wie ein Einbaum wirkende, nicht ganz einfach zu fahrende und recht unbequeme Maschine total out. Wer will sich schon rechts eine Sehnenscheidenentzündung holen, weil die beiden Dellorto-Vergaser grausam harte Federn haben. Und dasselbe in der linken Hand, weil die Trockenkupplung ganz schön Widerstand leistet.
Wer will sich heute noch an das Integralbremssystem gewöhnen, das hauptsächlich per Fußhebel betätigt wird und nur in Notfällen noch die Handbremse nutzt? Wer kann heute noch mit einer acht Kilogramm schweren Schwungscheibe umgehen, die jeden Gangwechsel zur komplizierten Angelegenheit zwischen Schaltschlag und Tritt in den Hintern macht? Und wer will diesen vergleichsweise asthmatischen V2 bei Laune halten, der mit schätzungsweise 63 PS mühsam Vortrieb erzeugt, dafür aber den Knien im Weg steht?
Bremsen? Eher sanft per Pedal
Ich! Ja, ich würde all das so gerne wieder auf mich nehmen. Unnachahmlich das Gefühl, wenn man die anspruchsvolle Bedienung verinnerlicht hat. Wenn einem die Guzzi mit ihren Eigenheiten in Fleisch und Blut übergegangen ist. Gänge vor der Kurve sortieren, mit Zug bei mittleren Drehzahlen durchhämmern, dabei die schmalen Lenkerstummel packen wie die Hörner eines Stiers – geil. Bremsen? Eher sanft per Pedal, die Guzzi laufen lassen. Dem Wummern aus den Lafranconis lauschen, das harte Ansauggeräusch aus den offenen Vergasern genießen und die zappelnden Veglia-Zeiger weitgehend ignorieren. Nase in den Wind, Knie an den Tank, Fahren wie in den 70ern.
Vier Jahre war die Guzzi meine treue Begleiterin, hatte fast 70 000 Kilometer auf der Uhr, ging nie kaputt. Okay, einmal blieb sie stehen wegen einer blockierenden Bremszange. Gutes Öl ist wichtig, die Vergaser- und Zündungseinstellung auch. An die Ventile kommt man gut ran, der Kardan spart viel Arbeit. Mit modernen Reifen fährt sie um Klassen handlicher und auch stabiler. Da staunt man. Und sie war immer schon mindestens so schnell wie die besten Königswellen-Ducatis oder die BMW R 90 S.
Das Tollste an ihr war für mich aber der Anblick. So schlank kann ein Motorrad gebaut sein, so perfekt ein Rahmen gebogen werden, so schön ein Motor verrippt sein. Für mich die schönste Guzzi aller Zeiten!