Test Buell Lightning XB12S
Evolutions-Theorie

Buell verlässt nun endgültig die ökologische Nische des harmlosen Exoten. Die fahraktive XB12S wildert im Revier der 100-PS-Nakeds – und im eigenen Haus.

Evolutions-Theorie
Foto: fact

Vor dem Stuttgarter Naturkundemuseum am Löwentor ist eine Zeitachse gepflastert, deren Skala mit dem Urknall beginnt, vor zwölf bis 16 Milliarden Jahren. Am anderen Ende, der Jetzt-Zeit, will die Krone der Schöpfung Buellschen Motorenbaus, die XB12S, zum Leben
erweckt werden. Erst 2002 wurden die
Firebolt XB9R und Lightning XB9S vorgestellt, nun lebt ihre grelle Genmixtur in
der 12R und S fort. »Schwestermodelle« nennt Buell diese Verwandtschaftsbeziehung, Erbgut wäre treffender. Denn die 9er-Generation erfüllt nur die Abgasnorm Euro 1 und wird ab Juli 2004 aussterben, die lediglich 1000 Euro teureren 12er besetzen deren ökologische Nische.
Bei unverändertem Äußeren haben ihre Herzkammern mehr Volumen. Die Buell-Biologen beließen die Bohrung bei 88,9 Millimetern und vergrößerten den Hub im archaischen 45-Grad-V2 auf 96,8 Millimeter. Auch das Drosselklappengehäuse und das wunderschöne Krümmergewürm wuchsen auf 49 beziehungsweise 44,5 Millimeter Durchmesser. Das ist kein Fall für Erbsenzähler, es geht
nicht nur um 1203 statt 984 cm3, nein, die 12er-Buells sind wieder echte Langhuber, mit gleichen Eckdaten wie die Urahnin S1.
Sonor brabbelt der Einspritzmotor, hat auf den ersten Metern mangels Leerlaufanhebung aber arge Rundlauf-Probleme. Im Stand pulsiert er auch warm gefah-
ren stark, doch unter Last beruhigt sich das Stoßstangen-Aggregat auf sanftes Massage-Niveau. Der V2 ist vorn und hinten elastisch gelagert, Gummielemente eliminieren Schwingungen im Fahrbetrieb effektiv. Die Airbox sitzt unter der dromedarartig gewölbten Tankattrappe, ihr riesiger Ansaugschlund überm Ölkühler leitet dem hinteren Zylinder kühlen Wind zu, ebenso der nervig oft laufende Lüfter.
In rasante Gefilde drängt der knapp 100 PS starke V2, die Buell rennt los
wie ein wilder Stier, sprintet unter vier
Sekunden von null auf 100. Der bärige Drehmomentverlauf macht Wheelies zum Kinderspiel. Schon bei 3000 Touren
stehen satte 95 Nm und im letzten Gang fast 100 Sachen an, druckvoll dreht der Langhuber hoch. Im Fünften riegelt der Begrenzer bereits bei 6700/min ab, noch vor dem roten Bereich. Die werksseitig angegebenen 217 sind optimistisch, bei Tempo 209 ist Schluss. Zur harmonischen Leistungsabgabe und direkten Gasannahme trägt eine elektronisch gesteuerte Klappe im markentypisch unterm Motor verlegten Ofenrohr-Schalldämpfer bei:
Je nach Drehzahl und Gasgriffstellung schwingt die Gassäule drehmomentfördernd durch alle drei Auspuffkammern oder entweicht auf direktem Wege, was freies Hochdrehen fördert.
Der längere Ausleger des Schalthebels sorgt für einigermaßen präzises Rasten der fünf Gänge, genügend Kupplungshandkraft sollten Buell-Treiber jedoch mitbringen. Nur geringe Lastwechselreaktionen trüben das Bild, den auf 14 Millimeter verbreiterten Zahnriemen hält eine Spannrolle stets spielfrei. Wartungsfreie Hydrostößel freuen den Geldbeutel, ebenso die nun bei allen Buell auf 8000 Kilometer gestreckten Inspektionsintervalle. Der genügsame Verbrauch von
weniger als fünf Litern je 100 Kilometer erfordert keine neuen Ölfeldzüge im Mittleren Osten. Unverständlich, dass eine Abgasreinigung fehlt. Erstaunlicherweise soll allein intelligentes Motormanagement die aktuelle Euro-2-Norm knapp unterbieten, was mit so großen Einzelhubräumen kein anderer Züchter schafft.
Und kein so radikales Fahrwerk:
Nur 1,32 Meter Radstand bei kurzen 83 Millimetern Nachlauf und 69 Grad stei-
lem Lenkkopf verheißen agiles Handling. Doch die 209-Kilo-Wuchtbrumme fällt nicht so leichtfüßig von einer Schräglage in die nächste wie erwartet und agiert nur auf topfebenem Asphalt zielsicher. Bremsen oder Schräglage heißt es in Kurven, denn Verzögern quittiert das Eisenross mit abruptem Aufrichten, es muss dann mit Druck auf Kurs gehalten werden. Zu alledem läuft die 12er mit den serienmäßigen Dunlop-Pneus D 207 Längsrinnen oder -rillen allzu willig hinterher. Das macht Motorrad und Mensch nervös.
Des Pudels Kern ist eine akute
Reifenallergie, denn mit D 208 fährt das US-Urvieh wie verwandelt. Leider nur für Versuchskaninchen mit roter Nummer, denn eine Freigabe soll erst im Frühjahr nach neuen Fahrtests vorliegen. Daher hier schon mal der Befund des MOTORRAD-Labors: Auf D 208 bleibt die Buell beim Bremsen wie beim Geradeauslauf viel neutraler auf Kurs, die Aufstelltendenz ist minimiert. In kurvigem Gebiet wird die 1200er nun handzahm, das Handling agiler, flüssiges Kurvenswingen zum Suchtfaktor. Schade, dass Buell die Problematik von der 9er kennt und trotzdem am leichteren, vermeintlich handlingfördernden 207er festhält.
Die Federelemente, eine 41er-Upside-down-Gabel und ein Zentralfederbein, sprechen fein genug an und filtern nicht nur grobe Buckel komfortabel heraus.
Sie lassen sich komplett und wirkungsvoll
in Dämpfung und Vorspannung indivi-
duell einstellen. Das Federbein ist direkt an der Zweiarm-Dreiecksschwinge angelenkt, die in Doppelfunktion das Motoröl der Trockensumpfschmierung bunkert.
Der mächtige Alubrückenrahmen dient wiederum als Vormagen für 98-
oktaniges Kraftfutter. Ausbuchtungen in diesem optisch dominanten Rückgrat
machen in Kombination mit recht tiefen Fußrasten gemäßigt langen Beinen Platz, die vorderradorientierte Sitzposition à la Ducati Monster streckt die Wirbelsäule leicht. Das passt orthopädisch prima und bietet gute Sicht, die Sitzbank ist bequem. Nur ein Sozius wird nicht gern
auf dem gedrungenen Bullterrier Platz nehmen, dessen Rücklicht über der Radachse liegt. Der kurze Frontkotflügel und das Lochblech im Rahmenbürzel sorgen bei Regen für unfreiwillige Duscheinlagen.
So kompakt die Ausmaße, so zahlreich sind die Bewunderer der bu(e)lligen Kreatur bei jeder Pause. Auf dem Weg dorthin ist das mickrige Motor-Bremsmoment keine Hilfe, die große Schwungmasse des Kurbeltriebs macht sich beim Gaswegnehmen bemerkbar. Doch auf die unkonventionelle Vorderbremse ist Verlass. Die gelochte 375er-Bremsscheibe ist außen an der bernsteinfarbenen Felge angebracht, um Speichen und Nabe leicht und filigran halten zu können. Der Sechskolbensattel beißt von innen zu – nach etwas Leerweg gut dosierbar, transparent und vehement. Dagegen agiert der Heckstopper ein wenig zahnlos.
Unterm Strich bringt das fun-tastische Bike von Haus aus gute Anlagen mit. Nachdem Buell im laufenden Jahr 70 Prozent Zuwachs (!) bei den Neuverkäufen verzeichnet, wird die fahraktive wie spezielle Spezies XB12S ihren Weg finden. Erst recht mit den richtigen Reifen.

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Technische Daten - Buell XB12S Lightning

Motor: luftgekühlter Zweizylinder-Viertakt-45-Grad-V-Motor, vier untenliegende, kettengetriebene Nockenwellen, zwei Ventile pro Zylinder, Hydrostößel, Stoßstangen, Kipphebel, Trockensumpfschmierung, elektronische Saugrohreinspritzung, Ø 49 mm, Transistorzündung, keine Abgasreinigung, E-Starter, Drehstromlichtmaschine 520 W, Batterie 12 V/12 Ah.Bohrung x Hub 88,9 x 96,8 mmHubraum 1202 cm3Verdichtungsverhältnis 10,0:1Nennleistung 74,6 kW (101 PS) bei 6600/minMax. Drehmoment 110 Nm (11,2 kpm) bei 6000/minSchadstoffwerte (Homologation) CO 4,69 g/km, HC 0,94 g/km, NOx 0,17 g/kmKraftübertragung: Primärantrieb über Triplexkette, Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Fünfganggetriebe, Zahnriemen, Sekundärübersetzung 65:27.Fahrwerk: Alubrückenrahmen mit integriertem Kraftstofftank, geschraubtes Rahmenheck, Upside-down-Gabel, Ø 41 mm, verstellbare Federbasis, Zug- und Druckstufendämpfung, Zweiarmschwinge aus Aluprofilen, Zentralfederbein, direkt angelenkt, verstellbare Federbasis, Zug- und Druckstufendämpfung, innenumfassende Scheibenbremse vorn, schwimmend gelagerte Bremsscheibe, Ø 375 mm, Sechskolbensattel, Scheibenbremse hinten, Ø 240 mm, Einkolbensattel.Alugussräder 3.50 x 17; 5.50 x 17Reifen 120/70 ZR 17; 180/55 ZR 17Bereifung im Test Dunlop D 207 Y/UFahrwerksdaten: Radstand 1320 mm, Lenkkopfwinkel 69 Grad, Nachlauf 83 mm, Federweg v/h 119/127 mm.Garantie zwei Jahre ohne KilometerbegrenzungFarben Schwarz, RotPreis 11499 EuroNebenkosten 249 Euro

MOTORRAD-Messungen - Buell XB12S Lightning

FahrleistungenHöchstgeschwindigkeit* 217 km/hBeschleunigung 0–100 km/h 3,9 sek0–140 km/h 6,5 sek0–200 km/h 15,2 sekDurchzug 60–100 km/h 4,0 sek100–140 km/h 5,0 sek140–180 km/h 6,6 sekTachometerabweichung effektiv (Anzeige 50/100) 50/99 km/hKraftstoffart Super PlusVerbrauch im Testbei 100 km/h 4,0 l/100 kmbei 130 km/h 5,7 l/100 kmLandstraße 4,8 l/100 kmTheoretische Reichweite 292 kmMaße und GewichteL/B/H 1980/870/1200 mmSitzhöhe 810 mmWendekreis 5870 mmGewicht vollgetankt 209 kgZulässiges Gesamtgewicht* 385 kgZuladung 176 kgRadlastverteilung v/h 49/51 %Tankinhalt/Reserve* 14/3 Liter

Fazit - Buell XB12S Lightning

Kompliment, die XB12S ist eine rassige Spezies und ein würdiger Nachfahre der Urahnen S1 und X1. Sie geht mit ihrem druckvollen und doch kultivierten Motor wie ein geölter Blitz, und das Fahrwerk hat gute Anlagen. Wer sich in die potenziell kurvenwillige Buell einfühlt, ihr Wesen und ihren individuellen Charakter versteht, erntet tollen Fahrgenuss, saugt Landschaft förmlich auf. Und ihr eigenständiges Design mit viel Liebe zum Detail verwöhnt das Auge. Schade nur, dass Buell es versäumte, die 12er gleich mit den richtigen Reifen in die freie Wildbahn zu entlassen.

20 Jahre Buell

Erik Buell füllt seinen Traum vom »All American Sportsbike« seit 20 Jahren konsequent mit Leben. »Am Anfang war ich ein Ein-Mann-Team, das seine eigenen Motorräder reparierte, tunte und fast komplett selbst konstruierte«, sagt der Ex-Racer. Nach seinem Maschinenbau-Diplom im Jahr 1979 fing Erik, so nennt in jeder in seiner Firma, als Testingenieur bei Harley-Davidson an, während er Rennen noch auf Yamaha TZ 750 und Ducati 900 SS fuhr. Er stieg dann um auf Motoren und Fahrwerke von Barton, einem kleinen englischen Hersteller. Als dieser 1983 seine Pforten schloss, gründete Erik Buell sein eigenes Unternehmen.Die erste Buell hieß RW 750 für »Road Warrior«, ein Zweitakt-Vierzylinder mit 165 PS, 137 Kilogramm leicht. 1987 folgten dem Straßenkrieger 50 Exemplare der RR 1000 Battletwin mit in Gummi gelager-tem Harley-XR1000-Motor in einem leichten Fahrwerk. Sie war die Urahnin der heutigen Buell-Typen und wies bereits einige typische Konstruktionsmerkmale auf. »Zentralisierung der Massen« blieb oberstes Entwicklungsziel jeder Neuentwicklung der US-Schmiede.1993 stieg Harley-Davidson mit 49 Prozent Beteiligung bei Buell in East Troy, Wisconsin, ein. Die Thunderbolt S2 wurde 1994 das erste gemeinsam produzierte Modell. 1998 verkaufte Erik Buell weitere 49 Prozent des Unternehmens an Harley und wurde technischer Leiter: »Dadurch wollte ich mehr Freiraum gewinnen, um mich meinen Motorrad-Visionen widmen zu können.« Das Gefühl für extraordinäre Bikes und seine Fingerfertigkeit an der Gitarre hat Erik Buell eben nie verloren. Blues und Rock ’n’ Roll. Gratulation!

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023