Aprilia Tuono V4 1100 RR im Fahrbericht
Donner und Gloria

Technisch und optisch gehört die Aprilia Tuono längst zu den extravagantesten Power-Naked-Bikes. Nun will der Donnerbolzen mit größerem Hubraum und jeder Menge Detailänderungen die Klasse der Naked Bikes erneut aufmischen.

Donner und Gloria
Foto: Hersteller

Aufgeregt flackert die Warnleuchte der Traktionskontrolle im Cockpit, die Aprilia Tuono V4 1100 RR scheint ihre Aufregung nicht mehr verbergen zu können. Endlich Auslauf, endlich zeigen, was sie kann. Und das sogar auf heimischem Terrain. Nur ein paar Steinwürfe vom GP-Kurs von Misano entfernt schlängeln sich die Straßen über die Hügel des romagnolischen Hügellands. Kein Meter eben, kaum einer gerade. Il paese delle nude, Naked-Bike-Land.

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Verständlich, dass der Aprilia Tuono V4 1100 RR das Herz pocht. Das größte in ihrer Modellgeschichte. Genau einen Liter Hubraum hatten die Ingenieure ihr sowohl als Zwei- wie auch als Vierzylinder bislang eingeschenkt. Jetzt träufeln drei Millimeter mehr Bohrung noch einmal 77 cm³ nach. Mille plus statt Mille. Die Stoßrichtung ist klar: Mehr Druck im Drehzahlkeller, mehr Spitzenleistung. In Zahlen: 121 statt 112 Newtonmeter Drehmoment, 175 statt 170 PS. Schon vorher beeindruckende Werte, jetzt erst recht.

Jedes Gasanlegen wird zum akustischen Erlebnis

Kein Wunder, dass dieses gelbe Lämpchen immer wieder aufflackert. Denn der 65-Grad-V4 hat es schon immer gemocht, sich in Szene zu setzen. Spritzig biss er kurz über dem Drehzahlkeller zu, flutschte frisch durch die Drehzahlmitte, um im letzten Drehzahldrittel zur Hochform aufzulaufen. Genau diesen Charakter hat sich auch der aufgeblasene V4 konserviert. Wohl auch, weil an der Neuen Pleuel des österreichischen Kurbelwellenspezialisten Pankl stattliche 100 Gramm pro Stück einsparten. Und so legt die Aprilia Tuono V4 1100 RR so frech los wie eh und je.

Allein dieser Sound. Kein kreischender Reihenvierer, kein bollernder, drehmomentschwangerer V2 und auch kein zwitschernder Drilling kommt diesem satten und sonoren V4-Bass nahe. Jedes Gasanlegen verwandelt sich zum akustischen Erlebnis – auch wenn eine sozialverträglichere Lautstärke den Genuss sicher nicht geschmälert hätte. Doch für einen Vorschalldämpfer fehlt unter der weit nach unten ragenden Ölwanne und der Umlenkung des Federbeins schlicht der Platz. So darf die Aprilia Tuono V4 1100 RR ihre Freude aus der Edelstahlanlage recht ungeniert hinausbrüllen. Sauber und mit akzteptablem Ansprechverhalten nimmt sie am Kurvenscheitelpunkt Gas an und sorgt nach jeder Kehre für diesen erfrischenden druckvollen Spurt. Nicht zu viel, nie zu wenig, so schiebt der Vierzylinder voran. Ganz leicht, betont mühelos dreht er hoch, bis er kurz vor der Siebentausender-Marke bis zum Drehzahlbegrenzer bei 12.000 Touren noch mal nachlegt, als wäre die italienische Steuerfahndung hinter ihm her.

Volle Motorleistung in allen drei Fahrmodi

Ob der Neue mehr Druck besitzt als sein Vorgänger? Schwer zu sagen, denn es ist weniger schiere Power, eher die vom Schaltassistenten noch unterstützte Leichtigkeit, die den V4 in jedem Moment charakterisiert. Ein moderater Zug am Gasseil und – wupp – schnalzt die Aprilia Tuono V4 1100 RR mit der Front nach oben, um Sekundenbruchteile später von der Wheelie Control wieder eingefangen zu werden. Das gelingt nach jeder Kehre, ganz ohne Randale und Drehzahlorgien. Und lässt deshalb darauf schließen, dass der aufgepeppte Treibsatz in der Tat mehr Druck besitzt. Und zwar in jeder Abstimmung. Denn in allen drei Fahrmodi (Sport, Track, Race) steht die volle Leistung zur Verfügung, die Mappings wirken sich nur auf die Gasannahme und die Stärke der Motorbremse aus. Während die Unterschiede beim Schleppmoment eher auf der Rennstrecke von Belang und überland kaum wahrnehmbar sind, wandelt sich das Ansprechverhalten von benutzerfreundlich zahm im S-Modus bis sportlich-spontan in der R-Abstimmung. Was gefällt, bleibt letztlich Geschmackssache.

Wenn wir schon bei der Elektronik sind: Traktions- und Wheelie-Kontrolle wie die ABS-Steuerung sind nicht an die Fahrmodi gekoppelt, sondern lassen sich unabhängig in drei Stufen justieren. Und die aufgeweckte Aprilia Tuono V4 1100 RR hält den Bordrechner auf Trab. Zumindest auf den glatt polierten italienischen Sträßchen braucht es selbst in der aggressivsten Abstimmung keinen übermotivierten Reiter, um die Schlupfregelung eingreifen zu lassen. Immerhin tut sie das ebenso sanft wie die Wheelie-Kontrolle, die das schnell steigende Vorderrad wieder auf den Boden zurückholt. Selbst Elektronik­skeptiker gewinnen bereits nach kurzer Zeit Vertrauen in die Hilfskräfte, erkennen, wie die noch junge Technik gleichzeitig Fahrspaß und Sicherheit steigern kann. Vor diesem benutzerfreundlichen Hintergrund verwundert die Abstimmung des ABS umso mehr. In allen drei Stufen tastet sich der Blockierverhinderer zwar weit an die mit einem hohen Funbike erreichbare maximale Verzögerung heran, doch selbst in der zahmsten Variante hebt die Aprilia Tuono V4 1100 RR bei der Gewaltbremsung bedrohlich das Heck und zwingt den Piloten, Bremsdruck wegzunehmen. Im Notfall keine gute Option.

Gabel und Federbein schonen Nerven und Bandscheiben

Also nicht nur deshalb erst einmal das Gas raus, stattdessen sammeln und genießen. Denn wenn sich die Sinne für andere Dinge als Power, Drehmoment und Fahrassistenzen öffnen, offenbart die aufgefrischte Tuono ihre neue Seite. Die Aprilia Tuono V4 1100 RR scheint zu wissen, wo ein Naked Bike wie sie hingehört: auf die Landstraße. Und so sitzt es sich nicht nur auf dem deutlich weicheren Sitzbankpolster bequem, auch die Federung meint es gut mit dem Tuono-Treiber. Zuckte der auf dem Vorgängermodell noch bei mancher Querrinne verkrampft zusammen, schonen die deutlich weicher abgestimmte Gabel und das Federbein (beide von Sachs) Nerven und Bandscheiben. Deshalb flitzt der Tuono-Pilot nun erheblich entspannter über die Landstraßen als bisher.

Aprilia Tuono V4 1100 RR bremst brillant

Aber bestimmt keinen Deut langsamer. Auch weil die Techniker aus der Nähe von Venedig die neue Aprilia Tuono V4 1100 RR mit einer breit gefächerten Mixtur aus Detailänderungen zusätzlich aufpolierten. Ob in der Einbaulänge gekürzte Federelemente, die um etwa 18 Millimeter verringerte Fahrhöhe, die zusätzlich abgesenkte Front, der dadurch steilere Lenkwinkel, die vier Millimeter längere Schwinge, der um 16 Millimeter schmalere Lenker oder die etwas aggressiveren Bremsbeläge: An jeder Ecke wurde feingeschliffen. Als ob die Italienerin das nötig gehabt hätte. Denn schon bisher lenkte die Aprilia Tuono auf den Millimeter genau ein, zog blitzsauber ihre Radien. Auf Geraden blieb sie dennoch spurstabil und bremste ordentlich. Vor allem Letzteres macht sie nun brillant, lässt die im Brembo-Monoblocksattel sitzenden geänderten Beläge kräftiger und mit mehr Rückmeldung in die beiden 320er Scheiben beißen.

Letztlich komplettieren diese flankierenden Maßnahmen die überaus gelungene Neujustage dieses Naked Bikes und machen es etwas leichter, den finanziellen Nachschlag für die neue Aprilia Tuono V4 1100 RR zu schlucken. Mit 16.490 Euro kostet die 1100er genau einen Tausender mehr als das letztjährige Modell. Doch wenn’s auch wehtun mag, der Einsatz lohnt sich.

Was ist neu bei der Tuono?

Motor:

  • Spitzenleistung von 170 auf 175 PS erhöht
  • Leichtere Pleuel (minus 100 g je Pleuel)
  • Bohrung von 78 mm auf 81 mm vergrößert
  • Hubraum von 1000 cm³ auf 1077 cm³ erhöht

Fahrwerk:

  • Federbein und Gabel weicher abgestimmt
  • Schwinge um 4 mm verlängert 
  • Fahrhöhe um 20 mm (vorn) und 15 mm (hinten) gesenkt
  • Federweg vorn um 10 mm verringert
  • Lenkwinkel um 0,4 Grad steiler
  • Sitzhöhe um 15 Millimeter verringert
  • Bremsbeläge geändert

Sonstiges:

  • Sitzbank-Polster weicher
  • Lampenmaske 1,5 kg leichter
  • Lenkerbreite um 16 mm reduziert
  • Preis 16.490 Euro inkl. Nebenkosten (bisher: 15.500 Euro)

Technische Daten Tuono

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023