Mit einem bassigen Grollen antwortet der V4-Motor auf jeden Gasstoß. Satt, sonor, aggressiv. So, als wollte er die Botschaft aus seinem Edelstahl-Schalldämpfer geradezu hinausbrüllen. Leute, hört her: mehr Hubraum, mehr Spitzenleistung, mehr Drehmoment. Ich bin wieder der Chef. Erst im vergangenen Jahr hatte die 173 PS kräftige KTM 1190 Super Duke der bislang 170 PS starken Aprilia den Vorstandsposten im Power-Naked Bike-Segment abgeluchst. Und nun? Besitzt die neue Aprilia Tuono V4 1100 RR 175 PS.
Postpubertäres Machtgehabe? Mag sein – aber letztlich dennoch eher ein Nebenprodukt. Denn bei bloßen Muskelspielchen beließen es die Techniker aus dem Veneto beim 2015er-Modell des Donnerbolzens nicht. An vielen Stellen wurde feinjustiert oder kräftig Hand angelegt. Eine Übersicht gefällig? Motorseitig hievt eine drei Millimeter vergrößerte Bohrung den Hubraum der Aprilia Tuono V4 1100 RR von 1000 auf 1077 cm³, und jedes der vier Pleuel speckte um stattliche 100 Gramm ab. In Sachen Fahrwerk knapsen kürzere Federelemente um 20 Millimeter (vorn) beziehungsweise 10 Millimeter (hinten) an der Fahrhöhe, wurde die Schwinge um 4 Millimeter verlängert, die Lenkerbreite um 16 Millimeter reduziert und man montierte geänderte Bremsbeläge. Letztlich erhielt die Lampenmaske eine überarbeitete Optik und soll 1,5 Kilogramm abgehungert haben.
Aufgemotzter 65-Grad-V4 hängt sauber am Gas
Doch trotz aller Diäten oder Kraftkuren: Zuallererst fällt die weicher gepolsterte Sitzbank auf. Viel schnuckeliger als beim Vorgängermodell sitzt es sich auf dem kommoden Schaumgummi – und dank besagt geringerer Fahrhöhe auch um 15 Millimeter niedriger. Das schafft Sympathien, die der Motor gleich aufnimmt. Sauber hängt der aufgemotzte 65-Grad-V4 am Gas, lässt sich nach einem geschmeidigen Lastwechsel am Kurvenausgang gefühlvoll aufziehen. Kein hartes Anreißen, kein übermotivierter Leistungsschub, der Hubraumnachschlag hat die bislang von diesem Treibsatz gewohnte gute Kinderstube nicht verdorben. Im Gegenteil. Die Aprilia Tuono V4 1100 RR legt so frisch los wie nie zuvor, drückt bereits beim kleinsten Dreh am Gasgriff souverän und erstklassig dosierbar voran. Klack, klack, klack lässt sich das Getriebe mit dem Schaltassistenten nahtlos durchsteppen und verstärkt damit das Gefühl der Leichtigkeit, welches der Vierling unablässig vermittelt.
Doch letztlich bedeutet der spritzige Auftritt im mittleren Drehzahlbereich nur das Vospiel für den zweiten Wind. Denn ab 7000 Touren holt der V4 nochmals tief Luft. Bis zu 20 PS mehr als bislang sollen dann bei 8000/min anliegen. Und dieses Versprechen nimmt man den Technikern ab. Denn selten zuvor war es so leicht, sich mit einem Wheelie aus den Kehren zu katapultieren wie mit der Aprilia Tuono V4 1100 RR. Gas auf und Schlag 7000 wird die Front leicht, hebt sich eine Handbreit über den Asphalt. Mühe- und schwerelos lässt sich das Power-Wheelie anschließend durchziehen. Wenn´s sein soll, bis der Drehzahlbegrenzer dem eruptiven Erlebnis bei 12.000 Touren ein Ende setzt. Was für ein Gefühl! Allerdings nur, wenn der Tuono-Treiber die über ein Lenkerpaddel in acht Stufen während der Fahrt kinderleicht justierbare Traktionskontrolle und die dreistufige Wheeliekontrolle in der aggressivsten Abstimmung belässt. Wenn nicht, reduziert sich das Erlebnis auf schüchterne Baby-Wheelies, die von der Elektronik bereits im Ansatz eingebremst werden.
ABS der Aprilia Tuono V4 1100 RR sportlich abgestimmt
Apropos Elektronik. Es dauert ein Weilchen, bis der Tuono-Treiber sich mit den Bits und Bytes arrangiert hat. Ansprechverhalten und Schleppmoment lassen sich über die Fahrmodi Sport, Track und Race regeln, die Abstimmung des ABS gesondert über das Menü. Dass der Blockierverhinderer in der schnittigen Aprilia Tuono V4 1100 RR grundsätzlich sportlich abgestimmt ist, verwundert nicht. Selbst in der zahmsten Stufe hebt die Italienerin bei der Vollbremsung noch ihr hübsches Hinterteil. Schade nur, dass die in Sachen Elektronik so hochgerüstete Aprilia die derzeit bei Neuentwicklungen so angesagte Blipper-Funktion, also das vom Bordrechner mit Zwischengas unterstützte Herunterschalten ohne Kupplung, noch nicht besitzt.
Sei´s drum, denn auch beim Fahrwerk fällt auf, dass die Aprilia Tuono V4 1100 RR umgänglicher geworden ist. Viel samtiger als beim Vorgängermodell saugen die spürbar weicher abgestimmten Sachs-Federelemente Bodenwellen und Schlaglöcher auf, treffen punktgenau den Kompromiss zwischen dem nötigen Feedback und dem für die Hatz auf holprigen Landstraßen sinnvollen Komfort. Gut so. Zumal die restliche Feinarbeit wiederum die sportliche Attitüde der Tuono stärker betont. Zusammen mit dem weniger gekröpften Lenker rückt auch die abgesenkte Front den Fahrer einen Tick nach vorn, lässt ihn das Vorderrad etwas stärker belasten.
Auf der Landstraße allemal ganz vorn dabei
Und so sticht die domestizierte Italienerin zielgenau in die Kehren, hält präzise und neutral die Linie. Genuss ohne Reue. Was auch für die überarbeiteten Bremsen gilt. Mit den aggressiver ausgelegten Belägen lässt es sich mit etwas geringerer Handkraft und definierterem Druckpunkt in die Kurven hineinbremsen, auch in dieser Beziehung den Feinschliff an der neuen Aprilia Tuono V4 1100 RR genießen.
Und dabei vergessen, dass es eigentlich zweitrangig ist, ob die feingeschliffene Tuono auf dem Datenblatt nun wieder den Chefposten bei den Kraft-Naked-Bikes inne hat. Auf der Landstraße ist sie allemal ganz vorn dabei. Allerdings auch auf der Preisliste. Mit 16.490 Euro muss für die schnittige Aprilia Tuono V4 1100 RR genau ein Tausender mehr als für ihre Vorgängerin angelegt werden. Oder nochmals 1500 Euro mehr für die Factory-Version. Die kostet mit Gabel, Federbein und Lenkungsdämpfer von Öhlins, einem 200er-Hinterradreifen, der Heckverkleidung der RSV4 und aufwendiger Lackierung 17.990 Euro. Für beide gilt: Die Versuchung ist groß.
Video - Aprilia Tuono V4 1100 RR im PS-Fahrbericht
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Technische Daten Aprilia Tuono V4 1100 RR

Urteil

Ein aufregendes Naked Bike war die Tuono schon immer. Mit dem Hubraumnachschlag und den Detailänderungen hat der Donnerbolzen in jeder Beziehung gewonnen. Mehr Druck in der Drehzahlmitte und mehr Komfort auf der Landstraße werten die schnittige Italienerin eindeutig auf, machen sie noch prickelnder. Dafür bezahlt man für die neue Aprilia Tuono V4 1100 RR auch einen Tausender mehr – auch wenn´s ein bisschen weh tut.