Rappenhof - schon mal gehört? Der Ort liegt im tiefsten Niederbayern, irgendwo zwischen Passau und Deggendorf. Hier, im wildesten Nichts, baute Tobias Guckel einige der verrücktesten Bikes der Welt. MOTORRAD durfte Probe fahren.
Rappenhof - schon mal gehört? Der Ort liegt im tiefsten Niederbayern, irgendwo zwischen Passau und Deggendorf. Hier, im wildesten Nichts, baute Tobias Guckel einige der verrücktesten Bikes der Welt. MOTORRAD durfte Probe fahren.
Keine Ampel, kein Zebrastreifen. Nur verschlafene Weite. Und eine Kneipe mit Namen "Zur Freiheit". Der 700-Seelen-Ort Rappenhof liegt abgeschlagen in Niederbayern. Wer weit spucken kann, feuert seine Kirschkerne fast bis nach Tschechien. Es ist ein nieselregnerischer Morgen im Oktober. Fotograf Jörg Künstle und ich stehen vor einem Anwesen im Ort, das nicht so ganz ins Dorfbild passt. Im großen Schaufenster eines schiefergrau behängten Flachbaus stehen unzählige Pokale, dahinter reihen sich Motorräder aller Couleur aneinander. Tür auf. Eintreten. Ein nettes Mädel empfängt uns: "Ach, ihr seid von der Presse. Schaut euch schon mal um, Tobi kommt gleich."
Stimmt. Fünf Minuten später kommt er angeradelt. Tobias Guckel, Inhaber und Mastermind von TGS Motorcycles, fährt auf einem orangen Bonanza-Rad Wheelie und biegt dann auf den Hof. Händeschütteln. Vor uns steht ein lausbubenhafter 39-Jähriger mit zauseligem Bartflaum und mehr Haaren als Frisur. Ein Typ, von dem man gemeinhin vermuten würde, in einer Jeansweste voller Iron Maiden- und AC/DC-Aufnäher zu wohnen. Kaum zu glauben, aber Tobias Guckel, ein begnadeter Zweiradmechaniker-Meister, der schon für ein Superbike-Rennteam geschraubt hat, hat hier, im niederbayerischen Nichts, in den letzten zwölf Jahren 74 Custombikes gebaut. Darunter so skurrile Gefährte wie den "Ice Racer". Ein Motorrad, das aussieht, als wäre es einem Star Wars-Film entsprungen. Ein Motorrad, das 2008 in den USA zum Custombike des Jahres gewählt wurde und den ersten Platz in Sturgis belegt hat. Ein Motorrad, das ich gleich fahren werde.
"Hm", brummt Tobias. "Eigentlich müsste alles funktionieren." Wie, eigentlich? "Na ja", gibt er zu, "das letzte Mal bin ich mit dem Ding in Sturgis auf die Bühne gerollt." Aha. 14 Meter Fahrt. Erster Gang. Fünf Jahre her. Ich bin schon mal froh, dass er andere Reifen montiert hat. Im Originalzustand hatten die Metzeler Karoo 140 Spikes pro Reifen. Stahlspitzen, selbst gedreht auf der hauseigenen Werkbank, 20 Millimeter lang, 65 Gramm schwer. "Ich kann mich noch dran erinnern, wie zwei Mitarbeiter die Spikes damals unter ständigem Fluchen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion eingeschraubt haben", meint Tobias. "Anschließend war jeder irgendwo verletzt, denn die Dinger waren höllisch spitz." Für den Fahrtermin heute hat er Metzeler Karoo aufgezogen, die durch ein paar Schrauben zumindest dem Look des Ice Racers gerecht werden.
Tobias schiebt sein Monster aus dem Ausstellungsraum Richtung Straße. Eigentlich jongliert er mehr, als er schiebt. Denn 1,83 Meter Radstand und der extrem flache Lenkkopf erfordern in Kombination mit einem sehr bescheidenen Lenkeinschlag ständiges Hin- und Hergewuchte. Wer sich darunter jetzt nichts vorstellen kann: Schon mal einen Wagen aus einer extrem engen Parklücke ausgeparkt? Ich grübele gerade, wie es wohl ist, das Ding am Ende der Straße wenden zu müssten, da meint er: "Du bist ja erfahrener Tester. Trotzdem muss ich dich warnen: Pass auf, dass nichts dazwischen kommt!" Sein Finger zeigt auf einen offen laufenden Primär-Kettentrieb. Dann deutet er auf den offenen Kupplungskorb. Zum Schluss auf die zwei riesigen Kettenräder an beiden Felgenseiten des Hinterrads, die den Sekundärtrieb übernehmen. Aha. "Gibt es sonst vielleicht noch was, das mir wehtun könnte?" Tobias grinst. Sein Finger deutet auf ein Stromkabel, das schutzlos an der Zündkerze endet. "Wenn du da mit dem Knie anstößt, kriegst du mit 20 000 Volt einen gezwitschert." Ich will witzig sein und frage, ob er weiß, wie sich das anfühlt. "Klar. Wenn das beim Fahren passiert, ist es, als würde dir jemand mit einem fetten Gummihammer auf die Hände schlagen."
Ich will nicht, dass meine Hände von einem Gummihammer gebrochen werden. Helm auf, Jacke an, Hände ins Leder. Kniezittern. Aufsitzen. Dagegen ist jede Haltung auf einem Supersportler touristisch. Man sitzt nicht auf dem Ice Racer, man liegt förmlich drauf. Die Beine sind extrem stark nach hinten abgewinkelt, denn die Fußrasten befinden sich in Höhe Hinterradfelge, sprich Kettenräder. Hoffentlich flattert meine Jeans nicht und verfängt sich in irgendeinem Zahnrad, denke ich. Und wäre im Grunde genommen auch froh, wenn das Monster gar nicht erst anspringt …
Denkste! Zwei Umdrehungen des Anlassers genügen, und der Late Shovel-Nachbau der US-Firma S&S brüllt laut aus seinen drei Öffnungen, die wie Abflussrohre unter dem Motor hervorragen. "Ach ja", ruft Tobias, "da ist noch was! Der Ice Racer hat Integralbremse. Und die Drehgriffkupplung trennt nicht richtig. Aber das wirst du gleich merken."
Ja. Merke ich. Man hat praktisch zwei Drehgriffe. Rechts fürs Gas. Links dreht man entgegengesetzt und kuppelt so aus. Na, dann wollen wir mal. 85 PS soll der V2 im Serientrimm leisten. Tobias hat aus optischen Gründen einen Turbolader angebaut, dessen Ansaugtrichter weit nach vorn ragt und auch gut als Schlange in einem Horrorfilm durchgehen könnte. Gas. Kupplung. Das Monster fährt. Oder besser: rollt. Je schneller, desto besser, denke ich. Denn es ist schwierig, diese 230 Kilogramm aufgrund der Sitzhaltung im Schritttempo zu balancieren. Drehgriffkupplung, zweiter Gang. Dritter. Vierter. Oh, eine Kuppe. Bremsen wir lieber mal. Griff ins Leere. Die Integralbremse wird vom Fuß betätigt, wobei die Bremskraft über einen einstellbaren Verteiler je nach Wunsch mehr nach vorn oder hinten gesteuert werden kann. Das hört sich jetzt erst mal an, als wären diese Hand- und Fußbewegungen nicht schwer. Doch deren Koordination erfordert meine ganze Konzentration. Wenden auf der Kuppe: Damit du nicht rollst, darfst du den Fuß nicht von der Bremse nehmen. Hast du den Fuß aber oben, kannst du das Monster nicht gescheit abstützen. Hast du den Gang nicht draußen - Neutralanzeige natürlich nicht vorhanden - will die Kiste immer vorwärts, denn die Kupplung trennt ja nicht richtig. Bei alldem fällt mir ein: Verdammt, ich hab ja auch noch eine flatterige Jeans an! Unwillkürlich denkt man an zerfetzte Waden, Oberschenkel und was da noch so alles am Körper bammelt. Bloß nicht in die Zahnräder geraten. Mit jedem Zentimeter, mit dem das Knie aus dem gefräßigen Bereich der Zahnräder kommt, wandert es näher an die Zündkerze. Da wartet der Gummihammer!
Nach einer guten Stunde haben wir uns aneinander gewöhnt. Hohe Lenkkräfte bescheren mir Muskelkater in den Handballen. Aber zumindest kann ich sportlich wenden, ruckfrei beschleunigen, effektiv bremsen und hinterlasse auch im Stand einen recht souveränen Eindruck. Kann es aber irgendwie noch nicht so recht glauben, dass so ein Extrembike pilotieren tatsächlich Ähnlichkeit mit Motorradfahren hat. "Wieso?", fragt Tobias. "Mit Beleuchtung, Spiegel und anderem Schalldämpfer kann man den Ice Racer legal auf der Straße fahren. Rahmen und Anbauteile haben TÜV." Na, die Gesichter möchte ich sehen.
Motor:
Luftgekühlter 45-Grad-V2 von S&S, 1524 cm3, zirka 95 PS bei 5500/min, Turbolader, Fünfganggetriebe, Doppel-Sekundärtrieb über Zwischenwelle, Trockensumpfschmierung, Drehgriffkupplung über innen verlegten Seilzug
Specials:
Integralbremssystem, Felgen v/h: 4,5 x 18/5,5 x 18, Sattel mit Luftfederung, Einarmgabel vorn mit 30 Millimeter integriertem Federweg, TGS-Starrahmen, fast alle Bauteile sind TGS-Einzelanfertigungen
Fakten:
Sitzhöhe 650 Millimeter, Gewicht 230 kg, Tankinhalt 5,5 Liter, Bauzeit: fünf Wochen, Wert ca. 80 000 Euro
Weitere Infos:
TGS, Tel. 0 85 04/92 22 80, Internet www.tgs-motorcycles.de
Beim Schlendern durch den TGS-Showroom entdeckt man erstaunlich viele Motorräder aus den 1970er- und 1980er-Jahren, die alle optimiert sind. Es finden sich Doppelscheiben an Bikes, die früher nur eine Bremsscheibe hatten, einstellbare Federbeine, stärkere Schwingen oder stabilere Gabelbrücken nebst Standrohren. Alle Umbauten sind technisch perfekt durchgeführt, sie stören weder die Gesamtoptik des Bikes noch verliert es dadurch den Charme seines Geburtsjahrs. Tobias Guckel legt sogar größten Wert darauf, dass der Lack absolut stilecht ist. "Ich weiß, dass diese Art von Customizing in Deutschland erst in den Kinderschuhen steckt", sagt Tobias Guckel. "Wer hier auf ein Oldtimertreffen fährt und das Schutzblech mit einer Inbus- statt der original Linsenkopf-Kreuzschlitz-Schraube montiert hat, den lassen die selbst ernannten Freaks naserümpfend stehen." Diese Fraktion ist stark. Guckel kann ihre Einstellung verstehen. Nur teilt er sie nicht. Für den Bayern geht es um die pure Lust am Motorradfahren. Er sagt: "Wenn sich der Fahrspaß auf einer Kawasaki Mach 4 H2 750 durch den Umbau auf eine zweite Scheibe vorn und ein paar andere Features mehr als verdoppelt - warum soll ich es dann nicht machen?" Perfektion, Charme, Stil - diese Begriffe verschmelzen im Credo, nach welchem der Designer und Kfz-Meister arbeitet.
Dieser Mann hat kein Benzin im Blut, sondern Blut im Benzin. Und das von der Wiege an. Dieser kaum entronnen, stakst Tobias Guckel schon im Kindesalter durch die Werkstatt und Tankstelle seines Opas, die neben dem elterlichen Haus steht. "Alles, was schnell war, laut und ölig, hat mich interessiert", sagt er heute. Im Alter von 12 blickt er bereits auf erste Customizing-Erfolge zurück: Auf seiner gewichtsreduzierten Zündapp KS 80 im Stil der Z 900 prangte eine John-Player-Lackierung, aus einem Klapp- fertigte er ein BMX-Rad, und sein Bonanza-Rad zerlegte und lackierte er alle zwei Monate. Bis zu seinem 18. Lebensjahr fräst er mit Motocross-Bikes durch die Weiten der elterlichen Wiesen, formt Sprunghügel, baut sich einen Kurs. Verliebt sich letztlich jedoch in verschiedene Suzuki GSX-R-Modelle und macht eine Lehre zum Kfz-Mechaniker. "Eine turbulente Zeit", sagt er. "Ich wollte Straßenrennen fahren und habe nebenbei alles umgebaut, was es gab, vom Streetfighter bis zum Chopper." 1998 macht er sich selbstständig. Zwei Jahre später entsteht das erste Custombike. Heute zählt die kleine Edelschmiede vier Mitarbeiter. "Drei davon haben den Meistertitel", sagt Guckel nicht ohne Stolz. Ein kurzer Blick in die Werkstatt gibt Sicht auf nahezu alle Metallbearbeitungsgeräte frei, die es auf dem Markt gibt. Bei TGS entsteht sehr viel in Handarbeit. Die Liste der Siege seiner mittlerweile 74 gebauten Custombikes ist unendlich lang. Und wenn Tobias Guckel vor einem steht, T-Shirt-Aufdruck: "Wild, fast, loud", man das Leuchten in den Augen sieht, wenn der Musikfan über Motorräder spricht, weiß man, dass die Liste noch länger wird.