Die Geschichte der Van Veen begann 1971. Der holländische Kreidler-Importeur Henk van Veen wollte das exklusivste Motorrad bauen, das die Welt jemals gesehen hatte. 1974 präsentierte er einen Prototyp: ein Wankel-Triebwerk von Mazda im Moto-Guzzi-Rahmen. Keiner glaubte, dass dies einmal ein faszinierendes Motorrad sein würde. Zu ungewöhnlich der Motor, zu grobschlächtig ihr Design und nicht zuletzt viel zu teuer. Van Veen wählte einen Rotationskolbenmotor von Comotor, einer Tochterfirma von Citroën und NSU. Das Aggregat war eine Weiterentwicklung des im NSU RO 80 verbauten und trieb auch den Citroën Birotor GS an: ein Zweischeiben-Wankel mit einem Kammervolumen von jeweils 498 cm³. Die markante Form der OCR 1000 gestaltete der Grand-Prix-Fahrer Jos Schurger.
1976 bestaunte die Öffentlichkeit einen Prototyp, der für damalige Verhältnisse beachtliche Spezifikationen aufwies: Das Triebwerk leistete 100 PS bei 6500/min, und bereits bei 3000/min lagen 60 Prozent seiner Maximalleistung an. Von 0 auf 100 km/h benötigte die fliegende Holländerin 3,8 Sekunden; 16 bis Tempo 200. Ihre Höchstgeschwindigkeit lag bei beeindruckenden 224 km/h, obwohl auch ihre Masse beeindruckte: 292 Kilogramm drückte sie auf die Waage. Noch im selben Jahr öffnete die Produktionsstätte in Duderstadt ihre Tore. Doch das Ziel, bereits im zweiten Jahr 2000 Maschinen zu verkaufen, lag in unerreichbarer Ferne. Comotor war in die Krise gerutscht und hatte nicht mehr als 50 Motoren geliefert. Auch hatte Henk van Veen den Entwicklungsaufwand mächtig unterschätzt.
Eine OCR 1000 kostete rund 24 000 Mark, eine BMW R 90 S, das damalige Spitzenmodell aus München, weniger als halb so viel. Nur 38 Motorräder hatte das Unternehmen gebaut, als es seine Produktion einstellen musste. Der holländische Wankel-Fan Ger van Rootselaar erwarb die Überreste des Unternehmens, der Vorhang fiel endgültig.
Melkebeek
Eine Wucht: Sowohl die nackte als auch die vollverkleidete Maschine ist massig.
Fast 30 Jahre sind seitdem vergangen. Jetzt tut sich wieder etwas im Wankel-Lager. Van Rootselaar, der seit seinem zwölften Lebensjahr alles sammelt, was wankelt, baute sich aus Restteilen eine OCR 1000 zusammen, die 39. Maschine. Weitere Ambitionen besaß er damals noch nicht.
Mit Andries Wielinga teilt er die Leidenschaft für klassische Citroën und besonders für den seltenen Birotor. Gemeinsam entwickelten sie die Idee, die letzten zehn Maschinen aus den Restbeständen der Konkursmasse zu bauen. Andries übernahm die Relikte, darunter die Gussformen, die mittlerweile digitalisierten Pläne sowie Maschine Nummer 39. Er wird die Motorräder zusammenbauen. Die Motorentechnik betreut van Rootselaar. In dem Konvolut befanden sich zwölf komplette Motoren, die nach 30 Jahren Dornröschenschlaf eine gründliche Revision benötigen.
Wielinga bringt uns zur Produktionsstätte im Norden Hollands. Die Werkstatt ist klein, in den Regalen liegt Henk van Veens Traum, ordentlich in Kunststoff-Boxen verstaut. Weil das Comotor-Aggregat ursprünglich Pkws antreiben sollte, müssen sie es erst an den Einsatz im Motorrad anpassen. „Porsche hat gute Arbeit geleistet“, sagt Wielinga, als er den linken Motorseitendeckel präsentiert. Der rechte ist zugleich der Deckel des Getriebes, entwickelt von dem deutschen Sportwagenhersteller. „Das war nicht gerade billig“, schmunzelt er. Er zeigt uns alle Details, von den Armaturen über die Ronal-Gussräder bis hin zu den Verkleidungsteilen; sogar die Buchstaben, die den Schriftzug auf dem Tank formen sollen und noch in schützendem Plastik stecken. „Wir werden in der Lage sein, die Version mit und ohne Verkleidung zu bauen“, sagt er und enthüllt einige Verkleidungsteile. Den Rahmen in den originalen Abmessungen wird Nico Bakker liefern.
Obwohl die Nachricht von der neuen OCR 1000 noch kaum bekannt ist, gibt es bereits zahlreiche Interessenten aus Insider-Kreisen. „Wir haben Anfragen aus Holland, Deutschland, Australien und England“, so Wielinga. Abgesehen von Nummer 39 wurde bisher nur eine weitere aufgebaut. Die erste der zehn neuen trägt demzufolge die Nummer 41. Und sie wartet darauf, gefahren zu werden. Ein magischer Moment.
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Andries Wielinga (links) baut die Motorräder zusammen, Dirk Kniep vermarktet sie.
Wielinga startet den Motor mit einem Knopfdruck. Wir versuchen, den Klang zu definieren, der den beiden schwarz lackierten, bananenähnlichen Schalldämpfern entweicht. Er ist mit nichts vergleichbar und liegt irgendwo zwischen dem sonoren Geblubber eines Viertakters und dem raueren Rengdengdeng eines Zweitakters. Die Sitzposition erinnert an eine 70er-Jahre-Goldwing: bequem und aufrecht. Die Bank ist komfortabel, der breite Lenker liegt gut in der Hand. Der Motor läuft fast vibrationsfrei – eine Eigenart des Wankels. Eine anderes Merkmal, das geringe Gewicht des Antrieb-Konzepts, geht in der schieren Masse unter: Die Van Veen ist schwer. Doch einmal in Fahrt, ist von ihrem Gewicht kaum noch etwas zu spüren. Gut ausbalanciert und handlich muss sie sich nicht hinter moderneren Motorrädern verstecken. Schon mit seinem 50er-Kreidler-Team wusste Henk van Veen um die Wirkung einer optimalen Fahrzeug-Geometrie, und so fährt sich auch die 1000er erstaunlich wendig.
Weil der Kilometerzähler erst jungfräuliche 60 Meilen anzeigt, vermeide ich es, rücksichtslos den Hahn aufzudrehen. Auch bis 6000/min zeigt der Motor, was in ihm steckt. Bei niedrigen Drehzahlen beeindruckt er wenig. Das ändert sich spontan, als die rechte Hand am Gasgriff dreht. Ein modernes Superbike wird er natürlich nicht schlagen können, für ein 35 Jahre altes Konzept beeindruckt er dennoch. Die Brembo-Bremsen - Doppelscheibe vorn, Einzelscheibe hinten - entsprechen jenen der 38 alten Van Veens und verzögern die neue OCR angemessen. Sie verlangen jedoch nach einer kräftigen Hand. Bemerkenswert ist, dass die Lastwechselreaktionen des Kardans kaum zu spüren sind, im Gegensatz zum Fahrstuhleffekt einer Boxer-BMW derselben Zeit. Vorne ist die gleiche Gabel verbaut, wie beim Original; hinten sorgen Koni-Federbeine für Fahrtkomfort.
Die beiden Holländer bauen die neue Van Veen mit größtmöglicher Rücksicht auf Originalität zusammen. Natürlich sind die modernen Reifen von Michelin und die Federelemente besser als damals, ebenso das Triebwerk. Sie behaupten, den Motor von Nummer 41 drei Mal aufgebaut zu haben, bis sie zufrieden waren. Um sicherzugehen, dass kein Öl austritt, entwickelten sie sogar neue Dichtungen. „Die Käufer sollen die Maschinen schließlich fahren“, wünscht sich Wielinga. „Wir bieten den Besitzern einen Kundendienst und zwei Jahre Gewährleistung. Außerdem haben wir für jedes technische Problem Ersatzteile auf Lager“, sagt er.
Die Van Veen OCR 1000 war schon damals ein exklusives Motorrad, und sie ist es noch immer. Auf zehn Stück limitiert wird auch die neue ein Vermögen kosten. Ein Interessent muss 85 000 Euro hinblättern, um sie sein Eigen nennen zu können. Das ist etwa so viel wie sechs BMW S 1000 RR, das aktuelle Superbike aus München. Und mehr als 50 Van Veens wird es auch in Zukunft nicht geben.
Technische Daten
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Keine Dutzendware: das Triebwerk von Comotor, präpariert für die OCR 1000.
Motor | | Bauart | Wassergekühlter Zweikammer-Wankelmotor von Comotor | Kammervolumen | 498 cm3 |
Verdichtung | 09:01 | Leistung | 100 PS bei 6500/min |
Drehmoment | 135 Nm zwischen 3500/min und 5000/min | Gemischaufbereitung | Solex-Doppelfallstromvergaser, Ø 32 mm |
| | Elektrische Anlage | | Starter | Elektrostarter | Batterie | 12 V / 28 Ah |
Zündung | elektronische Busch-Jaeger/Hartig-Zündung, kontaktlos | Lichtmaschine
| Drehstromlichtmaschine, 12 V / 240 W |
| | Kraftübertragung | | Kupplung | Vierscheiben-Trockenkupplung, hydraulisch betätigt | Getriebe | Vierganggetriebe klauengeschaltet |
Getriebeübersetzung | 1:2,35; 1,6; 1,10; 0,88, | Sekundärantrieb | Kardan |
Sekundärübersetzung | 2,66:1 | | |
Fahrwerk | | Rahmenbauart | Doppelschleifenrahmen aus Stahlrohr |
Radführung vorn | Teleskopgabel | Radführung hinten | gegossene Leichtmetall-Schwinge, Stereo-Federbeine von Koni |
Federweg vorn/hinten | 165 mm / 110 mm | Räder
| Gussräder |
Reifen vorn | 110/90 V 18 | Reifen hinten | 120/90 V 18 |
Bremse vorn
| Doppelscheibe Ø 280 mm | Bremse hinten | Einzelscheibe Ø 280 mm |
| | Maße und Gewichte | | Gewicht | 292 kg | Tankinhalt | 22 Liter |
| | Fahrleistungen | | Höchstgeschwindigkeit | über 200 km/h | Beschleunigung | 3,8 s von 0 auf 100 km/h |
| | Preis | 85 000 Euro |
| | Hersteller | Andries Wielinga; Informationen bei Dirk Knip: drknip@hotmail.com |