Wahnsinn! Der Testastretta unter mir brüllt zornig und durchbricht die für normale Nakeds nicht unerhebliche 250-km/h-Mauer im fünften Gang. Als wenn es nichts wäre. Und selbst beim Nachlegen des Sechsers zieht der 195 PS starke V2 unfassbar vehement durch. Kein Ende in Sicht. Ich kauere im Faltmodus über der Maschine, packe es nicht, wie mörder brachial die irre Ducati 1098 Fighter RR die 1,6 Kilometer lange Mistral-Gerade in Le Castellet frisst und bekomme es mit der Angst zu tun. Ich sitze ja nicht auf einer vollverkleideten Rennmaschine, die wie auf Schienen die Luft schneidet, sondern bin den Naturgewalten schutzlos ausgeliefert. 290 km/h auf so einem leichten Naked Bike fühlen sich irr an, irgendwie krank, abartig.
Der Fahrtwind greift wie ein Sturm so brutal zu, dass trotz Drucks auf die Fußrasten und voll gespannter Bauchmuskeln ein gewisses Klammern am Lenker unvermeidlich ist. Auch wenn es gelingt, die dadurch unweigerlich entstehenden Fahrwerksunruhen zu ignorieren, hat man das Problem mit der unklaren Sicht. Kein Hals dieser Welt ist stark genug, einen von solchen Turbulenzen fürchterlich gebeutelten Helm bei diesem exorbitanten Speed ruhig zu stellen. Selbst die besten Augen liefern kein scharfes Bild, wenn der Schädel derart hochfrequent wackelt. Ich nehme noch wahr, dass der digitale Tacho nach 299 nur noch zwei waagrechte Striche hergibt, spüre deutlich, dass die Ducati 1098 Fighter RR unter mir weiter schneller wird, und fühle mich wie in der Geisterbahn. Zur Hölle, panisch brennen die Synapsen durch! Was für ein Ritt jenseits von Gut und Böse!
Bei 320 km/h die Kontrolle verlieren ...
Und genau in dem Moment, in dem alles in mir Granada spielt, weil ich vollkommen entsetzt erkennen muss, dass mir die Turbulenzen dermaßen die Optik verzerrt haben, dass ich den Bremspunkt verpasst habe, schrecke ich schweißgebadet aus dem Schlaf. Na bumm, das braucht niemand! Aufwachen mit Stoßatmung.
Den PS-Test fuhren wir in Österreich. Möglicherweise haben die vorabendliche Schilderung der Ereignisse in Le Castellet (Ernst Grabner, der Halter der Ducati 1098 Fighter RR, hat tatsächlich 320 km/h laut GPS erreicht, ehe er in der südfranzösischen Bremszone die Kontrolle verlor) und der entsprechende Traum mein Nervenkostüm in Fetzen gelegt (zum Glück träumte ich Grabners Kieferbruch nicht mit), möglicherweise lag es aber auch nur am mörderisch bollernden Klang des V2, dass ich mit weichen Knien und trockener Kehle etwas unschlüssig in der Box vor dieser Duc stand. Dem brachialsten Naked, das ich je gesehen und gehört hatte. Wahnsinn, wie der Testastretta Evolution RR in Stocksport-WM-Konfiguration (es stehen zwei Motoren zur Verfügung, dazu später) schon im Standgas aus den gekürzten Remus-Töpfen samt 70 mm dicken Krümmerrohren donnerte! Ich war echt erledigt. Und als der Ernstl dann kurze Gasstöße zum Aufwärmen in das Triebwerk schickte, brüllte das Tier so grimmig, dass ich schwer gegen den Fluchtreflex ankämpfen musste. „Verdammt“, lag mir schon auf der Zunge, „hab den Termin beim Nobel-Friseur vergessen. Muss dringend weg. Sorry!“
Kreuzung aus 1098 R und Streetfighter 1098 S
Das Projekt Ducati 1098 Fighter RR ist ein Teufelswerk aus Liebe. Das hat nichts damit zu tun, dass der Ernstl hinten auf seiner Lederkombi groß „Italian Stallion“ stehen hat (er ist Gutsverwalter auf einem Pferdegestüt – sonst wissen wir zum Glück nichts darüber, wie er sich den Spitznamen erarbeitet hat), sondern mit der Liebe zu Ducati, zur Renntechnik und zum Irrsinn.
Dass der begnadete Techniker Charly Putz (CP57), der viele Jahre lang Chef-Motorenmann des Ducati-Superbike-WM-Teams war und mit James Toseland, Troy Bayliss und Carlos Checa zu Weltmeisterehren kam, mit Rat und Tat zur Seite stand und steht, ist ein nicht hoch genug zu bewertender Glücksfall. Abgesehen davon, dass der Ernstl sonst auch niemals Zugang zu einem Haga-Motor gefunden hätte, brauchte die Ducati 1098 Fighter RR, die schon mit dem Stocksport-Triebwerk (185 PS und 133 Nm am Hinterrad) nahezu unfahrbar war, weil die Front dauernd in den Himmel stieg, dringend das Know-how des steirischen Weltmeister-Machers. Nur so konnte letztendlich aus der Kreuzung von 1098 R und Streetfighter 1098 S eine Maschine entstehen, die im Sinne der Lehre von Gregor Mendel („Vater der Genetik“) die besten Eigenschaften in sich trägt. War aber kein leichter Weg.
Ducati 1098 Fighter RR ohne Fahrhilfen
Als Ducati die Streetfighter auf den Markt brachte, erstetzte Ernstl sofort seine S4RS Monster, mit der er im nackten Amateur-Racing für Furore gesorgt hatte. Allerdings hatte seine Neue ein großes Manko: 62 Grad Lenkkopfwinkel. Mit dieser chopperartig flach stehenden Gabel war es unmöglich, die geplant scharfen Linien in den Radien zu halten. Frustrierend! So kam der Wunsch nach einer 1098 R auf. Allerdings nur als Basis für einen Umbau: „Ich bin mit nackten Motorrädern aufgewachsen, ich will keine Verkleidung und keine Stummel. Aber ich brauche ein scharfes Kurvenverhalten. Und als ich dann eine gebrauchte 1098 R mit Stocksport-Motor ergattern konnte, schien alles perfekt. Leistung und Geometrie waren ideale Voraussetzungen für meine Ducati 1098 Fighter RR.“
Das Projekt war dann aber nicht frei von Komplikationen. Zwar fand Ernstl eine Gabelbrücke von CNC für einen geraden Lenker, und der anonym bleiben wollende Edelschweißer „WM71“ konnte den Streetfighter-Tank so verändern, dass er leicht erhöht auf die vierdüsige Einspritzeinheit der 1098 R passte. Aber da auch sämtliche elektronische Fahrhilfen eliminiert wurden, entpuppte sich das Bike als mehr oder weniger unfahrbar – im Sinne schneller Rundenzeiten.
Das Vorderrad war immer in der Luft. „Ich bin ein Kontrollfreak. Ich will nicht, dass mich die Elektronik kontrolliert. Also habe ich Traction- und Launchcontrol ausgebaut. Ich vertraue meiner Gashand, will den direkten Zugriff auf den Motor. Allerdings konnte ich die Ducati 1098 Fighter RR vorne einfach nicht am Boden halten. Eigentlich großartig, aber schnell ist anders“, erzählt Ernstl.
Gaswheelies bis in den vierten Gang
Charly Putz wusste, dass sie in der WM eine um 25 mm längere Schwinge fuhren. Leider kostete das Teil aber eine Lawine. So kam Ernstl auf die Idee, die um 40 mm längere Schwinge des Streetfighters zu verwenden. Die Geometriedaten passten. Das Problem war nur, dass die Schwinge keinen Platz ließ für die mächtigen Krümmerrohre, weil beim Streetfighter der Auspuff im Gegensatz zur 1098 R seitlich geführt wird. WM71 schnitt in Absprache mit Charly Putz die Schwinge auseinander, machte Platz für die Krümmerrohre, versteifte die Schwinge innen mit Flugzeug-Aluminium und verschweißte die neue Form. Das Ergebnis war großartig. Mit dem Stocksport-Motor konnte man jetzt im Fünfer bedenkenlos Gas geben.
Da aber Gaswheelies bis in den vierten Gang noch immer zur Tagesordnung gehörten und der italienische Hengst weite Strecken in der Galerie unterwegs war, musste Ernstl pro Rennwochenende einen halben Liter Öl nachfüllen, das über die Motorentlüftung in die Airbox gedrückt wurde. CP57 wusste Rat: „Wir brauchen eine Wheeliebox mit Tankschaum, in der sich das Öl sammeln und wieder rückfließen kann.“ Der ideale Platz dafür wurde unter dem Heck der Ducati 1098 Fighter RR geortet, das als Meisterwerk von WM71 gelten darf. Aus Rohren wurde mit einer Biegemaschine, wie man sie aus dem Installationshandwerk kennt, ein Heckrahmen geformt und unterhalb die Wheeliebox so perfekt verschweißt, dass ein Rennfahrer im Fahrerlager in Le Castellet wetten wollte, die Nähte könnten nur von einem Roboter sein.
Motorwechsel in zwei Stunden
Auffällig ist auch der Gasgriff der Desmosedici RR mit dem kleinen „Choke“-Hebel zur Erhöhung des Standgases beim Start. Der ist notwendig, weil der hochverdichtete Haga-Motor (das genaue Verhältnis ist noch immer ein Racing-Geheimnis, es liegt jedenfalls deutlich über 14:1) einen dermaßen starken Sog entwickelt, dass es die großen Drosselklappen unweigerlich schließt, sobald es die Kolben beim Starten nach unten reißt. Apropos: Da der Vorrat an scharfen Kolben für einen fünf Jahre alten Ducati-Rennmotor nicht unermesslich, sondern irgendwann einfach aufgebraucht ist, lässt CP57 bei Carillo in den USA hochverdichtende Kolben mit Keramik-Beschichtung nach seinen eigenen Plänen fertigen.
Für schnelle Kurse wie Brünn, Slovakia, Red Bull und Le Castellet kommt in der Ducati 1098 Fighter RR der Haga-Motor zum Einsatz, der sich im Wesentlichen vom Stocksport-Twin durch den leichteren Kurbeltrieb und die leichteren, höher verdichtenden Kolben unterscheidet. Die Mehrleistung von zehn PS am Hinterrad wird ab 9500/min schlagend, ehe der erste weiche Begrenzer bei 11.200/min das Ende des wahnsinnigen Treibens ankündigt (200 Umdrehungen später regelt der harte Begrenzer ab). Auf langsameren Kursen wie in Pannonien oder in Almeria wird der wartungsfreundlichere Stocksportler in den Rahmen geschraubt. Letzterer braucht alle 3500 bis 4000 Kilometer eine Revision, das Haga-Triebwerk alle 2500 bis 3000. Ernstl veranschlagt für den Motorwechsel zwei Stunden: „Meine Frau und ich sind ein eingespieltes Team.“ In die Welt der Galerie übertragen unterscheiden sich die beiden Motoren wie folgt: Der Stocksportler leistet Gaswheelies bis zum vierten Gang, mit dem Haga-Triebwerk steigt der Fighter auch noch im fünften ohne Zuhilfenahme der Kupplung. Irr, einfach irr.
Als Fahrwerk dämpfen Öhlins-Komponenten des Streetfighters, wobei das Innenleben mit echten Insider-Goodies veredelt wurde. Woher die kommen und welche das sind, muss hier im Verborgenen bleiben, da der Techniker nicht auf die Bühne gebeten werden will.
Was für eine irre Fahrerei!
Der Testritt auf der Ducati 1098 Fighter RR war dann im wahrsten Sinne des Wortes der nackte Wahnsinn! Zwar ist die durch das ersatzlose Streichen der elektronischen Fahrhilfen notwendig gewordene neue Programmierung der Motorsteuerung von Morc im Burgenland fantastisch gelungen, aber es ist halt ein riesengroßer Unterschied, ob man 200 PS auf einem Supersportler abruft oder auf einem Naked. In den unteren Gängen ist die Wheelie-Gier dermaßen omnipräsent, dass man die körpereigenen Sensoren für den Kurvenausgang erst neu einschulen muss.
Beim forschen Eingang glänzt die Ducati 1098 Fighter RR (Lenkkopfwinkel auf 65,5 Grad) am Vorderrad mit viel Transparenz, genügend Stabilität und großen Reserven in der Linienwahl, hinten tänzelt gerne das Heck. War nie ein Problem, doch die Coolness des italienischen Hengstes („Mir taugt‘s, wenn sich etwas bewegt. Wenn ich wie auf Schienen fahren möchte, kauf ich mir einen Supersportler“) stellte sich bei mir in den wenigen Runden nicht ein.
Wendekreis einer Boeing 747
Dafür erwischte mich die Euphorie voll. Bis 7000/min war der Stocksport-Testastretta schon ein unfassbar göttlicher Rennmotor mit einem blitzsauberen Ansprechverhalten, über 7000 entwickelte er dann eine Gewalt, die kein Ende zu nehmen schien. Da stockte einfach der Atem. Wahnsinn! Unfassbar, wie übermächtig sich der Motor im nackten Fighter anfühlt. Wild war auch das Zugreifen des Fahrtwindes bei höheren Geschwindigkeiten. Ohne Verkleidung ist es einfach unmöglich, den Lenker jenseits von 250 km/h noch zart zu führen. Da muss man automatisch klammern. Und wenn man dann noch eine kleine Welle frisst und die Maschine kurz ziemlich unruhig wird, freut man sich über nichts so sehr wie über den Lenkungsdämpfer.
Die Testfahrt mit der Ducati 1098 Fighter RR war ein unglaublicher Thrill, eine mörderische Adrenalinspritze und ein unvergessliches Erlebnis. Aber richtig schnell war ich sicher nicht. Mit jedem modernen Supersportler wäre ich schneller gewesen. Verkleidung, Sitzposition und elektronische Fahrhilfen erleichtern gute Rundenzeiten enorm. Andererseits ist der Fighter halt etwas unfassbar Ausgezucktes mit grenzenlosem Erlebnisgehalt. Den heikelsten Punkt des Tests will ich nicht verschweigen: Dass ich mich beinahe mit fünf km/h ausgebreitet hätte, lag am breiteren Rennkühler, der nach oben versetzt wurde, damit man die Zündkerze beim vorderen Zylinder ohne Aufwand wechseln kann. Deshalb musste der Lenkeinschlag dramatisch verknappt werden. Das Ding hat jetzt den Wendekreis einer Boeing 747. Sollte man nie vergessen.
Fazit
„Wenn ich so über die Ducati 1098 Fighter RR nachdenke taugt es mir ungemein, dass es offensichtlich nicht immer nur ums Geld geht. Den Einsatz der begnadeten und extrem erfahrenen Techniker, von denen einige im Hintergrund bleiben möchten, könnte sich der „italienische Hengst“ mit dem gebrochenen Kiefer eigentlich nie leisten, aber sie stehen voll hinter dem Fighter RR-Projekt, das nüchtern betrachtet die Beschreibung „vollkommen wahnsinnig“ mehr als verdient. Genau das finde ich aber einfach großartig. Der brüllende RR-Fighter mit dem erhobenen Vorderrad ist wie eine uneinnehmbare Festung gegen den Angriff der Erbsenzähler und Spaßbremsen.
Technische Daten Ducati 1098 Fighter RR
Antrieb: Zweizylinder-V-Motor (WM-Version), vier Ventile/Zylinder, 143,6 kW (195 PS) bei 10.700/min**, 133 Nm bei 9200/min**, 1198 cm³, Bohrung/Hub: 106,0/67,9 mm, Verdichtungsverhältnis: k. A., Zünd-/Einspritzanlage, 64-mm-Drosselklappen, hydraulisch betätigte Mehrscheiben-Ölbad-Anti-Hopping-Kupplung, Sechsganggetriebe, G-Kat, Kette
Fahrwerk: Stahl-Gitterrohrrahmen, Lenkkopfwinkel: 65,5 Grad, Nachlauf: k.A., Radstand: 1470 mm, Upside-down-Gabel, Ø Gabelinnenrohr: 43 mm, einstellbar in Federbasis, Zug- und Druckstufe. Zentralfederbein mit Umlenkung, einstellbar in Federbasis, Zug- und Druckstufe. Federweg vorn/hinten: 120/127 mm, Leichtmetall-Gussräder, 3.50 x 17/6.00 x 17, Reifen vorn: 120/17 ZR 17, hinten: 190/55 ZR 17, 330-mm-Doppelscheibenbremse mit radial angeschlagenen Vierkolben-Festsätteln vorn, 245-mm-Einzelscheibe mit Zweikolben- Festsattel hinten
Maximale Hinterradleistung**: 143,6 kW (195 PS)
Höchstgeschwindigkeit: 320 km/h per GPS
Gewicht: 174 kg vollgetankt; Tankinhalt: 15 Liter
Grundpreis: unverkäufliches Einzelstück
alle Dämpfungseinstellungen von komplett geschlossen gezählt; statischer negativer Federweg senkrecht stehend ohne Fahrer; U=Umdrehungen; K=Klicks * Herstellerangabe ** PS-Messung