Fahrbericht Cagiva V-Raptor und Raptor
Jetzt aber!

EICMA 1950

Mutig war Cagiva stets, erfolgreich selten. Topseller? Nie. Power, Konzept, Qualität – irgendwo hing’s immer. Bis jetzt.

Jetzt aber!
Foto: Markus Jahn

Wenn einer wie Miguel Galluzzi mit knapp 40 Jahren beschließt, sein Traum-Motorrad zu bauen, dabei erstens auf seine Erfahrungen als Monster-Designer vertrauen kann, zweitens auf die Kohle eines risikofreudigen Fabrikanten und drittens auf ein Triebwerk, das nach Otto Hahns Kernspaltung einen weiteren Meilenstein in der Geschichte der Energiegewinnung markiert, dann steht die Welt 18 Monate später vor einer ziemlich abgedrehten Kreuzung zwischen Fantasy-Modellbau, teurer Eleganz und der realen Macht des Suzuki TL 1000 S-Motors.
V-Raptor! Schockierend und anziehend zugleich. Wilde Zacken, Hörner, Krallen. 106 PS am Hinterrad – macht rund 112 an der Kupplung. Das Irre und das Klassische finden hier zusammen; Genie und Wahnsinn im Gitterrohrrahmen. V-Raptor: frisst Monster zum Frühstück, Speed Triples zwischendurch und japanische Nackedeis nach Feierabend. V-Raptor: Die Rache des Claudio Castiglioni, seines Zeichens Cagiva-Boss.
Wie ernst es Cagiva mit diesem Motorrad meint, belegen die angepeilten Stückzahlen: Man spricht von mutigen 5000. Allein in diesem Jahr. Ziemlich viel, in Anbetracht des rigorosen Designs. Castiglioni weiß das. Aber er ist ja kein Dummer. Drum wird die Maschine in zwei Varianten aufgelegt. Die entschärfte Form führt weder Dino-Schnauze noch Saurier-Höcker spazieren und sieht der Monster dann doch verdammt ähnlich. Mitnichten zufällig, oder gar einer schöpferischen Pause des Herrn Konstrukteurs zuzuschreiben, sondern den guten Verkaufszahlen der Ducati, die bald der Geschichte angehören sollen.
Ginge es allein ums Preis-/Leistungsverhältnis, könnte das blitzschnell passieren. Eine gut gelaunte Monster S – das ist die mit der Einspritzung – stemmt für über 20000 Mark Gage bestenfalls 86 PS. Die Cagiva – grundsätzlich mit Einspritzung gerüstet – steigt im Dino-Kostüm rund 1000 Mark, »en nature« etwa zwei Riesen drunter ein und reißt an, als gäb’s kein Morgen mehr. Die Kraftentfaltung des dezent modifizierten Suzuki-Vau-Zwei ist gigantisch. Eine Druckwelle über den gesamten Drehzahlbereich. Selbst beim Beschleunigen im hohen Gang besteht noch Gefahr, das Atmen zu vergessen, und erst zwei, drei Stunden nachdem der Zündschlüssel abgezogen ist, kehren die Mundwinkel ins zurück. Was für ein Motor!
Okay – eine kleine Macke hat er. Wie an der Suzuki selbst erfordern Lastwechsel ein gewisses Maß an Gefühl, um den harten Gaseinsatz zu überlisten. Zwar hat Cagiva das Ansprechverhalten verbessert, »optimal« ist aber noch mal anders. Grobmotoriker sollten schon deshalb lieber die Finger von der Raptor lassen. Denn aller Wahrscheinlichkeit nach dürften sie obendrein auch ihre Probleme mit dem Fahrwerk bekommen: Wie versprochen ist dasselbe von einer Handlichkeit geprägt, die dem gemeinen Volk an einer 1000er bislang fremd war. Jede Gewichtsverlagerung im Sattel, jeder Schenkeldruck am Tank, jede noch so kleine Handbewegung wird direkt übertragen. Faszinierend ist das, wenn man’s mag, gar fad jedoch für Leute, die gewohnt sind, alles zu geben. Da fehlt schlichtweg der Widerstand, und – huuups, fällt der Bogen schon wieder enger aus als geplant.
Miguel Galluzzi versichert, aus technischer Sicht gäb’s keinen Unterschied zwischen den beiden Raptoren. Gabel, Schwinge, Federbein, Radstand, Lenkkopfwinkel, Nachlauf – alles gleich. Auch die Bereifung, Marke Bridgestone, nähere Bezeichnung BT 56. Trotzdem aber fühlt sich die Vau-R irgendwie anders an. Eine Spur indifferenter. Was wohl am breiteren, flacheren Lenker liegt, der weniger Gefühl fürs Vorderrad vermittelt. Jedenfalls rappt man mit dem bürgerlichen Modell völlig enthemmt ums Karree, während die Designbombe hin und wieder kleine Unsicherheiten bei der Linienwahl provoziert.
Ansonsten tanzen die zwei in einer Reihe, ziehen relativ ungerührt um Kurven und sauber geradeaus. Lenkerschlagen – eine Niedrigkeit, die unter anderem für den vorgezogenen Ruhestand der original TL 1000 S verantwortlich ist – kennen die Geschwister Raptor nur im Ansatz. Sie tun’s. Irgendwann. Auf Straße gewordenen Rübenäckern zum Beispiel, die mit wehenden Fahnen genommen werden. Aber 69,7 Prozent aller anderen Motorräder hätten ihre Besatzung zu diesem Zeitpunkt bereits locker übers Heckbürzelchen gekippt.
Die Federelemente, vorn Marzocchi, hinten Sachs, sprechen verführerisch sensibel an, hauen nach den ersten paar Zentimetern Hub allerdings voll progressiv auf den Putz. Die Bremsen, selbstverständlich Brembo, fühlen sich ein bisschen nach Altweiberfasnacht an: zahnlos, holzig, stumpf. Aber Cagiva will das so, wegen leichter Beherrschbarkeit... Darum auch die zwergenhafte Sitzhöhe von gerade mal 770 Millimetern. Schließlich soll ja nur die Konkurrenz erschrecken, nicht aber die potentielle Raptor-Kundschaft erschrecken.

Unsere Highlights

Technische Daten

CAGIVA Raptor / V-RaptorDatenMotor: Wassergekühlter Zweizylinder-Viertakt-90-Grad-V-Motor, Kurbelwelle querliegend, je zwei obenliegende, über Kette und Zahnräder getriebenen Nockenwellen, vier Ventile pro Zylinder, Tassenstößel, Nasssumpfschmierung, elektronische Saugrohreinspritzung, Ø 52 mm, Motormanagement, Sekundärluftsystem, E-Starter, Drehstromlichtmaschine 375 W, Batterie 12 V/9 Ah.Bohrung x Hub 98 x 66 mmHubraum 996 cm³Verdichtungsverhältnis 11,3 : 1Nennleistung am Hinterrad 78 kW (106 PS) bei 8500/minMax. Drehmoment am Hinterrad 98 Nm (10 kpm) bei 7000/minKraftübertragung: Primärantrieb über Zahnräder, mechanisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Sechsganggetriebe, O-Ring-Kette, Sekundärübersetzung 16/40.Fahrwerk: Gitterrohrrahmen aus Stahlrohr, Motor mittragend, Upside-down-Gabel, Gleitrohrdurchmesser 43 mm, Zweiarmschwinge aus Stahlprofilen, Zentralfederbein mit Hebelsystem, verstellbare Federbasis, Scheibenbremse vorn, Vierkolbensättel, schwimmend gelagerte Bremsscheiben, Ø 298 mm, Scheibenbremse hinten, Doppelkolbensattel, Ø 220 mm.Alu-Gussräder 3.50 x 17; 5.50 x 17Reifen 120/70 ZR 17; 180/55 ZR 17Fahrwerksdaten: Radstand 1440 mm, Lenkkopfwinkel 65 °, Nachlauf 92 mm, Federweg v/h 120/130 mm.Maße und GewichteL/B/H 2140/780/1090 mmSitzhöhe 775 mmGewicht trocken Raptor (V-Raptor) 192 (197) kgTankinhalt/Reserve 17 LiterGarantie zwei Jahre ohne KilometerbegrenzungFarben Raptor (V-Raptor) Rot, Silber, (Rot)Preis Raptor (V-Raptor) zirka 18000 (19000) Mark

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MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023