Rennmaschine Gilera 500 Replika
Verdammt schwierig und fürchterlich teuer

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Giampiero Sacchi machte Rossi und Lorenzo zu Grand Prix-Piloten, führte außerdem Marco Simoncelli zum 250er-Weltmeister-Titel. Sein Lebenstraum war jedoch immer ein Neuaufbau der legendären Gilera-Vierzylinder-Rennmaschine, mit der Libero Liberati 1957 die 500er-WM gewann. Jetzt hat er sich seinen großen Traum erfüllt.

Verdammt schwierig und fürchterlich teuer
Foto: Oxley

Gilera 500 Replika

Giampiero Sacchi war sechs Jahre alt, als Libero Liberati im März 1962 mit seinem Motorrad bei einem Unfall auf einer italienischen Landstraße starb. Dennoch ist die Erinnerung an Liberatis Beerdigung noch so frisch, als wäre sie erst gestern gewesen. Fast alle Einwohner von Terni nahmen daran teil, um ihrem Rennfahrer-Idol Lebewohl zu sagen. „Liberati war ein besonderer Mensch, weil er nie abgehoben hat, sondern immer ein bodenständiger Typ war, ein einfacher Fabrikarbeiter, der sich nur seinen Traum erfüllt hat“, spricht Sacchi voller Bewunderung. „Deswegen haben sie ihn in Terni so verehrt.“

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Liberatis Loyalität zu Gilera unerschütterlich

Fünf Jahre zuvor hatte Liberati den Weltmeister-Titel bei den 500ern gewonnen. Den letzten für Gilera, denn Ende jener Saison verkündeten die finanziell schwer gebeutelten Italiener ihren Rückzug vom Grand Prix-Sport. Domenico Agusta versuchte daraufhin, Liberati mit einem Gehalts-Blankoscheck zu überzeugen, künftig für ihn zu fahren. Doch Liberati betrachtete das Ansinnen des Conte nicht als Chance, sondern als Versuch, seine Loyalität zu Gilera zu erschüttern. Und erteilte dem verlockenden Angebot eine brüske Absage. Er warte lieber auf den Tag, an dem sein Arbeitgeber wieder bei der Weltmeisterschaft an den Start geht, fertigte er den Conte ab.

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Ein Gedenkstein erinnert an den verunglückten Helden, der in seiner Heimatstadt sehr verehrt wurde.

Als Gilera dann tatsächlich ankündigte, an der WM-Saison 1962 teilzunehmen, fuhr Liberati an einem regnerischen Tag hinaus aus der Stadt, um seine Reflexe für solch rutschige Bedingungen zu trainieren. Auf einer kurvigen Gefällstrecke außerhalb Ternis verlor er jedoch die Kontrolle über seine Maschine und prallte in eine Felswand, wobei er tödliche Verletzungen erlitt. Ein Gedenkstein erinnert an dieser Stelle an den Helden, der in seiner Heimatstadt so sehr verehrt wurde, wie es in der Geschichte des Rennsports nur wenigen Piloten vergönnt war.

„Liberati war für viele Jahre das Aushängeschild unserer Stadt“, sagt Sacchi. “Im Zweiten Weltkrieg wurde Terni komplett zerstört. Wie man sich vorstellen kann, hatten die Leute in den Jahren danach andere Sorgen als Rennsport. Doch Liberati gab jedem von ihnen die Hoffnung, sich den Traum von einem besseren Leben irgendwann einmal erfüllen zu können.“ Terni lebte – und lebt noch immer – von seiner Stahlindustrie, weshalb die rund 100 Kilometer nördlich von Rom gelegene Stadt auch als das „Italienische Manchester“ bezeichnet wird. Kein Wunder, dass die Stadt mit all ihren Waffenschmieden im Krieg von über 100 Bomberangriffen so schwer getroffen wurde.

Von sechs Grand Prix 1957 gewann Liberati vier

Liberati selbst war noch ein paar Monate zu jung, um als Soldat aufs Schlachtfeld zu ziehen. In den Nachkriegsjahren arbeitete er, wie fast alle in Terni, am Wiederaufbau der Stahlindustrie. Ende der 1940er-Jahre startete er bei lokalen Motorradrennen. Dabei beeindruckte er seine Arbeitskollegen so sehr mit seinem Mut und seiner Schnelligkeit, dass sie einige Monate lang einen Teil ihres nicht gerade üppigen Gehalts sammelten und in einen Topf warfen, um ihm eine Moto Guzzi Dondolino 500 zu kaufen. Da war der wagemutige Racer bereits Giuseppe Gilera aufgefallen, dessen bahnbrechende dohc-Vierzylinder die 500er-Weltmeisterschaft in den 1950er-Jahren beherrschen sollten. Er holte Liberati ins Werk, wo er in erster Linie den fast zeitgleich zu Gilera gestoßenen, dreifachen 500er-Weltmeister Geoff Duke unterstützen sollte.

Liberatis große Chance kam aber erst 1957, als sich Duke in Imola verletzte und längere Zeit ausfiel. Er ließ sich diese Gelegenheit nicht entgehen: Von den sechs Grand Prix jenes Jahres gewann er vier – in Hockenheim, Spa, Dundrod und Monza – und holte den 500er-WM-Titel für Gilera, vor seinem Teamkollegen Bob McIntyre, der als Ersatz für Duke dafür bei der Senior-TT siegte. Die 70 PS leistende Vierzylinder-Gilera mit ihren halbkugelförmigen Brennräumen und zentral positionierten Zündkerzen war auch 1957 weiterhin das bessere Motorrad im Vergleich zum MV Agusta-Vierer, der sich im Jahr davor nur deshalb  mit dem Weltmeister-Titel schmücken konnte, weil Geoff Duke mehrere Monate gesperrt wurde, nachdem er bei der 1955er-Dutch-TT einen Pilotenstreik angezettelt hatte. Doch im Vergleich zu MV Agusta hatte Gilera bei der Motorenentwicklung immer die Nase vorn, außerdem mit Duke und Liberati zwei Piloten, die mit dem unberechenbaren Handling der 500er zurecht kamen.

Liberatis Titelgewinn fiel außerdem zusammen mit dem Ende der überbordenden Verkleidungen, die nach der Saison 1957 aus Sicherheitsgründen verboten wurden. Wie alle Werksteams hatte auch Gilera bis dahin immer einen Karosseriebauer an der Rennstrecke, der von Hand die spröden Verkleidungen aus einer Alu-Magnesiumlegierung entsprechend den aerodynamischen Wünschen anpassen konnte.

Doch nur wenige Wochen nach dem begeisterten Empfang von Liberati in seiner Heimatstadt schockierte eine gemeinsame Erklärung von Gilera, Moto Guzzi, FB Mondial und MV Agusta die Rennsportfans: Die vier wirtschaftlich angeschlagenen italienischen Werksteams verkündeten darin ihren sofortigen Ausstieg aus dem Grand Prix-Zirkus. Neue preiswerte Kleinwagen ließen die Motorradzulassungen immer weiter schrumpfen, während gleichzeitig die Sorgen der Werke wegen der Sicherheit immer größer wurden: In den vorangegangenen sechs Jahren waren bei Weltmeisterschafts-Rennen 19 Fahrer tödlich verunglückt.

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Auf dem Weg zum Sieg: Libero Liberati auf der Vierzylinder-Gilera beim Straßenrennen von Cervara.

Ein paar Wochen nach dieser gemeinsamen Erklärung machte der Conte Agusta allerdings einen Rückzieher – im Gegensatz zu den anderen Motorrad-Herstellern konnte MV die Verluste wegen der sinkenden Zweirad-Verkäufe mit den Gewinnen des Hubschraubergeschäfts ausgleichen. Dank dieses finanziellen Rückhalts schaffte es MV, die 500er-Weltmeisterschaft in den folgenden 17 Jahren zu dominieren. Liberati dagegen gewann nach seiner entschiedenen Ablehnung des fürstlichen Angebots von Conte Agusta keinen einzigen Grand Prix mehr. Stattdessen musste er mit einer Gilera Saturno 500 vorlieb nehmen, die er bei nicht zur Weltmeisterschaft zählenden Rennen einsetzte, immer auf eine Grand Prix-Rückkehr von Gilera hoffend.

Sacchi ebnete Rossi den Weg in den GP-Zirkus

Dennoch gehören Liberati und Gilera zu den großen Leidenschaften von Giampiero Sacchi, der zwei Lebensträume hatte: Der eine war, die historische Marke wieder zu Weltmeister-Titeln zu führen, was nahezu unmöglich erschien. Der andere war der Nachbau von Liberatis 1957er-Weltmeister-Maschine. Letzterer war zwar nicht unmöglich, würde aber verdammt schwierig und fürchterlich teuer werden.

Tatsächlich hat es Sacchi geschafft, beide Träume wahr werden zu lassen. Nachdem er 1996 Valentino Rossi den Weg in den Grand Prix-Zirkus ebnete und im Jahr darauf zum 125er-Weltmeister-Titel führte, übernahm er die Leitung des Derbi GP-Teams. Als die spanische Marke 2001 von Piaggio gekauft wurde, erkannte er die Möglichkeit, seinen ersten Lebenstraum zu erfüllen. Da Piaggio bereits Gilera besaß, wurde Manuel Poggialis 125er-Derbi in Gilera umbenannt. Und so gewann mit dem Piloten aus San Marino schließlich eine Gilera nach mehr als als vier Jahrzehnten wieder einen Weltmeister-Titel. Einige Jahre später wiederholte Sacchi diesen „Etikettenschwindel“ mit Marco Simoncellis Aprilia, der so 2008 seinen 250er-WM-Titel auf einer Gilera einfuhr.

Pirro Loreti für Motor und Aufbau

In dieser Zeit begann Sacchi mit der Realisierung seines zweiten Traumes. Bereits 2006 hatte ihm Gilera Einsicht in die originalen Konstruktionszeichnungen des 1957er-Vierzylinders gewährt. Er engagierte Pirro Loreti, Liberatis treuen Rennmechaniker, für die Nachfertigung des Motors und den Aufbau der Replika. Remo Venturi, ein ehemaliger MV- und Gilera-Pilot, der 1966 den letzten Sieg eines Gilera-Vierzylinders in der Italienischen Meisterschaft errungen hatte, spielte ebenfalls eine Rolle beim Neuaufbau. Damals, als Venturi für MV fuhr und Liberati für Gilera, teilten sich die beiden während der Rennwochenenden oft ein Hotelzimmer. „Was heute undenkbar wäre, war bei diesen Gentleman-Piloten tatsächlich Normalität“, schmunzelt Sacchi.

Das Besondere an seiner Gilera-Replika ist die Tatsache, dass es die erste ist, die bis aufs Hundertstel exakt nach den originalen Konstruktionsplänen des Werks erschaffen wurde. Die verschiedenen Repliken, die in England bei Meccanica Verghera gebaut wurden, sind dagegen Kopien einer Sammler-Maschine. Sacchi weiß, dass er dieses Projekt ohne die zahlreichen Unterstützer, ohne die Genehmigung von Gilera und ohne die Hilfe von Pirro und Remo nie hätte auf die Räder stellen können. „Von jedem, den wir gefragt hatten, erhielten wir jedoch ein begeistertes Ja“, freut sich der gerührte Initiator noch heute.

Doch Sacchi ist sehr zurückhaltend, wenn es um die Namen der anderen Schlüsselfiguren geht. Sicher ist, dass ihm viele Freunde und Geschäftspartner aus der italienischen Motorsport-Industrie einen Gefallen taten. Nicht verraten will er beispielsweise, wer das im Sandgussverfahren hergestellte Magnesium-Motorgehäuse und die Innereien des Motors beigesteuert hat. Man kann ihm nur entlocken, dass diese Teile nicht bei Gilera hergestellt wurden. Dann murmelt er noch etwas von Modena und rät dabei, ein wenig die Fantasie spielen zu lassen. Auch über den Preis der Replika hüllt er den Mantel des Schweigens. „Na ja, allein das Nachfertigen der Dellorto-Vergaser hat 12000 Euro gekostet. Aber sag das bitte nicht meiner Frau...“, lässt er schließlich lächelnd durchblicken.

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Stolz auf ihr Werk: Sacchi mit Liberatis ehemaligem Mechaniker Pirro Loreti (links) und dem früheren MV- und Gilera-Fahrer Remo Venturi (r.).

Sacchi ließ nur zwei Exemplare von der Vierzylinder-Gilera bauen – eines für sich selbst, das andere für Remo Venturi, den vor Lebensfreude sprudelnden Achtzigjährigen, der noch heute im Ferrari flott unterwegs ist. Es sind zwei absolut präzise gefertigte Repliken, die bis ins kleinste Detail dem Original entsprechen. Mit einer Ausnahme: Beide verzichten auf die massige, kuppelartige Vollverkleidung, weil Sacchi diese prachtvolle Skulptur von Motor unter keinen Umständen verstecken wollte. Auch die normalerweise in Sacchis Büro stehende Maschine selbst wird nicht versteckt, sie ist immer wieder bei Klassikveranstaltungen in Italien zu bewundern.

Geschichte des Gilera-Motors

Der Gilera-Vierzylinder war natürlich nicht der erste Motorrad-Vierzylinder. In den frühen Jahren setzten viele Hersteller, etwa Pierce und Henderson in den USA, Garabello in Italien oder FN in Belgien, auf den laufruhigen Antrieb. Doch hier wie dort war der Motor längs eingebaut, brachte vom langen Radstand bis zur Überhitzung des hinteren Zylinders allerlei Probleme mit sich. Während der 1920er-Jahre drehten die italienischen Ingenieure Piero Remor und Carlo Gianini die Zylinder dann um 90 Grad.

Wassergekühlter Kompressormotor verblies alles

Dieser Anordnung war aber nicht sofort Erfolg beschieden. Nach diversen Änderungen entstand daraus eine Rekordmaschine, deren Potenzial Giuseppe Gilera überzeugte – er kaufte 1936 dieses Rekord-Projekt, das mit seinem wassergekühlten Kompressormotor damals alles verblies. Mit 274 km/h pulverisierte Piero Taruffi 1937 die  Geschwindigkeits-Weltrekorde von BMW und Brough Superior bei den 500er- und 1000er-Motorrädern.

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Ein Motor als Skulptur: Gileras unverwechselbarer Vierzylinder ist mit seinem symmetrischen Aufbau und den geschwungenen Linien ein Augenschmaus.

Zwei Jahre später schlug Dorino Serafini mit der Gilera in der Europäischen Straßenmeisterschaft den Titelfavoriten Georg Meier auf seiner Kompressor-BMW.  Als der Weltverband FIM nach dem Krieg aufgeladene Motoren verbot, baute Remor einen luftgekühlten 500er-Vierzylinder, der sich als der stärkste in der ersten WM-Saison 1949  erweisen sollte.Dennoch hatte Gilera große Mühe, die Norton-Einzylinder auszustechen. Die Manx hatte zwar rund 25 Prozent weniger Leistung, brachte diese mit ihrem Doppelschleifenrahmen und hydraulischen Federelementen aber problemlos auf die Straße, während sich die Gilera-Piloten mehr schlecht als recht mit ihren veralteten Fahrwerken abmühten.

Remor lief zu MV Agusta über

Zu der Zeit hatte sich Remor mit seinem Chef überworfen und lief zu MV Agusta über, wo er „seinen“ Vierzylinder kopierte. Bei Gilera kamen so dessen ehemalige Assistenten zum Zug, die als Erstes die Reibungsdämpfer auf den Müll warfen und das Chassis dramatisch verbesserten. Dann kitzelten sie immer mehr Leistung aus dem Motor. Frühe Versionen mit zwei Vergasern leisteten 52 PS. Doch diese brillante Grundkonstruktion hatte großes Potenzial. Viele Detailverbesserungen und der Umstieg auf vier Vergaser brachten 1957, in Liberatis Erfolgsjahr, schließlich 70 PS – eine Steigerung von fast 40 Prozent! Weil Remor bei MV nichts unversucht ließ, um seine ehemaligen Mitarbeiter zu schlagen, ging Gilera für 1958 in die Vollen: Mit Vierventil Zylinderköpfen und 35er-Fallstromvergasern soll die Höchstleistung auf über  90 PS bei 10.500/min gebracht worden sein. Den Nachweis blieben die Italiener wegen des Ausstiegs aus dem Grand Prix-Sport allerdings bis heute schuldig

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Erscheinungsdatum 01.09.2023