Machen wir’s kurz: Es ist vollbracht. 172 PS drückt die neue Aprilia Tuono V4 1100 RR auf die Rolle des MOTORRAD-Leistungsprüfstands. Das sind nicht nur sieben Pferde mehr als ihre 165 PS starke Vorgängerin, sondern – erheblich wichtiger – genauso viele wie die KTM 1290 Super Duke R, das bislang kräftigste aller Power-Naked-Bikes. Manch einer mag sich über die postpubertären Muskelspielchen amüsieren, letztlich sind sie aber Usus im Kreis der potenten Naked Bikes. Dort will die aufgerüstete Italienerin künftig ein kräftigeres Wörtchen mitreden. Das hätte sie bislang schon können. Mit einem Design, wie es eben nur in Italien entstehen kann, und mit ihrem hochemotionalen V4-Motor. Doch in der Zulassungsstatistik erschien die rassige Italienerin seit ihrem Premierenjahr 2011 nur auf den Rängen zwischen 80 und 100. Woran lag’s? Zu wenige Händler, mangelndes Vertrauen in die Haltbarkeit, das in jüngster Zeit noch weiter bröckelnde Markenimage? Wohl an einer Mischung aus allem.
Doch die Zeit ist zu schade, um Wunden zu lecken. Gerade jetzt, wo die neue Aprilia Tuono V4 1100 RR ihre ältere Schwester im Schlepptau hat, um im direkten Vergleich zu zeigen, wie gut die Stunden im Sportstudio und im Schönheitssalon angeschlagen haben. Motorseitig hievt eine drei Millimeter vergrößerte Bohrung den Hubraum von 1000 auf 1077 cm³, und jedes der vier Pleuel speckte um stattliche 100 Gramm ab. In Sachen Fahrwerk knapsten Federelemente mit kürzerer Einbaulänge und einem um einen Zentimeter gekappten Federweg 20 Millimeter (vorn) beziehungsweise zehn Millimeter (hinten) an der Fahrhöhe, wurden die Schwinge um vier Millimeter verlängert, die Lenkerbreite um 16 Millimeter reduziert und aggressivere Bremsbeläge verbaut. Zu guter Letzt erhielt die Lampenmaske eine überarbeitete Optik und soll 1,5 Kilogramm abgehungert haben.
Bassig, prickelnd, unverwechselbar
Doch trotz aller Diäten und Kraftkuren: Zuallererst fällt die weicher gepolsterte Sitzbank auf. Erheblich kommoder als auf der vergleichsweise dünnen Sitzgelegenheit des 2014er-Modells residiert es sich auf der neuen Aprilia Tuono V4 1100 RR. Erst später wird man merken, dass der griffigere Bezug den Fahrer und vor allem den Passagier deutlich besser fixiert, beim Beschleunigen und Bremsen hilft, die Muskeln etwas zu entlasten. Energie sparen. Auch das noch. Ganz sicher ist das nicht das Kernthema bei den beiden Kraftmäxen. Im Gegenteil. Jedes Gasanlegen scheinen die beiden V4 als Aufforderung zur Selbstinszenierung zu verstehen. Was für ein Sound! Bassig, prickelnd, unverwechselbar. Dass das akustische Erlebnis vor dem Hintergrund der aktuell wieder aufflammenden Lärmdiskussion mit etwas geringerer Lautstärke sicherlich kaum weniger genussreich ausfallen würde, sei trotzdem erwähnt.
Dennoch kann selbst der imposanteste Klangteppich die Sinne nicht von dem auf Anhieb spürbaren Unterschied zwischen den beiden Motoren ablenken. Zwar zieht der V4 des 2014er-Tuono sauber und unaufgeregt aus den Kurven, bleibt im Drehzahlkeller aber immer etwas zurückhaltend, um erst ab 7000 Touren sein Feuerwerk abzubrennen. Imposant genug, um jeden Eckenwetz in ein aufregendes Happening zu verwandeln, wenn es der aufgebohrte Motor nicht noch viel besser könnte. Quasi aus dem Stand macht der aufgestockte Treibsatz der neuen Aprilia Tuono V4 1100 RR seine Ellbogen breit, liegt in Leistung und Drehmoment mindestens zehn Prozent über dem 1000er-Aggregat. Was das Prüfstandsdiagramm objektiv dokumentiert, wirkt sich subjektiv noch spektakulärer aus. Gerade im praxisrelevanten unteren und mittleren Drehzahlbereich krempelt der Neue viel entschlossener die Ärmel hoch, hängt spontan und souverän am Gas und antwortet auf den geringsten Dreh der rechten Hand mit sattem Schub. Dank optimierten Mappings bügelt er obendrein noch den am bisherigen Modell gut spürbaren Lastwechselschlag am Kurvenscheitelpunkt glatt. Beeindruckend, was ein paar Schnapsgläser mehr Hubraum und einige umprogrammierte Bits und Bytes bewirken können.
Aprilia Tuono V4 1100 RR mit 15er-Ritzel
Allerdings: Schützenhilfe zum famosen Auftritt leistete auch der Griff in die Trickkiste. Nachdem die Aprilia bereits bei der letzten Überarbeitung vor zwei Jahren ein in den ersten drei Gängen kürzer übersetztes Getriebe erhielt, ketteten die Italiener die neue Aprilia Tuono V4 1100 RR mit einem 15 statt 16 Zähne großen Ritzel nochmals kürzer. Eine Maßnahme, von der die Tuono auf der Landstraße durchweg profitiert. Zumal die 1100 RR das von den Nakeds mit Reihenvierzylindern suggerierte Gefühl, im letzten Gang zu kurz übersetzt zu sein, nie vermittelt – auch wenn sie im sechsten Gang jetzt so kurz übersetzt ist wie das 2014er-Modell im fünften. Dass sie deshalb bei 255 km/h statt bisher 272 km/h in den Begrenzer läuft, dürfte bei dem windumtosten Freiluftsitzplatz eines Naked Bikes wohl nur von untergeordneter Bedeutung sein.
So schnalzt die Aprilia Tuono V4 1100 RR so frisch wie nie zuvor aus jeder Kurve, lässt sich mit dem serienmäßigen Schaltassistenten nahtlos und ohne Kupplung durch die enger zusammengerückten Gänge steppen und distanziert ihre Schwester mit Leichtigkeit. Verwunderlich bleibt nur, dass ausgerechnet die elektronisch so hochgerüstete Tuono auf den Blipper, also das vom Bordrechner mit Zwischengas unterstützte Herunterschalten ohne Kupplung verzichtet. Wobei sich der Tuono-Pilot davon abgesehen – wie bisher – auf die ausgeklügelten Assistenzsysteme verlassen kann. Ansprechverhalten und Schleppmoment lassen sich über die Fahrmodi Sport, Track und Race regeln, die Abstimmung der Traktions- und Wheelie-Kontrolle davon unabhängig über das Menü. Während die Unterschiede beim Schleppmoment kaum spürbar ausfallen, wandelt sich das Ansprechverhalten von zahm im S-Modus bis spontan in der R-Abstimmung. Was gefällt, bleibt Geschmackssache. Und was die in acht Schritten justierbare Schlupf- und die dreistufige Wheelie-Regelung betrifft: Wer beim flotten Ritt erlebt hat, wie sanft die Elektronik das aufsteigende Vorderrad wieder auf den Boden zurückholt und wie häufig die flackernde Leuchte im Cockpit die Arbeit der Traktionskontrolle dokumentiert, der wird erkennen, dass die noch junge Technik gleichzeitig Sicherheit und Fahrspaß steigert.
Neue Tuono dämpft etwas wirkungsvoller
Und wie bei der Getriebeübersetzung setzten die Ingenieure auch bei der Fahrwerksabstimmung den bereits bei der jüngsten Überarbeitung eingeschlagenen Weg in Richtung mehr Komfort fort. Zwar mutet die Kombination aus reduzierter Druckstufendämpfung (Gabel und Federbein), erhöhtem Ölstand (Gabel) und mehr Federvorspannung (Federbein) zunächst ungewöhnlich an, doch das Ergebnis überzeugt. Unterstützt von der besagt flauschiger gepolsterten Sitzbank schlucken die neu abgestimmten Sachs-Elemente Querrillen und Kanaldeckel wirkungsvoller weg als die der 2014er-Version. Zumal die durch die kleinere Luftkammer progressiver arbeitende Gabel gerade auf Holperpisten auch noch für spürbar geringere Nickbewegungen sorgt.
Und keine Angst: Mit Aufschaukeln hat auch die schwächer gedämpfte Tuono nichts am Hut. Im Gegenteil. Blitzsauber zieht sie auch auf Holperpisten ihre Linie, zeigt sich einen Tick abgeklärter und präziser als das Schwesterchen. Was sicher auch an der Kombination aus der gekürzten Gabel, dem dadurch um 0,4 Grad steileren Lenkwinkel und der durch den etwas niedrigeren Lenker erhöhten Last auf dem Vorderrad liegt. Wer den flotten Strich liebt, wird die Geometrie-Kosmetik mögen. Weniger Rasante werden die etwas aufrechtere und bequemere Sitzposition auf der 2014er-Tuono bevorzugen.
Aprilia Tuono V4 1100 RR schluckt 6,5 Liter
Keine Diskussion wird es um die neu gewählten Bremsbeläge geben. Die Frischlinge beißen vor allem in der Anfangsphase kräftiger und leichter dosierbar zu als ihre letztjährigen Pendants. Zumal die Aprilia-Mannen auch für die extreme Verzögerung nachgelegt haben. Mit dem neuesten Bosch-Druckmodulator (9 MP) regelt das ABS der 2015er-Tuono bei Vollbremsungen sensibler als die 2014er-Ausgabe. Dass der in drei Stufen einstellbare Blockierverhinderer in der schnittigen Tuono grundsätzlich sportlich abgestimmt ist, verwundert nicht. Mit beachtlichen 10 m/s² verzögert sie in der aggressivsten Abstimmung (Stufe 1) denn auch an der Grenze des für ein hohes und kurzes Naked Bike Machbaren, hebt dabei aber kräftig ihr hübsches Heck. Nervenschonender und immer noch auf klassenüblichem Niveau bleibt die Bremsleistung in den Stufen 2 und 3. Allerdings auch nur mit kleineren und leichten Piloten. Größere Fahrer (bereits ab 1,80 Meter) zwingen die Aprilia Tuono V4 1100 RR bei einer Schreckbremsung selbst auf Level 3 zum Stoppie. Im Notfall keine gute Option – auch wenn sich die Aprilia in dieser Beziehung in Gesellschaft deutlich weniger sportlich orientierter Maschinen (beispielsweise der Yamaha MT-07) befindet.
Und wenn wir schon beim Mäkeln sind: Einen Fauxpas leistet sich die Aprilia Tuono V4 1100 RR an der Tankstelle. Mit 6,5 Litern bei moderatem Landstraßentempo und 7,1 Litern bei konstanten 130 km/h auf der Autobahn schluckt die Neue kaum weniger Sprit als ihre ältere Verwandtschaft. Zeitgemäß ist das ausschweifende Trinkverhalten sowieso nicht. Auch pekuniär ziert sich die 1100er nicht. Mit 16 490 Euro kostet die Neue einen runden Tausender mehr als die im vergangenen Jahr auch schon üppig kalkulierte, 15 500 Euro teure Vorgängerin. Wer’s sich leisten kann oder will, darf noch mal 1500 Euro für die Factory-Version (Gabel und Federbein von Öhlins, 200er-Hinterradreifen, Heckverkleidung der RSV4, aufwendige Lackierung) drauflegen.
Dennoch: Gerade der direkte Vergleich zeigt, wie gezielt die Aprilia-Techniker die Tuono weiterentwickelt haben. Die neue Aprilia Tuono V4 1100 RR ist ihrer Vorgängerin in fast allen Bereichen überlegen, spielt in Sachen Komfort und Druck in der unteren Drehzahlhälfte sogar in einer anderen Liga. Das sollte doch für ein paar Plätze weiter oben in der Zulassungsstatistik reichen. Vielleicht sogar für ein paar Dutzend.

"Dasselbe Herz, aber verschiedene Seelen", mit diesen Worten umschreibt Aprilia-Ingenieur Piero Soatti die Unterschiede zwischen den Motoren von Superbikes und Power-Naked-Bikes. In der Tat verwendet die Mehrzahl der Hersteller für ihre nackten Kraftmäxe Antriebe, die aus den jeweiligen Supersport-Schwestermodellen stammen. Zahmere Steuerzeiten, engere Ansaugkanäle sowie eine kürzere Übersetzung sind probate Mittel, um die potenten Sportskanonen an ihr neues Umfeld anzupassen. Mit diesen Maßnahmen wurde in den vergangenen Jahren auch der V-4 für die Aprilia Tuono domestiziert. Doch offensichtlich teilen sich nun die Entwicklungsstränge. Während der Kraft-Nackedei in der neuen Aprilia Tuono V4 1100 RR Bums im Drehzahlkeller vor allem durch die Hubraumvergrößerung auf 1077 cm³ generiert, bleibt der Hubraum der RSV4 – auch wegen der Homologation für den Superbike-Rennsport – unverändert bei 999 cm³.
Um mit der aktuellen Leistungsexplosion in diesem Segment Schritt halten zu können, musste an den Vierzylinder in der Sprilia RSV4 allerdings kräftig Hand angelegt werden. So wurden an den Nockenwellen stattliche 600 Gramm Material eingespart, die Ein- und Auslassventile bestehen nun aus leichtem Titan. Auch die um 1,3 Kilo leichtere und mit einem effizienteren Entlüftungssystem ausgestattete obere Gehäusehälfte bleibt dem Superbike vorbehalten. Ebenso die tiefere, nach unten gezogene Ölwanne, die den Ölpegel und damit die Panschverluste senken soll. Der Ölstand kann nun nicht mehr im bisherigen Schauglas abgelesen, sondern muss per Peilstab (auf der Skizze in Gelb) kontrolliert werden. Eine variable Saugrohrlänge, wie sie bei der RSV4 bisher schon Standard war, kam bei der Aprilia Tuono noch nie zum Einsatz. Dass sich die Mühe gelohnt hat, beweist der jüngste MOTORRAD-Superbike-Vergleichstest (Heft 11/2015). In dessen Rahmen drückte die mit bislang 177 PS gemessene RSV4 immerhin 203 PS auf die Prüfstandsrolle.
Neidisch braucht der Tuono-Treiber dennoch nicht zu werden. Der Hubraum-Nachschlag, die leichteren Pleuel und das gelungene Mapping haben ausgereicht, um den Antrieb noch passgenauer auf den Charakter eines unverkleideten Landstraßenwetzers zuzuschneiden. Und: Nach der Überarbeitung avancierte der nun 172 PS starke Tuono-Treibsatz – gleichauf mit der KTM 1290 Super Duke R – zum kräftigsten Motor des Power-Naked-Bike-Segments.
Fazit aus dem Top-Test





Emotional konnte schon der bisherigen Tuono kaum ein Motorrad das Wasser reichen. Nun hat der Hubraumnachschlag, die komfortabler abgestimmte Federung und viel Arbeit im Detail das Naked Bike in fast jeder Beziehung entscheidend verbessert – und die Tuono damit noch prickelnder gemacht. Es fällt schwer, der Aprilia Tuono V4 1100 RR zu widerstehen. Sehr schwer.