Sympathie und Antipathie haben in der harten Welt des streng tatsachenbasierten Qualitäts-Motorradjournalimus bestenfalls am Rande Platz. Beschleunigung, Motorcharakteristik, Einlenkverhalten, Ergonomie, Bremsweg, kurz: die 1000 Punkte, das ist das Reinheitsgebot von MOTORRAD. Gemeinsam beurteilen Testprofi und Redakteur streng nach diesem Schema, und das mit hehrem Ziel: größtmögliche Objektivität in der Bewertung sämtlicher relevanter Kategorien zu erreichen. Wo kämen wir schließlich hin, wenn die rosarote Brille bei der schönen Italienerin mit wohlklingendem Namen dazu führte, dass man ein trampeliges Federbein übersähe, absurde Trinksitten oder zweifelhafte Qualität, nur um einige Beispiele zu nennen?
Warum steht diese selbstverständliche Bemerkung vor dem Vergleich der Mittelklasse-Zweizylinder aus Europa? Nun, es gibt da ein Problem, und das heißt F 800 R. Der musterknabige Bayern-Twin stellt die strenge Objektivität, das Nicht-sein-Dürfen von Zu- und Abneigung in der Notengebung auf seine ganz eigene Art und Weise auf die Probe. Zumindest für denjenigen Redakteur, der diese Zeilen tippt. Und in dessen unobjektiver, streng persönlicher Meinung der mittlere BMW-Roadster zwar ein durchweg respektables Produkt darstellt, sicher eine rundum gelungene Ingenieursleistung. Aber eben auch ein ziemlich emotionsfreies Ding. Ein Motorrad, gebaut wie ein Kühlschrank – nicht, um die Seele zu bewegen, sondern mit nüchtern kalkulierter Pflichtbeflissenheit Punkte zu sammeln. An sich kein Problem, Anforderungen und Geschmäcker sind verschieden, und sie ist ja auch ein durchdachter, hocheffizienter Kühlschrank, wie viele Vergleiche, zuletzt gegen Hondas CB 650 F, gezeigt haben.
Nun aber schickt sich dieses streng subjektiv gesehen dröge, kickfreie Ding an, mittels Soziuskomfort, Hauptständer, Heizgriffen und Gepäckbrücke die liebreizenden Emozione-Italienerinnen derselben Klasse zu bügeln? Das, obwohl doch die Shiver ob ihres ungemein gelungenen Fahrverhaltens seit jeher unter Kennern als Geheimtipp gilt und obwohl die 821 Stripe nicht nur eine voll einstellbare Gabel und deutlich mehr Leistung hat, sondern auch einen Racingstreifen? So jedenfalls offenbart es ein vorab vergleichender Blick in die Punktetabelle vergangener Vergleichstests: letzte F 800 R: 664 Punkte, Monster 821, Stripe: 655 Punkte, Shiver 750: 631 Punkte. Ein deutlicher Vorsprung vor den jeweiligen Vorgängermodellen macht den Vergleich augenscheinlich zur ausgemachten Sache. Kann nicht wahr sein: Ein Beinahe-Auslaufmodell (der 800er-Paralleltwin wird in absehbarer Zeit von einer neueren, stärkeren Konstruktion abgelöst) vor den persönlichen Lieblingsöfen Shiver und Monster? Argh! Blasphemie! Zum Teufel mit der Objektivität und den 1000 Punkten! Und außerdem: Das hagelt (zu Recht!) böse Briefe, trägt die BMW mit Dynamik-, Safety- und Touringpaket doch schon wieder volle Ausstattung.
Es müsste sich also, und damit zurück zur faktenbasierten Betrachtung der Dinge, einiges getan haben bei der neuen Shiver 900 und beim Update der Monster, sollte nicht das Ungeheuerliche geschehen. Die Shiver 900 hat, die Modellbezeichnung verrät es, kräftig an Hubraum zugelegt. Ein um elf Millimeter verlängerter Hub verhilft dem 90-Grad-V-Motor bei unveränderter Bohrung zu nun 896 Kubik und damit tatsächlich zu wesentlich mehr Druck über den gesamten Drehzahlbereich. Und dazu, die unveränderte Nennleistung von 95 PS (beinahe) zu erreichen – frühere 750er blieben zur homologierten Leistung einige Gäule zu viel schuldig. Auf der Landstraße ist die Aprilia damit souverän motorisiert, das Aggregat schiebt ungemein fleischig aus tiefstem Drehzahlkeller, ermöglicht ohne Drehorgien satte, endorphinhaltige Beschleunigung. Dazu passt bestens der bassig-bollernde, rotzige Klang aus dem Alte-Schule-Untersitzauspuff. Der Antrieb versprüht hubraumsattes amerikanisches MuscleBike-Flair, ergänzt um Drehfreude – geht richtig ins Blut. Echter Fortschritt auch in Sachen Gasannahme, die im Vergleich zu früher (die 750er war 2007 das erste Serienmotorrad mit Ride-by-Wire) durch alle drei Fahrmodi sehr geschmeidig, ruckfrei und fein linear erfolgt. Ein extrem fahrbarer, charakterstarker, für einen V2 zudem ausgesprochen laufruhiger Motor.
Derlei Charme geht dem 798-Kubik-Reihenzweier aus Spandau ab. Der Twin zündet unkonventionell im 360-Grad-Abstand, tönt blechern-technokratisch wie der große Boxer und für ein Euro 4-Motorrad nicht unbedingt dezent. Er vibriert stärker und ab mittelhohen Drehzahlen in unangenehmerer Frequenz. Objektiv aber muss man dem länger hubenden Antrieb trotz in diesem Vergleichsfeld eher mauem Einstieg ins Drehzahlband guten Durchzug, Drehfreude, kräftige Spitzenleistung sowie eine chirurgisch korrekte Gasannahme zugestehen. Beim Topspeed schenken sich beide nichts, die Messwerte weisen allerdings sogar eine etwas bessere Beschleunigung für die F 800 R aus. Gründe? Propere 225 Kilogramm fahrfertig drücken etwas auf die Fahrleistungen, die Shiver gehört nicht zu den leichtesten der Klasse. Unterm Strich daher motorisches Patt.
Leider umgekehrt verhält es sich bei der Shiver 900. Wesentlich kürzerer Radstand (1465 Millimeter) suggeriert agiles Handling, das sich auf Testfahrt allerdings nur bedingt einstellen wollte. Auch hier liegt der Schlüssel im Pneu: Dunlops Sportmax Qualifier ist ein hölzern abrollender, diffus rückmeldender Uralt-Gummi, erst recht verglichen mit dem zum Teil auf früheren 750ern montierten Pirelli Angel ST. Dazu spannt sich der 180er hinten auf eine extrabreite Sechs-Zoll-Felge (statt üblicher 5,5 Zoll), was zu einer das Einlenken hemmenden, extrem flachen Kontur führt. Mit diesem Reifen gestraft, sträubt sich die Shiver am Kurveneingang, fordert in Verbindung mit einem spürbar hohen Schwerpunkt (Underseat-Auspuffe sind nicht zufällig aus der Mode) konzentrierte Führung – das kostet Fahrspaß und Punkte.
Per Fahrwerkseinstellung Verbesserung herbeizuzaubern, hilft: Die Zugstufe des Federbeins der Testmaschine war fast vollständig geschlossen, zu zähes Ausfedern des Hecks die Konsequenz. Sie auf 15 von 34 Klicks zu öffnen, eliminierte die taumelnde Reaktion auf Impulse in Schräglage. Nicht beheben ließ sich jedoch eine Eigenheit der Gabel: Sie erreicht im normalen Fahrbetrieb häufig ihre Endprogression. Nicht aufgrund lascher Federn, sondern dem Anschein nach wegen eines zu geringen Luftpolsters, sie geht also hydraulisch "auf Block", nutzt nicht ihren ganzen Federweg. Anders ausgedrückt: Die Shiver steht vorne etwas hoch, die Balance stimmt nicht ganz. Von diesem Kritikpunkt abgesehen, hinterließen ihre Federelemente mit akkuratem Ansprechen, angemessen sportlicher Federrate und sämigem Dämpfverhalten aber einen guten Eindruck.
Feines Ansprechen bietet auch die Gabel der F 800 R, und darüber guten Komfort. Allerdings zeigt sich das nicht einstellbare Teil unterdämpft, viel Bewegung von der Front in flotter Gangart ist die Folge. Hinten hingegen arbeitet das aufpreispflichtige "kleine" ESA zur vollsten Zufriedenheit. "Komfort", "Normal", "Sport" – per Knopfdruck am linken Lenkerende ist die Zugstufenverstellung justiert – und das funktioniert objektiv wie subjektiv klasse. Die Erstbereifung verhagelt der Shiver also das Fahrwerkskapitel, auch hier liegt die BMW folgerichtig vorn, was wiederum angesichts der bekannt herausragenden Alltagseigenschaften der F 800 R (dazu gleich noch mehr) die Aprilia aus dem Rennen wirft. Damit ruhen die Hoffnungen auf der 821 Stripe.
An der hat sich im Zuge der Euro 4-Renovierung augenscheinlich nicht allzu viel getan. Keine optischen Veränderungen, auch die Leistung bleibt mit gemessenen 107 PS gleich, Ducati homologiert aber statt 112 Pferden deren 109. An den Gabelholmen finden sich die obligaten Reflektoren – fertig. Wer hoffte, der mittlere Bologna-Roadster erhielte im Zuge der Modellpflege den größeren 937er-L-Twin aus Hypermotard und Co., sieht sich getäuscht, kann aber gleichzeitig beruhigt werden. Denn auch im Euro 4-Gewand bleibt der 821-Testastretta ein herrlicher Landstraßen-Sportmotor, ein druckvolles, hungriges, emotionsgeladenes Sahne-Aggregat. Unten attackiert der hart laufende Desmo-Twin schon alles andere als schwachbrüstig, lässt nur eine kleine Lücke zur bulligen Aprilia. Extreme Drehfreude sowie das erkleckliche Plus an Spitzenleistung macht diesen minimalen Rückstand ab etwa 7000 Touren dann ohnehin mehr als wett. Zudem röhrt sich das Aggregat ungeniert bis prollig durch die Drehzahlleiter, was Fans sicher gut finden. Bemerkenswert, dass dieser Auspuff bei der Typisierung grünes Licht erhalten hat. Im Vergleich zur ersten 821 hat Ducati die Gasannahme weniger effekthascherisch, linearer programmiert, sodass die 821, addiert man die überlegenen Fahrleistungen, die gute Kupplung und das ordentliche Getriebe (Letzteres wie bei allen Testkandidaten), das Motorenkapitel für sich entscheidet. Hurra!
Monsters Fahrverhalten? Ungute Erinnerungen ans 2015er-Alpen-Masters werden wach, wo eine 821 Stripe trotz voll einstellbarer Gabel (und Racingstreifen) einfach keine Linie finden wollte. Das Gegenteil ist bei dieser Testmaschine der Fall. Auch hier will zwar zunächst der Schraubendreher in Anschlag gebracht und die vordere Druckstufe einige Klicks geschlossen werden (Vorschlag: 5 von 17 offen), das beruhigt die Front besonders auf der Bremse. Dann zirkelt die Stripe spielerisch-handlich, präzise, neutral und stabil, vermittelt in diesem Trio das verbindlichste Fahrgefühl. Ansprech- und Dämpfungsverhalten der Gabel sind top, das hintere Federbein pariert straff, der immer noch gute Diablo Rosso II vermittelt viel Rückmeldung und klebt, die Schräglagenfreiheit ist noch besser als die der Aprilia. Kurz: Die Monster hat nicht nur den stärksten Motor, sondern auch das beste Fahrwerk. Etwas speziell bleibt aber ihre Ergonomie: breiter Lenker weit vorne, knappe Sitzkuhle, hohe Rasten und entsprechend enger Kniewinkel. Wie immer typisch Monster und tendenziell eher für Kleinere passend. Wirklich störend sind allerdings die unsäglich angebrachten Soziusrasten, deren breite Ausleger weiterhin ständig im Weg sind. Hier wäre Modellpflege schön gewesen.
Dank der "harten" Werte bei Antrieb und Chassis bleibt die Monster dann auf Schlagdistanz, wenn die F 800 R im "weichen" Alltagskapitel bekannt gnadenlos sticht: hervorragende Soziusergonomie, fabelhafte Ausstattung (einstellbare Hebel, Hauptständer, Gepäckbrücke, umfassender Bordcomputer etc.), Zuladung, Reichweite – alles da, keine Schwächen. Die Shiver ist hier nicht unbedingt schlecht, die Monster sogar ganz gut, die F 800 R aber für einen Roadster überragend. So ist das bei den auf 1000-Punkte-Nutzwert hin konstruierten Motorrädern. Gepäckbrücken sind nicht sexy, aber praktisch.
Die Entscheidung fällt schließlich bei Bremse und Elektronik. Alle Roadster verzögern mit wenig Kraftaufwand vehement, mit leichten Vorteilen für Ducati. Langer Leerweg im Hebel und daher nicht ganz perfekte Dosierbarkeit kosten die BMW wichtige Zähler. Extrem spät regelt das abschaltbare ABS der Shiver – Achtung Stoppie! Mit ihrem zweistufigen Blockierverhinderer wie auch der hervorragenden achtstufigen Traktionskontrolle sammelt die Monster 821 Stripe die entscheidenden Punkte, zumal sie bei den Kosten dank weniger Verbrauch nur unwesentlich schlechter dasteht als die F 800 R.
Und damit ist es vollbracht. Streng objektiv und ganz ohne Mauschelei (Ehrenwort!) schiebt sich die 821 Stripe mit Desmo-Power, diesmal wirklich erstklassiger Fahrwerksperformance (und Racingstreifen) knapp vor die Weiß-Blaue. Der Fairness halber sei jedoch ergänzt: Die 800 R bietet das bessere Preis-Leistungs-Verhältnis, weil sie selbst üppig ausgestattet noch günstiger ist als die mit fast 12 000 Euro doch nicht mehr ganz billige 821 Stripe. Sieger der Kategorie aber ist die – Tusch! – Shiver 900, das mit Abstand günstigste Motorrad in diesem Feld. Was dann auch die Reifenfrage relativiert: Wer sich zur Erstinspektion einen neuer Satz Gummis gönnt, sprengt mit der Shiver immer noch nicht die 9000 Euro. Ein Nachtest mit anderem Pneu folgt daher in Bälde.