Wes Cooley, Freddie Spencer, Eddie Lawson, Dave Aldana und Konsorten besorgten es sich im Rahmen der AMA-Superbike-Serie mit den luftgekühlten Tausendern, dass es die Zuschauer von den Sitzen riss. Was für unfassbar wilde Rennen, was für ausgezuckt starke Maschinen, was für ein mitreißendes Spektakel! Von außen schauten die Honda Bol d’Or, die Suzuki GS 1000 und die Kawasaki Z 1000 den Serienmaschinen sehr ähnlich, innen aber kämpften die Hersteller um die prestigeträchtige Vorherrschaft und füllten nicht zu wenig Leistung ein. Rund 150 PS waren damals notwendig, um siegfähig zu sein. Außerdem wurden die mächtigen Nakeds auf rund 180 Kilo abgespeckt und mit besseren Fahrwerkskomponenten ausgerüstet. Und selbstverständlich wurden Rahmen und Schwinge versteift und modifiziert. Hubraumlimit war 1025 Kubik.
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Zonkos Attacke auf der Yamaha XJR 1300
Der letzte Mohikaner
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Für mich persönlich waren das damals die irrsten Rennen aller Zeiten, und in mir verdichtete sich eine Erkenntnis: „Eine nackte Tausender ist das höchste Gut auf diesem Planeten! Danach gilt es zu streben, alles andere ist Beiwerk.“ Also richtete ich meinen Blick zum Himmel und sagte: „Allmächtiger, mir ist es vollkommen egal, ob ich das Herz der feschen Tochter vom Huber-Bauern gewinne und ob du mich reich und berühmt werden lässt, aber eines ist ganz wichtig: Ich muss an eine Tausender kommen und wie der Spencer am Knie ums Eck fahren können!“
Yamaha zündete sehr spät
Obwohl Yamaha damals keine konkurrenzfähige Maschine gehabt hatte – ganz egal, wie viel Kohle man in XS 850 und XS 1100 gepufft hätte, die Eisen wären bei den AMA-Superbikes schon am Start überrollt worden –, war ich bei Erscheinen der ersten Yamaha XJR 1994 Feuer und Flamme. Der nackte Wahnsinn! Luftgekühlter Reihenvierer mit 1200 Kubik und dazu eine Form, die direkt zu den glorreichen Zeiten der wilden AMA-Rennerei führte. Es war, als ob mir der Allmächtige zuzwinkern würde: „So, das wäre jetzt deine Tausender. Ich habe die Japaner gleich 200 Kubik mehr einfüllen lassen, damit das Eisen richtig marschiert. Also bitte, hol dir jetzt die XJR und dann fahr gleich am Knie damit.“ Natürlich widersetzte ich mich nicht.
Aber es gab ein Problem. Die wunderbare Frau, die er mir wenige Jahre vorher freundlicherweise hatte zukommen lassen, hatte sich nie darüber beschwert, dass es auf meinem Konto immer ausschaute wie nach einem Waldbrand, aber als ich sie mit der Idee „Ich kaufe eine 1200er-Yamaha und lege sie um, bis der Deckel der Lichtmaschine schleift“ behelligte, verfinsterte sich ihr ansonsten strahlendes Gemüt und sie sagte: „Solange wir in diesem Loch wohnen und keinen Balkon haben, brauchst du keine Yahama.“ Yahama?! Tschahama. Yammaha. Ich hielt eine feurige Rede über die japanische Motorradmarke Yamaha, deren korrekte Betonung auf der zweiten Silbe liegt, deren Logo drei gekreuzte Stimmgabeln im Sinne des kosmischen Einklangs sind, und schwärmte von Jarno Saarinen, Kenny Roberts und Wayne Rainey.
Schon 1994 war die Yamaha XJR nicht zum Siegen auf der Welt. Sie war damals bereits eine Retro-Maschine, die auf eine glorreiche, vergangene Zeit verwies. Wie kampfschwach der überaus charismatische Bock tatsächlich war, musste ich 1996 erleben. Nach zwei Jahren des eisernen Sparens (wir wohnten noch immer im „Loch“) knallte ich 123.000 Schilling, also umgerechnet rund 17.000 Mark, auf den Tresen des Yamaha-Händlers und bekam dafür eine nagelneue XJR 1200 mit Jet-Kit und Remus-Auspuff. Nach kurzer Einfahrzeit sollte die Stunde der Wahrheit schlagen: Pannonia-Ring! Ich hatte Dave Aldana, Freddie Spencer, Eddie Lawson und Wes Cooley nicht vergessen. Jetzt war meine Zeit endlich gekommen! Und sie war schrecklich.
Was für eine unglaubliche Sauerei!
Ja Himmel, was für eine Entzauberung der Yamaha XJR, was für eine fürchterliche Demütigung, was für eine unglaubliche Sauerei! Dass mich die damals weit verbreiteten 900er und 600er-Supersportler abmontierten, konnte ich noch halbwegs akzeptieren, aber nachdem mich der junge Bocki Brezn mit seiner Cagiva Mito 125 mörderisch eingestampft hatte und in den Kurven quasi Kreise um mich gefahren war, saß ich mit leerem Blick leise wimmernd in der Box, inhalierte Schwarzen Krauser und liebäugelte mit Suizid. Verheerend, absolut verheerend. Na bumm. Was sollte ich tun? Später bremsen, weiter umlegen, früher und härter ans Gas gehen?
Nun, natürlich versuchte ich noch einmal alles. Die Sache war aber leider eindeutig: Beim späteren und dadurch härteren Bremsen hatte ich ein putzschwammartig diffuses Gefühl am Vorderreifen und lief Gefahr, die Front zu verlieren, beim weiteren Umlegen schürften nicht nur die Rasten, sondern auch der Auspuff am griffig rauen Asphalt, und als ich früher und härter ans Gas ging, stand die Yamaha XJR ziemlich abrupt mörderisch quer. Wow! Den eingeleiteten Highsider konnte ich mit mehr Glück als Verstand gerade noch abfangen. War knapp, sehr knapp. Ultraheiße Ohren, deftig pochendes Herz. Es war der richtige Zeitpunkt, um das AMA-Superbike-Racing-Projekt mit drei klaren Worten ad acta zu legen: „Das wird nichts.“ Dann fuhr ich nach Hause ins Loch ohne Balkon, schöpfte neue Hoffnung und sagte zur Blume: „Ab heute wasche ich jeden Tag ab. Versprochen. Großes Indianer-Ehrenwort! Denn die Kohle für den geplanten Geschirrspüler muss ich leider ins Fahrwerk pulvern.“
Die Liebe zur XJR währt ewig
Da die Geduld der Wunderbaren aber nicht endlos war und das Verständnis nicht grenzenlos, beließ ich es beim Serienfahrwerk und verwendete die XJR in der Folge artgerecht. Also nicht als Rennmaschine, sondern als reinen Straßenbock. Und da war sie dann Weltklasse. Ich rabaukte täglich forsch in die Arbeit, teilte die Kolonnen wie weiland Moses das Meer, sorgte im Wienerwald mit dem offenen Remus und dem entsprechend vollen Sound aus dem großvolumigen Reihenvierer für Furore und zog doppelt besetzt mit Packtaschen und Tankrucksack ans Meer. War eine großartige Zeit im Zeichen der Freiheit, die man nicht vergisst. Ich liebe die Yamaha XJR auch heute noch. Und wenn jemand sagt, sie sei ein „Schweine-Eimer“, weil sie halt im Vergleich mit den heutigen Sportgranaten fürchterlich abbeißt, zucke ich zusammen. Die XJR ist der letzte Mohikaner. Der große, luftgekühlte Block, der im fünften Gang von 50 bis 220 unvergleichlich souverän und mitreißend durchzieht, ist der letzte seiner Art.
Suzuki hat die gewaltige GSX 1400 längst in der Versenkung verschwinden lassen, Kawasakis beeindruckende ZRX ist Geschichte und Hondas CB 1100 F spielt einfach in einer „zarteren“ Liga mit schlankeren Reifen. Dass es auch die Yamaha XJR nicht mehr ewig geben wird, liegt daran, dass sie den Block zwar mittels Einspritzung für Euro 4 anpassen konnten, aber Euro 3 werden sie vermutlich nicht mehr schaffen. Eine unfassbare Niederlage, die mich direkt zum zentralen Satz der Normierungskritik führt: „Die Bleichgesichter haben keinen Verstand.“
Was kann denn der Jahrgang 2015?
Optisch finde ich die neue Yamaha XJR 1300 sehr gelungen. Das alte Heck war zu lang und zu ausladend, das neue ist knackiger. Überhaupt, wenn man die Mini-Kennzeichenhalter aus dem Yamaha-Original-Zubehör montiert. Der Sitz gefällt mir nicht hundertprozentig. Zwar finde ich den vorderen Teil sehr fesch, aber hinten ist er mir eine Nuance zu klobig und zu unharmonisch. Da hätte ich Handlungsbedarf und würde das Gespräch mit dem Sattler meines Vertrauens suchen. Weltklasse ist der neue Tank. In meinen Augen wunderschön geformt, an den entscheidenden Stellen verschlankt, der gewaltige Zylinderkopf kommt besser zur Geltung. Dass die Reichweite darunter gelitten hat, stört mich nicht, da ich mit der XJR sowieso keine Etappen jenseits der 200 Kilometer fahre.
Der Mensch lebt ja nicht von Luft allein, sondern benötigt auch ein Pfeiferl und den ruhigen Blick in das Land. Die bei der Yamaha XJR 1300 verbauten Spiegel an den Lenkerenden brauche ich nicht dringend, da sie das Kolonnenfräsen in der City unnötig erschweren, die Rizoma-Lenkstange aber taugt mir. Sie ergibt eine aktive Oberkörperhaltung und einen sehr guten Hebel für die Attacke im Reich der Radien. Da wird jetzt der Zweifler spöttelnd rufen: „Welche Attacke? Mit diesem Stein?“ Und ganz nüchtern betrachtet, muss man ihm zustimmen. Ich selbst bin aber kein Meister der nüchternen Betrachtung. Im Gegenteil. In meinem Schädel verknüpft sich immer alles automatisch mit emotionalen Fantasien, die so stark sein können, dass das Faktenpaket im Treibsand der Euphorie verschwindet.
Wolfsröcheln und Durchzug
Die Öhlins-Federbeine und die einstellbare Teleskopgabel sind sicher nicht schlecht, aber in Verbindung mit dem Doppelschleifenrahmen und der Kastenschwinge agiert die XJR tatsächlich nicht wie ein modernes Sportmotorrad. Die Abstimmung bei Auslieferung ist eindeutig auf der komfortablen Seite, aber selbst wenn man die Federelemente in den straffen Bereich dreht, ist die Yamaha XJR 1300 im Vergleich zu Straßensportlern wie Speed Triple R oder Tuono 1100 etc. ziemlich weich und unpräzise unterwegs. Das zentimetergenaue Treffen des Scheitelpunkts, das glasklare Spüren des Vorder- und des Hinterreifens sowie das inferiore Beschleunigen am Kurvenausgang kann die XJR einfach nicht bieten. Der letzte Mohikaner ist halt kein Krieger, der mit Unterstützung der jüngsten technischen Errungenschaften kämpft, sondern ein in sich ruhender Allrounder, der virtuos mit Tomahawk und Pfeil und Bogen sein Leben bestreitet.
Und das macht er beeindruckend und bewundernswert. Wenn der 1251 Kubik große, luftgekühlte Reihenvierer zum Leben erwacht, röchelt er im Standgas aus dem Akrapovic wie ein hungriger Wolf. Was für ein verheißungsvoller Klang! Kurze Gasstöße bringen dann ein heiser fauchendes Brüllen, das direkt in den Körper des Zuhörers fährt, ohne auch nur den Hauch von Assoziationen wie brutale Aggressivität oder gar Hysterie zu transportieren. Mich versetzt dieser mächtige Sound einfach in die wilde Zeit der AMA-Superbikes. Mit seinen 98 PS ist der Motor zwar um 50 PS schwächer als die Werkstriebwerke damals und mit 242 Kilo ist die Yamaha XJR 1300 um rund 60 Kilo schwerer als die Bol d’Or vom Spencer 1980, aber dafür kann ich die wilde Yamaha kommod und komfortabel bis ans Ende der Tage fahren, während die supergetunten Aggregate häufig explodiert sind.
Das Herausragende am Motor der Yamaha XJR 1300 ist neben der Einzigartigkeit und dem Sound der fantastische Durchzug. Im fünften Gang 50 km/h zu fahren, ist überhaupt kein Problem, sondern wirklich geschmeidig. Und wenn man dann das Gas öffnet, gibt es keinen einzigen Moment des Verschluckens oder des Zögerns. Der Reihenvierer zieht einfach bis 220 km/h durch, als ob ihn nichts auf der Welt aufhalten könnte. Was für ein großartiger Schub, was für eine souverän starke Beschleunigung!
Für ein großartiges Leben diesseits der letzten Rille
An ihre Grenzen stößt die Yamaha XJR 1300 im Reich der Radien. Zwar ist die Schräglagenfreiheit im freien Land durchaus ausreichend, aber um an den aktuellen Sportgranaten dranbleiben zu können, muss man großes Vertrauen in das kosmische Drehbuch haben und „schwer über den Häf‘n fahren“, wie man so sagt. Im Vergleich zu den modernen Power-Nakeds fühlt sich die XJR im „Knocking on heavens door“-Modus einfach schwammig wie ein Spültuch an. Das liegt nicht jedem. Andererseits gibt es ja den zentralen Satz des Motorsports: „Kontrolle ist immer langsam.“ Das Hinterfotzige an diesem Hoffnungsschimmer für alle stolzen XJR-Treiber ist nur, dass der Kontrollverlust auf dem bildschönen Retro-Bock halt früher kommt als auf modernen Raketen. Und stört mich das jetzt? Aber nein. Die XJR ist in meiner Seele wie die Sonne im Blau. Ich liebe es, wenn der große Motor die Maschine voll und geschmeidig aus dem Radius zieht. Das ist einfach göttlich. Genauso wie das Erscheinungsbild. Ich könnte die XJR stundenlang anschauen.
Würde ich denn heute, da das Konto einigermaßen aufgeforstet ist und die Blume bereits einen Geschirrspüler hat, in ein besseres Fahrwerk investieren? Nein. Selbstverständlich könnte man die Yamaha XJR 1300 in Richtung Racing umbauen – ich erinnere mich an die kompromisslose Hafner-XJR mit 180 Kilo und 180 PS aus 1400 Over-Kubik –, aber in meinen Augen ist der letzte Mohikaner in seiner souveränen Geschmeidigkeit eine echte Bereicherung der Welt. Es gibt auch ein großartiges Leben diesseits der letzten Rille.
Fazit und technische Daten
andreasriedmann.at
Zonkos Attacke - Yamaha XJR 1300.
Yamaha XJR 1300
Antrieb
Vierzylinder-Reihenmotor, vier Ventile/Zylinder, 72 kW (98 PS) bei 8000/min*, 108 Nm bei 6000/min*, 1251 cm³, Bohrung/Hub: 79,0/63,8 mm, Verdichtungsverhältnis: 9,7:1, Zünd-/Einspritzanlage, 34-mm-Drosselklappen, hydraulisch betätigte Mehrscheiben-Ölbad-kupplung, Fünfganggetriebe, G-Kat, Kette
Fahrwerk
Doppelschleifenrahmen aus Stahl, Lenkkopfwinkel: 65,0 Grad, Nachlauf: 92 mm, Radstand: 1500 mm, Upside-down-Gabel, Ø Gabelinnenrohr: 43 mm, einstellbar in Federbasis, Zug- und Druckstufe. Doppelfederbeine, einstellbar in Federbasis, Zug- und Druckstufe. Federweg vorn/hinten: 130/120 mm, Leichtmetall-Gussräder, 3.50 x 17/5.50 x 17, Reifen vorn: 120/70 ZR 17, hinten: 180/55 ZR 17, Erstbereifung: Dunlop D252 „L“, 298-mm-Doppelscheibenbremse mit Vierkolben-Festsätteln vorn, 267-mm-Einzelscheibe mit Zweikolben- Festsattel hinten
max. Hinterradleistung:
70,5 kW (96 PS) bei 201 km/h
Beschleunigung:
0 –100 km/h: 3,5 s; 0 –150 km/h: 6,9 s
0 –200 km/h: 15 s
Durchzug:
50 –100 km/h: 4,8 s; 100 –150 km/h: 4,8 s
Höchstgeschwindigkeit:
213 km/h
Gewicht
242 kg vollgetankt, v./h.: 50,4/49,6 %,
Tankinhalt: 14,5 Liter
Setup Gabel
Vorspanung: 2 Ringe sichtbar,
Druckstufe: 4 K offen,
Zugstufe: 2 K offen,
Niveau: Standard
Setup Federbein
Vorspannung: Standard,
Druckstufe: 8 K offen,
Zugstufe: 5 K offen,
Niveau: plus 4 mm
Grundpreis
10.295 Euro zzgl. NK
Zonkos Gedanken
andreasriedmann.at
Zonko: "Wenn ich so über die Yamaha XJR 1300 nachdenke, komme ich einfach ins Schwärmen."
Wenn ich so über die Yamaha XJR 1300 nachdenke, komme ich einfach ins Schwärmen. Der Sportfahrer wird sich vielleicht an den Schädel greifen und an meinem Verstand zweifeln, weil die XJR mit 242 Kilo und 98 PS keine Rakete ist und mit Doppelschleifenrahmen aus Stahl und Kastenschwinge trotz der Öhlins-Komponenten kein Fahrwerk hat, das mit modernen Sportgeräten mithalten kann.
Aber ich fahre extrem gerne mit der Maschine, die für mich der letzte Mohikaner ist, und ich schaue sie extrem gerne an. Diesseits der letzten Rille ist die Yamaha XJR 1300 mit dem großen, luftgekühlten Block einfach wunderbar zu fahren, und ich rufe voller Zuversicht: XJR forever!