Moto Morini 6 1/2 STR und SCR im Fahrbericht
Erste Fahrt mit Naked Bike und Scrambler

Zweiter Aufschlag von Moto Morini nach dem Neustart mit chinesischem Eigner: Die 6½ tritt gleich doppelt an – als Naked Bike (STR) und als Scrambler (SCR). Halten die beiden, was Name und Optik versprechen?

Moto Morini 6 1/2 Seiemmezzo
Foto: Fotolibera
In diesem Artikel:
  • 650er-Reihentwin mit Kawasaki-Genen
  • Moto Morini 6 ½ mit niedriger Sitzhöhe
  • Sonorer, aber nicht zu lauter Sound
  • Moto Morini 6 ½ SCR mit deutlich höherem Lenker
  • Fazit

Morini-Motorräder kommen nicht mehr aus Italien, sondern aus China, seit die Zhongneng Vehicle Group im Jahr 2018 das Zepter übernahm. Immerhin blieb nach der Übernahme der Sitz in Pavia südlich von Mailand erhalten, wo italienische Entwickler die Morini-Kollektion nicht nur entwerfen und designen, sondern auch erproben. Dieses Engagement zahlt sich offensichtlich aus: Schon der Erstling, die Reiseenduro X-Cape, rief viele positive Reaktionen hervor, selbst unter den kritischen MOTORRAD-Testern – mehr als bislang jedes andere Motorrad aus chinesischer Produktion.

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650er-Reihentwin mit Kawasaki-Genen

Nun lässt Moto Morini zwei Naked Bikes folgen: Die Moto Morini 6 ½ STR (für Street) und die Moto Morini 6 ½ SCR (für Scrambler) sind mit dem gleichen 650er-Reihentwin mit Kawasaki-Genen bestückt wie die X-Cape, jedoch mit angepasstem Mapping. Auch an ihnen gefällt die Verarbeitung, von den sauberen Schweißnähten bis zu den verbauten Komponenten. Die Bremsanlage stammt von Brembo, Gabel und Federbein – beide vielfach einstellbar – steuert der japanische Hersteller KYB bei. Ungewöhnlich ist die Wahl des Vorderrads: Auf beiden Neuen dreht sich ein 18-Zöller statt des üblichen 17-Zöllers.

Also auf in die luftigen Höhen des Apennin bei Bologna, denn auf die beiden Moto Morini 6 ½ wartet eine anspruchsvolle Aufgabe: die Hausstrecke der Autorin. Früher ein begeisterndes Asphaltband, gespickt mit Kurven und Kehren, heute nach jahrelanger Vernachlässigung durch die Straßenbauämter eine wilde Buckelpiste mit Rissen, Kanten, Verwerfungen, Spurrillen und Schlaglöchern jeder Art. Sportmotorräder machen hier einen Bocksprung nach dem anderen, Reiseenduros kommen ganz gut klar. Und ein Naked Bike wie die Moto Morini 6 ½? Mal sehen. Die Street darf anfangen.

Moto Morini 6 ½ mit niedriger Sitzhöhe

Erst mal geht’s durchs Getümmel von Bologna. Die kompakten Abmessungen der Moto Morini 6 ½ erleichtern in den zahllosen Staus das Fortkommen, ebenso die niedrige Sitzhöhe von 810 mm, die dank der nicht zu hoch angebrachten Fußrasten aber auch für größer gewachsene Menschen wie die Testerin passt. Die neue Abstimmung des Motors legt den Schwerpunkt auf Punch aus dem Drehzahlkeller, elastisch gibt sich der Antrieb obendrein, selbst bei 50 km/h darf es noch der fünfte Gang sein. Nur die Kupplung verlangt nach starker Hand, dafür lässt sich ihr Hebel einstellen.

Dann endlich die Attacke auf die Höhenzüge des Apennin, wo sich die Moto Morini 6 ½ Street selbst auf der üblen Buckelpiste erstaunlich gut schlägt, trotz ihrer nicht sonderlich langen Federwege. Die leicht nach vorn geneigte Sitzposition verhilft zu vertrauenerweckender Kontrolle, der ungewöhnliche 18-Zöller vorn erweist sich als gute Wahl, denn mit ihm gelingt trotz der vielen Schäden im Asphalt ein harmonischer und runder Kurvendrive.

Sonorer, aber nicht zu lauter Sound

Und der Zweizylinder-Twin? Ist mit seinem sonoren, aber nicht zu lauten Sound (Standgeräusch 92 dB) immer präsent, reagiert prompt auf Gasbefehle und spielt seine gut 60 PS gekonnt aus. Am wohlsten fühlt er sich im vierten und fünften Gang bei etwa 4.000/min, was für Tempo 100 locker reicht und geschmeidige, schaltfaule Sprints erlaubt. Immerhin 170 km/h soll er laut Moto Morini schaffen, was aber auf einem Naked Bike auf Dauer ohnehin des Guten zu viel wäre. Die Brembo-Bremsanlage geht im besten Sinn des Wortes unauffällig zu Werke; das ABS greift eher spät, dann aber engagiert ein.

Moto Morini 6 ½ SCR mit deutlich höherem Lenker

Das Schwestermodell Moto Morini 6 ½ SCR entwickelt trotz der identischen technischen Basis einen anderen Charakter als die Street, der deutlich höhere Lenker und die Drahtspeichenräder mit leicht stolligen Pirelli-Reifen machen einen echten Unterschied. Die aufrechte Sitzposition führt automatisch zu einem gelasseneren Herangehen ans Kurvengetümmel, die Straßen-Enduro-Reifen kommen mit Rollsplitt und Kies noch besser klar als die Pirelli Angels der Street – was die Scrambler auf einer nahen Strada Bianca, wie die ungeteerten Straßen in Italien heißen, gleich unter Beweis stellt. Selbst Fahren im Stehen klappt, denn der gut geschnittene 16-Liter-Tank bietet den Knien Halt. Für echtes Offroad eignet sie sich nicht, aber das hatten die Entwickler auch nicht im Sinn.

Moto Morini meldet sich lebhaft zurück, mit emotionalem Design und Motorrädern, denen man die Sorgfalt der Entwickler anmerkt. Schade nur, dass Eigentümer und Produktion heute in China sitzen, doch ohne die Übernahme durch die Zhongneng Group hätte die Marke zusperren müssen. Immerhin bleiben die italienischen Wurzeln erhalten – mit solchen Trostpflastern werden wir europäischen Motorradfahrer uns künftig wohl immer öfter abfinden müssen.

Fazit

Geglückter zweiter Aufschlag: Die beiden Moto Morini 6 ½-Modelle sind gut gemacht und holen aus ihrem 61-PS-Motor eine verblüffend starke Vorstellung. Trotz identischer technischer Basis treten sie mit unterschiedlichem Charakter auf – welche besser gefällt, hängt vom persönlichen Fahrstil ab. Jede Menge Spaß auf der Landstraße machen beide.

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MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023