Finale: Hildebrand und Wolfmüller

Finale: Hildebrand und Wolfmüller Intermot-Countdown 10: der Klassiker

Im Jahr 1894 begann die Geschichte des Motorrads. Heinrich Hildebrand und Alois Wolfmüller produzierten in München das erste Serienmotorrad der Welt.

Intermot-Countdown 10: der Klassiker Wilhelm
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Was sind schon 116 Jahre, wenn man die Erdgeschichte als Ganzes betrachtet. Nichts. Aber für uns Motorradfahrer bedeutet dieser Zeitraum alles. In diesem Wimpernschlag der Geschichte vollzog sich die gesamte Entwicklung des motorgetriebenen Zweirads. Am 20. Januar 1894 stellte das kaiserliche Patentamt den Herren Alois Wolfmüller und Hans Geisenhof das Patent über ein "Zweirad mit Petroleum- oder Benzinmotorenbetrieb" aus. Kaiserliches Patentamt? Klar, damals hatten wir noch einen echten Kaiser. Wilhelm der Zweite, schnauzbärtig, oft in Uniform. In London wurde die Tower Bridge eingeweiht, ein gewisser Herr Edison führte in New York das erste Kinetoskop vor.

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Verkehrstechnisch war man zu Fuß, hoch zu Ross oder mit Kutsche unterwegs. Eisenbahnen gab es schon, und immerhin erkannte man mit der Erfindung des Niederrads, dass die Hochräder vor allem dazu taugten, aus zwei Metern Höhe auf den Boden zu knallen. In dieser Zeit musste die Hildebrand und Wolfmüller wie von einem anderen Stern erschienen sein. Die Zeitschrift "The Automotor And Horseless Vehicle Journal" schreibt: "Kürzlich wurde eine Lokomotive zur Verwendung für den Einzelnen erfunden.

Sie verbindet die Eigenschaften des Fahrrads und der Lokomotive und stellt eine neue Art Maschine dar, die man Motorrad nennt." Das trifft die Grundzüge der Konstruktion wunderbar. Denn die Hildebrand und Wolfmüller besitzt wie eine Dampflok weder Getriebe noch Kupplung. Der liegende Zweizylinder treibt über lange Pleuelstangen direkt das Hinterrad an. Sprich: Die Radachse des Hinterrads selbst bildet die Kurbelwelle. So als würde man auf einer Hubscheibe spazieren fahren.

Wilhelm
Die 2,5 PS reichen für satte 40 Sachen, keine Kupplung, kein Getriebe, kein Starter.

Der solide Rohrrahmen, welcher Tank und Motor eng umschließt, wird aus geraden Rohren und Muffen zusammengelötet. Die beiden oberen Rohrzüge enthalten dabei das Schmieröl für den Motor, die unteren leiten die Ansaugluft zum Motor und die Abgase der Zündlampe ins Freie. Zündlampe? Bosch wird die Zündkerze erst 1902 erfinden, bis dahin muss eine kompliziert zu bedienende Glührohrzündung verwendet werden. Vergaser? So wie wir ihn kennen, wird er ebenfalls erst 1902 von Wilhelm Maybach erfunden. Im ersten Motorrad wird deshalb ein Oberflächenvergaser verwendet. Dabei wird die vorgewärmte Ansaugluft durch den Benzintank geführt, wo sie sich mit den flüchtigen Dämpfen mischt. Man kann erahnen, wie sich das Gemisch je nach Schlaglochdichte verändert.

Immerhin wird der 1488 cm3 große Twin, dessen 90er-Graugusskolben 117 Millimeter Weg zurücklegen, wassergekühlt. Als Kühlwasserbehälter dient dabei der Hinterradkotflügel, der sechs Liter fasst. 2,5 PS bei 240/min leistet das Bike Nr.1, was für 40 Sachen reicht. Damit ist man 1894 ganz vorn. Die 6,5 Liter Benzin sollen zudem 300 Kilometer weit reichen. Wobei nicht überliefert ist, ob jemals eine Hildebrand und Wolfmüller so weit an einem Stück gelaufen ist.

Noch ein paar technische Besonderheiten: Die Verdichtung ist durch die Verschiebung der Hinterradachse verstellbar. Eine aufgenietete Nockenscheibe auf dem Scheibenrad dient als Steuerung der Auslassventile. Als einziger Benzinmotor besitzt die Hildebrand und Wolfmüller zusätzliche Kolbenrückholfedern aus Gummi. Deren Spannung ist sogar einstellbar, sie helfen beim Start und ersetzen einen Teil der Schwungmasse. Die langen Pleuelstangen laufen nicht parallel sondern leicht nach hinten außen, weswegen sie auf Kugelköpfen in den je zwei Kilogramm schweren Kolben lagern.

Der geneigte Leser erkennt, mit welch grundlegenden Schwierigkeiten die Tüftler zu kämpfen hatten. Und dann noch das Thema Reifen. Erst der "Reifenconstructeur Veith" löste mit speziellen Hochdruckmänteln die Aufgabe, die brachiale Leistung auch auf den Boden zu bringen.

Jetzt bitte nicht lachen! Immer daran denken, dass die Pleuel direkt aufs Hinterrad wirken. Sobald der Motor zündet, malt der Pneu einen kleinen Strich auf den Asphalt. Die größte Challenge für den Motorradfahrer der ersten Stunde: Starten. Dazu muss erst einmal die Glührohrzündung angeworfen werden. Gut eineinhalb Seiten Beschreibung in der Bedienungsanleitung zeigen: das ist nicht einfach. Man muss eine Flamme "von violetter Farbe mit bläulichem Schein" erzeugen, damit das Glührohr richtig glüht. Dann heißt es Anschieben und nach der ersten Zündung aufspringen. Alle eineinhalb Meter zündet nun die Maschine. Eine Filmchen einer fahrenden Hildebrand und Wolfmüller gibt es auf Youtube (siehe unten).

Bilski
1894 eine Sensation: das erste Motorrad. Die Pleuel des liegenden Zweizylinders wirken direkt auf das Hinterrad, Kühlwasserbehälter als Kotflügel, Rahmen aus geraden Rohren.

Nach fulminantem Beginn und dank guter PR-Arbeit in eigener Sache - Herr Hildebrand ist gleichzeitig Chefredakteur der "Radfahr-Chronik"- wächst die Firma schnell auf 850 Mitarbeiter. Bis zu zehn Maschinen pro Tag werden gebaut. Der Preis beträgt 1200 Mark, zu wenig zum Überleben. Denn bereits am 18. Oktober 1895 meldet der Betrieb Vergleich an.

Ist die Zeit überhaupt schon reif für das Motorrad? Eher nicht. Wichtige Basiserfindungen wie Magnetzündung und Vergaser kommen erst noch. Tankstellen? Fehlanzeige. Schnell machen die Nachteile der Maschine die Runde. Wie schwierig der Start sei. Und was man machen würde, wenn unterwegs ein Defekt aufträte. Oder gar der Kraftstoff zur Neige gegangen wäre. Auch sorgen Fehlbedienungen für negative Stimmung: Ein Franzose fackelt gleich drei Maschinen ab, weil er im Dunkeln mit einem Zündholz an einem offenen Tank hantiert. Auch legen sich die Fahrer reihenweise auf die Nase: "Bei der letzten Probefahrt wurde eine sehr bedeutende Geschwindigkeit erreicht, aber zwei der Herren stürzten, ich glaube wegen einer zu knapp genommenen Wendung", berichtete Baron von Hertling, Adjudant des Prinzen Heinrich von Bourbon zu Venedig, Besitzer gleich zweier Maschinen. So sank die Nachfrage schnell wieder, und der Pleitegeier kreiste. Schade.

Alois Wolfmüller entwickelte trotzdem ein technisch völlig neues Motorrad mit längsliegender Kurbelwelle, Schwungrad und Kardanantrieb. Für eine Fertigung fehlte ihm allerdings das Geld.

Technische Daten

Bilski
Steuerung über Kipphebel und Schiebemimik für die Auslassventile, Einlassventile per Unterdruck betätigt.

Motor:
Zweizylinder-Viertakt-Reihenmotor, zwei Ventile pro Brennraum, unterdruck- und nockengesteuert, Bohrung x Hub 90 x 117 Millimeter, 1488 cm3, 1,8 kW (2,5 PS) bei 250/min, Glührohrzündung, Oberflächenvergaser, Start durch Anschieben, Pleuel direkt auf das Hinterrad wirkend, Kolbenrückholfedern als Gummibänder ausgeführt,

Tropfölschmierungfahrwerk:

Gemuffter und gelöteter Rohrrahmen, Gabel vorn, Stahl-Zweiarmführung hinten, Doppelklotz-Reifenreibbremse vorn, 26-Zoll-Drahtspeichenrad vorn, 22-Zoll-Scheibenrad hinten.

Maße und Gewicht:
Gewicht vollgetankt 84 kg, Tankinhalt 6,5 Liter, Höchstgeschwindigkeit 40 km/h.

Preis: 1200 Mark (1894)

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