Ganz nüchtern argumentieren. Nicht blenden lassen und beim Beschreiben der W 650 allzu lange mit Äußerlichkeiten aufhalten. Geflissentlich glitzernde Tankembleme ignorieren und über klassisch gezeichnete Rundinstrumente hinwegsehen. Gewiß, Kawasakis jüngstes Geschichtskrad trägt auch noch Faltenbälge und Chromschutzbleche. Es fährt Ballon-Endtöpfe spazieren und Tankkissen. Von vorn bis hinten sammelt sich da anglophiler Zierat, stilsicher und - das beweist die Resonanz auf allen Wintermessen - publikumswirksam arrangiert. Aber das ist nur nett, nicht sensationell.
Sensationell ist, daß dieses Retro-Bike auch noch britischer Dynamik frönt. Ein fahraktives Motorrad also, das die Straßen nimmt, wie sie kommen, das elastisch aus jeder Kurve brummt und weder auf Wellen noch sonstwo große Zicken macht. Jawohl, und eigentlich ist diese Test-Geschichte jetzt schon aus, aber es mußte sofort, mit Ungestüm, vorgetragen werden, weil jeder, der die W 650 bislang fahren durfte, so sonderbar erleichtert seufzt: »Wellcome back, darauf haben wir lange gewartet. Viel zu lange.«
Triumph Bonneville, BMW R 75 oder Yamaha XS 650 - es wurde wirklich Zeit, die Tradition dieser unaufgeregten Twins wieder aufleben zu lassen. Gerade noch mittelschwerer Motorräder also, denen mittelmäßige Höchstleistung, aber ordentliches Drehmoment reichen, um über Jahre zu beglücken. Die so viel hergeben, daß Aufstiegsgelüste schon im Keim ersticken. Weils reicht. Kawasaki nun hat messerscharf erkannt, daß ein solches Konzept nicht nur ewige Puristen anspricht, sondern sich auch als flotte Alternative zum Cruiser anbietet. Ergo mit Chrom und Beiwerk nicht gegeizt werden durfte. Woraus wiederum ein technisches Ganzes erwuchs, in dem Wasserkühler und Gußräder ebenso wenig Platz finden konnten wie Zentralfederbein und Brückenrahmen. Wohl aber - und das unterscheidet die W 650 grundlegend von ihrer Stilvorlage, der Bonneville T 120 - Königswelle und Vierventil-Zylinderköpfe. Freunde aufwendiger, ja sinnfreier Mechanik dürfen sich somit ungeniert in die Zielgruppe W einreihen.
Die Königswelle braucht nämlich kein Mensch. Aber es glitzert so schön und surrt gar lustig und schadet nichts und: Sie ist heute einzigartig. Obendrein ist der W 650-Nockenwellenantrieb sauber durchkonstruiert, einfach zu demontieren und auch einzustellen. Über eine Keilverzahnung sind Kurbelwelle und unterer Winkeltrieb verbunden. Die Grundjustierung erfolgt über hauchdünne Scheiben. Die Königswelle ist geteilt und ebenfalls über eine Keilverzahnung gekoppelt, so daß der obere Winkeltrieb ganz einfach und komplett abgehoben werden kann. Je ein Feingewinde am oberen und unteren Ende des Schutzrohres erlauben eine Feineinstellung der hypoid-verzahnten Winkelräder. Falls es doch mal rasselt. Grundsätzlich jedoch, das schwören die deutschen Kawa-Techniker, sei diese Königswelle so wartungsfrei wie ein Kardanantrieb.
Der schwere Rotor der Lichtmaschine sowie eine Extra-Packung Stahl an der Kurbelwelle machen sich als zusätzliche Schwungmassen um typisch britischen Rundlauf verdient, typisch britische Vibrationen des Gleichläufer-Twins minimiert eine mit Kurbelwellendrehzahl rotierende Ausgleichswelle. An den beiden Gleichdruckvergasern entdeckt das forschende Auge links den Chokehebel (klassisch) und rechts einen Drosselklappensensor (modern). Letzterer unterstützt die beschwerdefreie Gasannahme im unteren Drehzahlbereich, weil seine Daten dank Blackbox in einem angepaßten Zündzeitpunkt münden. Obendrein wandert jener kurzfristig in Richtung spät, wenn in den ersten drei Gängen beschleunigt wird.
Wie gut, daß all diese Helferlein im Verborgenen arbeiten. So wie die Pleuel mit Spritzdüse, aus denen Öl gegen den Boden der 72 Millimeter dicken und 83 Millimeter auf und ab sausenden Kolben schießt. Dadurch solls dank besserer Innenkühlung nie mehr klingeln. Gut sichtbar jedoch heischt ein massiver Kickstarter nach Respekt: Achtung, Männermotorrad. Damit niemand sein Schienbein riskiert, bricht beim Rückdrehen der Kurbelwelle sofort der Zündstrom zusammen.
Und deshalb kanns nun losgehen. Völlig angstfrei ein-, zweimal getreten, schon läuft der Motor. Kurzer Druck aufs Knöpfchen an den fitzeligen, aber authentischen Armaturen erzielt zwar denselben Effekt, läuft aber angesichts dieses Fahrzeugs nur unter Notlösung. Erster Gang. Butterweich kommt die Kupplung, mit kaum mehr als Leerlaufdrehzahl schiebt der 360-Grad-Twin die Fuhre voran. Zweiter, dritter, vierter Gang - Schalten leicht gemacht, und schon innerorts drängt sich der fünfte auf: Dieser 650er läuft derart weich aus dem Keller und unbelastet von allen Tücken der Gasannahme und Lastwechsel, daß er weit unter 2000 Touren den großen Gang verträgt.
Was heißt vertragen? Das meint ja meist, daß es irgendwie geht. Nein, hier beginnt der konstruktiv definierte Arbeitsbereich knapp über 1500/min. Da passiert was, da zieht ein Gummiband erst sanft, dann immer energischer aus den Ecken heraus. Zwischen 3000 und knapp 4500 Umdrehungen gesellen sich unterhaltsam-zarte Vibrationen dazu. Nur so, damit auch W 650-Fahrer am Engländer-Stammtisch mitreden können. Knapp unter 4000/min steht der beste Anschluß für den nächsthöheren Gang bereit, aber - und das erstaunt dann wirklich - der Langhuber dreht auch recht munter bis an den roten Bereich bei 7700/min.
Was im höchsten Gang runde 200 Sachen wären, und deshalb muß diese Aussage relatviert werden: In Stufe vier und fünf tut sich der Twin oben raus schwer, im fünften wird er auf der Autobahn sogar richtig träge. Ein ausgewachsener Pilot in dicker Textiljacke hat hinter dem hohen Lenker Mühe, Tacho 160 zu halten, weil im Hinblick auf Geräuschprüfungen offensichtlich wieder mal sehr lang übersetzt wurde. Immerhin bleibt festzuhalten, daß die W 650 auch im Bereich ihrer Höchstgeschwindigkeit nur ganz gelinde pendelt.
Sie darf ein wenig wackeln, sie darf in Ecken oder Serpentinen mit den Rasten kratzen und durch wellige schnelle Kurven leicht schaukeln. Weil sie dabei immer berechenbar bleibt. Dank narrensicheren Einlenkverhaltens und solider Spurtreue auch bei raschen Schräglagenwechseln eine gute Figur macht. Und obwohl vollgetankt 215 Kilogramm nicht gerade hitverdächtig sind, wirkt die Kawasaki wegen ihrer schmalen Reifen stets richtig agil. Das wiederum bringt die Bremsen ins Spiel, und da wurde gespart: Die einsame Doppelkolbenzange vorn müht sich redlich, bewältigt normale Touring-Ansprüche. Von hinten darf sie in Sport-Stunden wenig Unterstützung erhoffen, denn die Trommel sieht in erster Linie gut aus.
Die gebotene Verzögerung reicht im Solo-Betrieb nicht, um die weich ansprechende und komfortbetonte Gabel auf Block zu zwingen. Die Federbeine spielen auf schlechten Straßen passabel mit, ihre Zugstufendämpfung könnte dort für schnelle Fahrt ein wenig straffer ausfallen und das Ansprechverhalten etwas sensibler. Andererseits hilft das Polster der gut geformten Bank gern aus: Ein halber Tag auf der W 650 vergeht völlig schmerzfrei. Zumindest für Solisten. Für den Soziusbetrieb ist die Bank etwas kurz geraten. Das Fahrwerk kommt mit der zusätzlichen Belastung ganz gut zurecht.
In jedem Fall vergeht ein Tag mit der W 650 aber ereignisreich. Selten wurden nach Testfahrten so viele Stories verbreitet. Die meisten kreisen um das Motorradfahren als solches. Einige wenige um Äußerlichkeiten. So oder so: willkommen W 650.
Fazit - Kawasaki W 650
Wer Bonneville und Co noch leibhaftig erlebt hat, wird von der W 650 im Sturm genommen. Doch auch all jene, die mit kritischer Distanz an dieses Retro-Bike herangehen, geben schnell zu, daß da ein Hingucker entstanden ist, der dank Königswelle sogar aus technischer Sicht Interesse weckt. Beim Drumherum bediente sich Kawasaki mittelprächtiger Komponenten - und liegt damit genau richtig: Das Fahrwerk reicht auch für flotte Touren, Klicks, Klacks und Kniepads passen sowieso nicht hierher. Spielerischen Genuß aber, den bietet die W 650 auch im Alltag auf jedem Kilometer. Da fehlt ihr gar nichts, höchstens etwas wirkungsvollere Stopper.