
Mittelklasse-Motorräder mit 800-Kubik-Motoren. Schon beim Lesen der Fahrzeugkategorie rollt es sportlich orientierten Motorradfahrern die Fußnägel auf. Mittelklasse steht unterbewusst für langweilige, lahmarschige Möhren, die von Studenten zur Uni und quer durchs Leben gefahren oder von spießigen Beamten zur Behörde und zurück bewegt werden. Sie stehen für die ewig zitierte eierlegende Wollmilchsau, den treuen Begleiter an allen Tagen, was eigentlich doch nur nette Umschreibungen für graue Mauerblümchen auf zwei Rädern sind. Der Begriff Mittelklasse suggeriert, dass Mittelklasse auch Mittelmaß ist. Und Mittelmäßigkeit turnt eben ab. Sind die hier zum Test versammelten Achthunderter also graue Mäuse am Rande der Gesellschaft?
Weit gefehlt, lieber Leser! Wie im echten Leben auch, bildet die Mittelklasse das Rückgrat unserer Gesellschaft. Und lässt in unserem Fall jedem genug Raum, sich zu entfalten. Wie könnte es sonst sein, dass in einem Testfeld wie diesem Motorräder aufeinandertreffen, die weniger wiegen wie manche Supersport-Sechshunderter und besser durchziehen als ausgewachsene Superbikes?

Mit der taufrischen MV Agusta Brutale 800 und der neuen Kawasaki Z 800 sowie den etablierten Größen BMW F 800 R und Yamaha FZ8 stehen hier vier eigenständige Vertreter dieser Mittelklasse vor uns. Ein Twin, ein Triple und zwei Vierzylinder-Motoren werkeln in einem Stahl-Gitterrohr, einem Stahl-Brücken und zwei Leichtmetall-Brückenrahmen. Einzig bei den Radgrößen sind sie sich einig, tragen vorne wie hinten identische Rad- und Reifengrößen. Leistungsmäßig stehen zwischen 94 und 121 PS zur Verfügung, während die Waage zwischen 186 und 231 Kilogramm vollgetankt pendelt. Auch preislich gibt es einigen Spielraum: Die Teuerste der Bande ist die MV Agusta, die für MV-Verhältnisse mit 9990 Euro immer noch günstig ist. Ihr folgen die mit Tourenpaket und Sonderzubehör auf 9610 Euro aufgeblasene BMW (Grundpreis 8900 Euro) und die Kawasaki mit 9495 Euro. Preisbrecher im Bunde ist die FZ8, die für 8850 Euro zu haben ist. Fairerweise muss erwähnt werden, dass die Brutale 800 das Motorrad mit der reichhaltigsten Ausstattung ist. Als Einzige besitzt sie ein voll einstellbares Fahrwerk, eine Traktionskontrolle (die aber nur sehr mäßig funktioniert), vier verschiedene Mappings der Einspritzanlage sowie Laptimer, Ganganzeige und Schaltblitz.
Die Yamaha dagegen hält es simpel, getreu dem Motto: Was nicht dran ist, geht auch nicht kaputt. Weder Einstellmöglichkeiten am Fahrwerk (mit Ausnahme der Federvorspannung am Federbein) noch eine Ganganzeige stehen zu Diensten. Aber ein ABS sorgt für Sicherheit bei Schreckbremsungen. BMW und Kawasaki sind da ebenfalls besser aufgestellt. ABS gehört bei ihnen zum guten Ton, an den Federbeinen lässt sich neben der Federvorspannung zumindest noch die Zugstufendämfung regulieren. Und in den Cockpits gibt es das ein oder andere Feature, Stichwort Restreichweitenanzeige, das selbst großen Touren-Motorrädern gut zu Gesicht steht. Genug der technischen Bestandsaufnahme, nehmen wir uns den vier Aggregaten, ihren unterschiedlichen Bauweisen und damit schlussendlich ungleichen Charaktern an.

Trieb-Werke
Wer auf der Landstraße brennen gehen will, braucht Feuer im Kessel. In unserem Fall reichen 800 Kubikzentimeter Hubraum für heiße Fahrdynamik. Dominant in diesem Bereich, die MV Agusta. Sie sprintet los wie eine Große, zieht durch wie ein Ochse und fegt die Konkurrenz einarmig von der Platte. Aus dem Stand bis 200 km/h drückt sie der starken Kawasaki 3,3 Sekunden aufs Auge, der leistungsarmen BMW sogar 5,1 Sekunden. Eben so heftig wird es, wenn die Brutale im letzten Gang ihre Muskeln spielen lässt: Dann brennt sie der ebenfalls gut durchziehenden Z 800 von 50 auf 150 km/h 2,2 Sekunden auf. Der eher milden Yamaha schenkt sie bei dieser Übungvolle 4,9 Sekunden und damit eine halbe Ewigkeit ein.
Aber warum schafft es die Brutale dann nicht, sich auf der Teststrecke von den anderen drei mit Siebenmeilenstiefeln abzusetzen? Weil ihr genialer Motor sehr schwierig zu kontrollieren ist, was mehrere Ursachen hat und bereits beim Erfassen der Fahrleistungen auffällt. Die Brutale ist das stärkste und leichteste Motorrad im Testfeld und sie besitzt den kürzesten Radstand. In Zahlen und im Vergleich zur Kawasaki liest sich das so: Elf PS mehr Leistung, 45 Kilo weniger Masse und einen um 65 Millimeter kürzeren Radstand. Eigentlich sollte sie trotz des kürzeren Radstands in der Lage sein, die Z 800 von der Startlinie aus über den gesamten Beschleunigungsbereich zu kontrollieren. Kann sie aber nicht. Das Ergebnis des Sprints ist eine von null auf 100 km/h um 0,2 Sekunden schlechtere Beschleunigung. Erst beim Spurt bis 150 km/h wendet sich das Blatt, kann die MV Agusta ihr Leistungs-Plus und geringeres Gewicht umsetzen und die Kawa um 0,3 Sekunden distanzieren. Dass sie die Grüne bis 200 km/h dann um ganze 3,3 Sekunden stehen lässt, ist zwar auf der Autobahn nett, auf der Landstraße aber leider nicht relevant.
Wie lässt sich dieses unausgegorene Beschleunigungsverhalten der MV Agusta erklären? Ursache Nummer eins für den Hänger bis 100 km/h liegt in der Kupplung. Die MV-Kupplung muss mit eiserner Hand bedient werden und besitzt nur einen engen Schleifpunkt. Diese zwei Fakten machen es sehr schwierig, die Brutale aus dem Stand heraus in kontrollierte und beherzte Vorwärtsbewegung zu versetzen, ohne dabei nach hinten herunterzufallen. Die zweite Ursache, die sich im Alltag auf engen Straßen in den Gängen eins bis drei sehr drastisch äußert, ist der heftige Leistungszuwachs zwischen 6000 und 7500/min. Egal, ob beim Losfahren an der Ampel oder beim Aufschnupfen einer Geraden zwischen zwei Kurven. Wird in den unteren Gangstufen dieser Drehzahlbereich erreicht, macht die Brutale Männchen. Was ja nicht schlimm wäre, wenn es da nicht noch einen dritten, höchst relevanten Parameter gäbe: das Ansprechverhalten des Triples auf die Gasbefehle des Piloten. Pirelli warb vor einiger Zeit mit dem Slogan „Power is nothing without control“. Dieser Wahrheit muss sich auch die Brutale 800 beugen, die zwar Power hat, aber kaum Kontrolle darüber zulässt. In keinem ihrer vier unterschiedlichen, wählbaren Mappings kommt das Ansprechverhalten des Dreizylinders auch nur annähernd in den Bereich guter Fahrbarkeit. Das Bild, das die MV abgibt, ist immer das gleiche: Erst spricht sie verzögert auf den Gasbefehl an, dann setzt sie diesen wie ein Überfall-Kommando schlagartig um, um dann auf eine weitere Korrektur wiederum verzögert zu reagieren.
Ein Beispiel gefällig? Der Autor zog bei 50 km/h im zweiten Gang auf einer Geraden das Gas zügig auf, um sich ein Bild von der Leistungsentfaltung zu machen. Erst ging die Brutale zügig vorwärts, sprang dem Schreiber dann aber heftig ins Gesicht, so dass er flott den Hahn wieder schloss. Das Schließkommando wurde so verzögert umgesetzt, dass ein Überschlag nach hinten nur durch Dusel ausblieb. Natürlich setzte das Vorderrad sehr heftig auf, was nicht nur böse aufs Lenkkopflager ging, sondern den Autor auch Sterne sehen ließ, nachdem er mit den Kronjuwelen hart am Tank anstieß. Es gibt bei MV Agusta seitens der Motorsteuerung also noch viel zu tun.

Wie es besser geht, beweisen die Mitstreiter. Am gelungensten ist die Abstimmung der Z 800, deren aus der Z 750 stammender und stark überarbeiteter Vierzylinder als Referenz-Motor für diese Kategorie gesehen werden muss. Er spricht zwar minimal verzögert, aber immer weich an, liefert stets genug Druck für souveräne Beschleunigung und lässt sich dank des tollen, mittig starken Drehmomentverlaufs schön zügig und schaltfaul fahren. Die einzigen Schönheitsfehler des Zett-Vierers sind die recht heftigen und nervigen Vibrationen zwischen 6000 und 8000 Touren sowie das etwas träge Drehvermögen oberhalb von 10000/min. Wer bei dieser Marke zügig hochschaltet, darf sich weiter die Arme von der Grünen lang ziehen lassen.
Auch die BMW als einziger Twin im Testfeld - okay, wen wundert’s - will niedertouriger gefahren werden. Am vitalsten ist der bayerische Zweizylinder im Bereich zwischen der Fünf und der Sieben auf dem Drehzahlmesser, geht dort ruhig und nachhaltig zur Sache. Bei heftiger Heizerei mit den Spielkameraden fehlt es zwar an Drehzahlreserven und Drehvermögen, abhängen lässt sich die F 800 R aber nicht. Nutzt man ihren unaufgeregten Twin im optimalen Leistungsbereich, ist man nicht nur schnell, sondern auch sparsam unterwegs. Mit 5,9 Liter/100 km wird die F 800 zum Sprit-Genießer, während sich die MV bei gleicher Fahrweise mit 7,9 Liter/100 km als Schlucki outet. Mit sieben Litern ist die Yamaha noch vor der Kawasaki, die sich 7,3 Liter/100 km genehmigt. Und das, obwohl die FZ8 am härtesten rangenommen werden muss, wenn die Viererbande über die Landstraße tobt. Dass sie dabei mit der BMW um die rote Laterne kämpft, liegt nicht am Antrieb. Der Motor liefert seine Leistung sehr homogen und wohl dosierbar an der Kette ab, glänzt mit angenehmer Laufkultur und unauffälliger Gasannahme. Er ist sozusagen Schwiegermutters Liebling, agiert so unauffällig wie der BMW-Twin und passt ganz hervorragend zum Passat Kombi-Charakter der FZ8. Man könnte den Yamaha-Antrieb „mittelmäßig“ nennen, doch das würde in ungerechtfertigt abstrafen. Wir nennen ihn vernünftig - und mit einer etwas kürzeren Endübersetzung würde er an Dynamik sicherlich deutlich zulegen.

Fahr-Werke
Ein weiterer Blick in die Punktewertung reicht und man weiß, dass bei der Yamaha der Hund woanders begraben liegt. Im Kapitel Fahrwerk verliert sie auf die BMW neun Punkte, auf den Primus Kawasaki sogar 19 Zähler! Warum? Weil sie schlichtweg nicht für die sportliche Gangart gerüstet ist. Ihr Setup ist von Grund auf so weich, dass flotte bis schnelle Fortbewegung zum Eiertanz wird. Das im Kreis der Tester liebevoll Schaukelschaf bezeichnete Bike verliert allein durch das Aufsitzen einer Person ein Drittel seines Federwegs. Fehlende Dämpfung und Einstellmöglichkeiten verbannen die FZ8 beim Heizen auf die Zuschauerränge. Will sie dennoch mitspielen, muss sie Opfer bringen. In unserem Fall einen heftig aufsetzenden und nun verbeulten Auspufftopf und stark abgeraspelte Fußrasten. Dass bei all dem Gegautsche eine Linie kaum zu treffen ist, muss nicht lange erklärt werden. Am besten, man gibt den anderen drei die Bestellung für das Café mit auf den Weg und cruist mit der Yamaha gemütlich hinterher.
Wie es serienmäßig besser geht, zeigt die Kawasaki. Ordentlich abgestimmt, mit Eingriffsmöglichkeiten bei der Zugstufe, beherrscht sie den Spagat zwischen Komfort und Stabilität. Sie brennt saubere Linien auf den Asphalt, liegt satt und lässt kaum Wünsche offen. Naja, leichter könnte sie sein, dann müsste man in Wechselkurven nicht so wuchten. Wenn die MV das Wort wuchten nur hört, lacht sie sich scheckig. Keine knallt so leichtfüßig und spielerisch in die Ecken wie sie. Zwar fehlt ihr etwas Rückmeldung vom Vorderrad und insgesamt etwas Komfort, doch wen interessiert das schon, wenn man auf Wimpernschlag abbiegen kann. Im Kurvenlabyrinth ist die MV eine Macht. Wäre ihr Antrieb besser zu beherrschen, wäre sie über alle Berge, bevor die anderen den Seitenständer eingeklappt hätten. Doch wenn und wäre zählen nicht, was auch die BMW zu spüren bekommt. Eine straffere Gabel mit mehr Rückmeldung würde ihr schon helfen. So muss man der F 800 R, wie den Boxer-Modellen aus gleichem Hause, einfach vertrauen. Tut man das, geht es zügig um die Häuser. Gewählte Linien werden gut getroffen, und eine ordentliche Schräglagenfreiheit macht Kurvenwetzen zum Vergnügen.
Beim Thema Bremsen kann die MV weiter punkten und Boden gutmachen. Ihre Brembo-Stopper sind am sportlichsten abgestimmt und kommen sehr gut ohne ABS zurecht. Gleichwertig, weil gut dosierbar und mit spät regelndem ABS-System ausgestattet, stehen sich Kawa und BMW gegenüber. Das ABS der Z 800 regelt deutlich weniger als das der BMW, was an der strafferen Abstimmung der Kawa-Gabel liegt. Die F 800 R geht in der Bremszone zu oft auf Block, was deren Blockierverhinderer unnötig häufig aktiviert. Etwas verhaltener, aber keinesfalls schlecht tritt die Yamaha hier auf. Schärfere Bremsbeläge würden die Stopper bissiger machen, allerdings auch eine straffere Gabel erfordern. Aber die soll ja ab März oder April 2013 in einer leicht überarbeiteten FZ8 mit einstellbarem Fahrwerk auf den Markt kommen.

Stil-Werke
So, ist die Mittelklasse nun Mittelmaß? Nach diesem Test sagen wir ganz klar: Nein! Sicherlich vereint der Rotstift die günstigen Allrounder irgendwie - etwa beim Kapitel Fahrwerks-Ausstattung, denn irgendwo müssen die vertretbaren Preise ja schließlich herkommen. Mit verschiedenen Antriebskonzepten, eigenständigen Design-Richtungen und unterschiedlichen Ansätzen, die Kunden zu befriedigen, liefert die 800er-Klasse ein buntes, eindrucksvolles und vielschichtiges Bild. Und dass die Fahrleistungen der Mittelklasse-Motorräder nicht zu belächeln sind, beweisen Kawasaki und MV Agusta eindrucksvoll.
PS-Urteil
1. Kawasaki Z 800
Mit der Z 800 geben die Grünen eine fette Breitseite in Richtung Mitbewerber ab. Obwohl neu, wirkt sie ausgereift und stimmig, setzt sich ohne großartige Macken oder Zickereien an die Spitze eines spannenden und vielseitigen Testfelds.
2. BMW F 800 R
Überraschung, der „lasche“ Twin auf Rang zwei! Und das nicht weil er so gut ist, sondern weil die beiden anderen Mitbewerber ausgeprägte Mängel haben. Der eine stolpert über das Fahrwerk, der andere über den Motor.
3. MV Agusta Brutale 800
Herr, schenke der Brutale ein besseres Motormanagement! Dann reißt sie alles nieder und die Krone der Klasse an sich. So bleibt ihr nur der dritte Platz und das Stigma, mitunter ein gefährliches Motorrad zu sein.
4. Yamaha FZ8
Die FZ8 zielt offenbar auf Fahrer ohne sportliches Interesse. Doch für die gibt es doch die FZ6, oder? Schärft bitte ganz dringend das Schaukel-, äh Fahrwerk nach, dann geht es mit der Achter richtig vorwärts! Oder legt eine FZ8 R auf, die Yamaha-Fans werden es euch danken.
BMW F 800 R | Kawasaki Z 800 | MV Agusta Brutale 800 | Yamaha FZ8 | |
Gabel | ||||
strat. neg. Federweg | 30 mm | 27 mm | 31 mm | 29 mm |
Druckstufe | - | - | 2 U offen | - |
Zugstufe | - | 10 K offen | 10 U offen | - |
Niveau | Standard | Standard | Standard | Standard |
Federbein | ||||
strat. neg. Federweg | 4 mm | 21 mm | 11 mm | 7mm |
Druckstufe | - | - | 1,75 U offen | - |
Zugstufe | 1 U offen | 0,25 offen | 0,25 U offen | - |
Niveau | Standard | Standard | Standard | Standard |
Reifendruck | ||||
vorne und hinten kalt gemessen: 2,3/2,5 bar |
Alle Dämpüfungseinstellungen von komplett geschlossen gezählt; statitischer negativer Federweg senkrecht stehend ohne Fahrer; U=Umdrehungen; K=Klicks.