Harley-Davidson war für mich Mitte der 90er-Jahre der Anachronismus auf zwei Rädern: kurzatmige, schnell kaputt gehende und ziemlich vibrierende Eisenhaufen, die von ganz schön alten Männern oder kräftig tätowierten Bikern mit Kutte gesteuert wurden. Umso höhervoltig elektrisierte mich ein Messerundgang auf der "Motorräder 1996" in Dortmund. Da stand an einem eher kleinen Stand ein neongelbes Naked Bike, so schlank und sexy, dass meine Synapsen übersteuerten. Kann ein Harley-Motor in einem Sportfahrwerk stecken? Buell Harley-Davidson prangte auf dem kleinen Tank, 45 Grad öffnen sich die beiden Zylinder, parallel verlaufen die Stoßstangenhülsen: es muss ein Sportster-Motor sein. Die Standbesatzung gibt bereitwillig Auskunft, die Testfahrt ist schnell vereinbart, ich fahre die erste wirklich schnelle Harley in Deutschland.
Erik Buell stellte mit der Lightning S1 die Motorradwelt auf den Kopf. Zumindest ein bisschen. Um den ausladenden Sportster-V2 flocht er einen filigranen Gitterrohrrahmen mit extrem kurzem Radstand, reichlich steilem Lenkkopfwinkel und ziemlich kurzem Nachlauf. Federbein und Auspuff verbannte er unter den Motor, steckte vorn eine moderne White-Power-Gabel rein und flanschte einen mächtigen Sechskolben-Bremssattel an das Tauchrohr. Nur eine, aber dafür eine riesige Bremsscheibe darf vorn verzögern. So wirkt die Lightning unheimlich reduziert und schlank. Für mich ist sie bis heute die schönste Buell, die jemals gebaut wurde. Fast schon italienischer Stil.
Ein Problem gab es aber: Was um Gottes Willen soll dieser riesige Brotkasten auf der linken Seite? Ansaugen muss sie halt auch, die Buell. Und damit sie das auch lange kann, braucht sie einen Luftfilter, wie alle Motoren. Und dieser sollte so frei wie möglich durchströmen lassen. Ein Helmholtz-Resonator befinde sich da drinnen, unterrichtete später die Presseabteilung von Harley-Davidson. Aha. Also so eine Art Resonanzaufladung. Wenn‘s hilft...

Es hilft, sehr sogar. Fast schon leise schüttelt die Buell ihre Kraft aus den Zylindern. Legt schon unter 2000/min kräftig los, um bei 5000/min richtig Feuer zu geben. Feuer? Ja, richtig gelesen. Dieser Motor hat Biss, Temperament, Schmackes, Zunder. Und dreht bis fast 7000/min - eine Drehzahl, bei der Harleys normalerweise schon die weiße Fahne hissen. Nein, diese Buell macht Schluss mit den alten Vorurteilen. Und trotz vier Kilogramm leichterer Schwungmasse als in der Original-Sportster läuft der Buell-V2 noch sanft und weich genug. Warum das Harley nicht selber so macht? Keine Ahnung, erst ein Jahrzehnt später taucht mit der XR 1200 ein ähnlich starker Motor vom Stammwerk auf. Um die 90 PS drückt der V2, für einen Zweiventiler ein respektabler Wert. Und er bringt die Leistung unnachahmlich satt auf die Straße. Wummert tieftönig beim Rollen, wütet zornig beim Beschleunigen. Aber wird nie wirklich aufdringlich. Ja, vibriert nicht einmal stark. Und macht mit den kaum 210 Kilogramm Lebendgewicht plus Fahrer kurzen Prozess. Hier wird angeschoben, und wenn es sein muss, hebt auch mal das Vorderrad ab. Mein erster Wheelie auf einer Harley, here I come! Normalerweise werden Harley-Vorderräder auf den Boden gepresst, dass der Reifen schwitzt. Nun schwitze ich, denn erstmal muss mein Vorderrad wieder runter. Fast wäre es passiert - der erste Harley-Rückwärtssalto...
Kurz, sehr kurz, zu kurz fiel der Radstand der Lightning aus. Unter einem Meter vierzig ist ziemlich ungewöhnlich. Das führt zu einem ebenso ungewöhnlichen Fahrverhalten in Kurven. Irgendwie will die Buell nicht neutral um die Ecken wetzen. Sie muss in tiefe Schräglagen regelrecht gezwungen werden. Ob Meister Erik das selber mal ausprobiert hat? Mag sein, ich glaube es aber nicht. Denn so kann man nicht zügig ums Eck brennen. Und Erik war Rennfahrer. Der sollte wissen, wie eine Maschine fahren muss.

Federn kann sie zumindest hinten auch nicht richtig. Das verkehrt herum belastete Federbein hoppelt kräftig, trotz vielfältiger Einstellmöglichkeiten. Und dann noch die giftige Bremse. Da ist etwas geboten. Nach hundert Kilometern ist Schluss. Fahrer platt, braucht Pause. Tankt ein paar Liter, nur gut fünf gehen jetzt hinein. Sparsam, sparsam. Das Neongelb blendet fast im Sonnenlicht, die polierten Motordeckel erfreuen jeden, genauso die schön verrippten Zylinder und Köpfe des Milwaukee-V2. Von schräg hinten sieht die Lightning am besten aus. Vorn gefällt die asymmetrische Lenkerverkleidung.
Ein Jahr später, 1997, gab‘s die Lightning in Deutschland offiziell. Und fast 10000 Mark billiger als die ersten Grauimporte von ‚96. Schnell wurde Erik Buell auch bei uns bekannt. Seine späteren Konstruktionen erregten sogar noch mehr Aufsehen: Alu-Brückenrahmen mit darin integriertem Benzintank, das Ölreservoir in der Schwinge. All das trug zu Eriks Ruf als genialem Konstrukteur bei. Wie sich die Dinger fuhren, war eine andere Sache. Klar doch, Charakter-Bikes, und sehr individuell. Das kam in Europa gut an. Anders die verquollen aussehende 1125R, Buells letzter Streich mit Rotax-Zweizylindermotor. Die war - Ironie des Schicksals - dafür in den USA recht erfolgreich. Das Aus für die Marke konnte sie nicht verhindern. Buells letztes Donnerwetter.
Technische Daten der Buell

Motor:
Zweizylinder-Viertakt-45-Grad-V-Motor, zwei Ventile pro Brennraum, über Stoßstangen und Kipphebel gesteuert, Bohrung x Hub 88,9 x 98,5 Millimeter, 1203 cm3, 67 kW (91 PS) bei 5800/min, 115 Nm bei 5200/min, 40er-Vergaser, E-Starter, Ölbadkupplung, Fünfganggetriebe, Zahnriemenantrieb.
Fahrwerk:
Stahlgitterrohrrahmen, Upside-down-Gabel vorn, Zweiarmschwinge hinten, liegendes, auf Zug belastetes Federbein, Einscheibenbremsevorn mit Sechskolben-Festsattel, hinten Zweikolben-Festsattel, 340/230 mm,Gussräder, Bereifung 120/70 ZR 17 und 170/60 ZR 17.
Maße und Gewicht:
Radstand 1397 mm, Nachlauf 99 mm,Sitzhöhe 750 mm, Gewicht vollgetankt 209,5 kg, Tankinhalt 15 Liter,Höchstgeschwindigkeit 219 km/h. Preis 28500 Mark (Grauimport 1996)