Motorradtour entlang der B 96: Auf der wichtigsten DDR-Fernstraße

Motorradtour entlang der B 96
520 km auf der ehemals wichtigsten DDR-Fernstraße

Veröffentlicht am 21.07.2025

"Om – ma – ni – padme – hum", steht auf den tibetanischen Gebetsfähnchen. Diesmal nicht im Himalaja, sondern an der Himalayan, aufgespannt zwischen den Rückspiegeln der Royal Enfield. "De – De – Er – Be – Er – De" würde aber auch passen für unsere Reise, auf die Manfred, "Ossi" aus einem Dorf am Rande des Zittauer Gebirges, den "Wessi" Klaus vom Niederrhein mitnimmt. Um zu erzählen und erleben, wie es früher war und heute ist, entlang der B 96 zwischen dem sächsischen Zittau und Sassnitz auf Rügen.

Während die im Wind sukzessive zerfasernden Fähnchen mit dem buddhistischen Mantra das Glück aller Wesen in die Welt hinaustragen sollen, dabei Mitgefühl und den Wunsch nach Befreiung aus dem Kreislauf der Reinkarnation ausdrückend, kann sich unterwegs vielleicht auch offenbaren, als was denn nach dem Mauerfall 1989 die DDR wiedergeboren wurde.

Ehemalige Schlauchbootfabrik in Großschönau

Statt uns gleich festzuquatschen, bei Eisbechern von Café Lust am hübsch herausgeputzten Marktplatz in Zittau, wollen wir jetzt erst einmal die Motorräder bewegen. Zu zwei Stationen, die typisch sind für die Stadt, die nach der Wende rund 40 Prozent ihrer Einwohner verloren hat.

Während die ehemaligen VEB Robur-Werke Zittau als Lost Places einer ungewissen Zukunft entgegendämmern und im maroden Innenhof nur noch ein paar himmelblaue Lkw vom Typ LO 2002 dem rostigen Nirwana stoisch widerstehen, stimmt die zweite Station schon optimistischer. Ein wenig. In der wieder mal ehemaligen Schlauchbootfabrik in Großschönau, traditionelle Produktionsstätte für Rettungsflöße und Rettungsinseln, verlor bei der Schließung 2008 zwar auch die gesamte Belegschaft von 500 Leuten ihre Arbeit, aber immerhin ist in dem alten Fabrikgebäude nun ein liebevoll eingerichtetes Motorrad- und Technikmuseum zu Hause. Das Spektrum reicht vom skurrilen Phänomobil bis zu DDR-Rennmaschinen.

Drachenkopf begrüßt Himalayan

Am Zittauer Stadtring, zwischen der Weberkirche und einer Begegnungsstätte von Die Linke, Kreisverband Görlitz, beginnt sie dann, die B 96. Die Reise führt uns heute bis zur Beckenbergbaude , einem lauschigen Bio-Berggasthof hoch über dem Kottmarer Ortsteil Eibau. Ein Drachenkopf begrüßt Himalayan und Co., ein Geschöpf des jährlichen Kettensägenschnitzertreffens.

"Kurve geht mit 110 bei Vollgas im vierten Gang"

Der nächste Morgen. Im Rückspiegel erscheinen schemenhaft die Ketten des Zittauer Gebirges, links und rechts der Straße die typischen Umgebindehäuser. Fünfter Gang der Royal Enfield, tuck, tuck, tuck. Kontemplation statt Akzeleration, in Gedanken versinken statt Lust an der Beschleunigung. Bis zur ersten schärferen Links berghoch bei Oppach. "Die Kurve geht mit 110 bei Vollgas im vierten Gang, sonst verhungerst du am Berg", freut sich Manfred.

Gar nicht lustig dagegen: der berühmt-berüchtigte ehemalige Stasi-Knast in Bautzen, seit 1993 Gedenkstätte; und auch die anno 1991 von Neonazis angezettelten fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Hoyerswerda, begafft und beklatscht von Hunderten Einheimischen. Ja, manches bleibt einfach hängen und ist so schnell nicht zu vergessen.

Song "B 96" der Bautzener Band Silbermond

Ach ja: Zwischendurch eine Umleitung via Neudorf, vorbei am Fledermausschloss Weißig sowie an der Freizeitoase Jakubzburg in Mortka. Und wer so über die Dörfer fährt, kann sich auch als Fremder einfühlen in den Song "B 96" der Bautzener Band Silbermond, wo es melancholisch heißt:

Und die Welt steht still hier im Hinterwald
Und das Herz schlägt ruhig und alt
Und die Hoffnung hängt am Gartenzaun
Und kaum ein Mensch kommt je vorbei
Im Hinterwald
Wo mein Zuhause ist
Schön, wieder hier zu sein

Stopp am Sowjetischen Ehrenfriedhof in Baruth

Und wo sind wir heute Abend? Nach dem Rutsch entlang des Lausitzer Braunkohlereviers rund um das Großkraftwerk Schwarze Pumpe parken die Motorräder schließlich in Lieskau vor Werners Landgasthaus, direkt an der B 96. Nachahmern sei daher empfohlen: Zimmer nach hinten oder Ohrstöpsel gegen den Fernverkehr.

Die Sonne streift durch die Alleen Brandenburgs und begleitet uns auf dem Weg Richtung Berlin. Stopp am Sowjetischen Ehrenfriedhof in Baruth, wo ein T34-Panzer an die Kesselschlacht von Halbe erinnert. Anlass für einen "Systemstreit" zwischen Ossi und Wessi, Stichwort Annexion der Krim. Passend zu "Ost" und "West" gabelt sich die Bundesstraße kurz vor Berlin, führt als B 96 durch den Westen, als B 96a durch den Osten der einst geteilten Stadt. Wer B sagt, muss auch A sagen. Also rechtsrum.

Deutschlands größter Windkanal

Statt Kreuzberg, Brandenburger Tor und Reichstag: Hurricane Factory, Deutschlands größter Windkanal, Molecule Man in der Spree, monumentale Drei-Personen-Figur aus gelochten Alu-Platten und natürlich der Klassiker East Side Gallery mit Gorbi und all den anderen poppigen Graffiti. Wiedervereinigung in Birkenwerder, wo die B 96a von der Karte verschwindet. Wenige Kurbelwellenumdrehungen weiter die Wahl zwischen der Gedenkstätte KZ Sachsenhausen und dem barocken Schloss Oranienburg. Vor uns liegen noch 212 Kilometer bis Stralsund.

Die Gebetsfähnchen an der Enfield sind schon ziemlich zerfleddert. Und sonst? In Teschendorf der ketchuprote Imbiss "Curry B 96" von Jens Dröse, der dort seit zehn Jahren die Fritten schmiedet und selbstredend auch ’ne Mantaplatte kennt. Vor Gransee geht’s links ab zum Schloss Meseberg, Gästehaus der Bundesregierung. Ob die wohl dafür gesorgt hat, als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, dass bei Dannenwalde alle Bäume an der B 96 mit Zahlenschildchen durchnummeriert worden sind? Heile Welt am Ende des Tages in Klein Nemerow am Tollensesee, wo sich das Seehotel Heidehof als toller Übernachtungstipp am Rand der Mecklenburgischen Seenplatte entpuppt.

Neubrandenburger Reitbahnviertel

Reichlich Beton begegnet uns im Neubrandenburger Reitbahnviertel, einer Plattenbausiedlung aus DDR-Zeiten, die Fassaden mittlerweile immerhin farbig aufgepeppt. Manfred erinnert sich: "Du hattest da immer Leute, die auf die Kinder aufgepasst haben, von der Oma bis zu den Nachbarn. Es war eine richtig schöne Truppe, alles Nötige wie Heizung und warmes Wasser war da. Und die Kollegialität stimmte einfach. Flur putzen, Außenreinigung – du warst für das Umfeld mitverantwortlich. In der Schule wurdest du so erzogen, dass du für die anderen mitdenkst, auch für die Schwächeren. Dann kam mit der Wende der Bruch." Ostalgie? Rechtsempfinden und Sarkasmus spricht aus den Worten eines Herrn, der uns an der Ecke Reitbahnweg/Traberallee zugleich auf- wie unterhält. Er warte auf die Entschädigung, weil wir, gemeint sind die neuen Bundesländer, jetzt ja bei Ostwind die saubere Luft rüberschickten, so sein Statement. Tja, die Treuhand und zum Sterben verurteilte Industrien, eine tiefe Wunde.

Noch 70 Kilometer bis Rügen

Unermüdlich wie ein Stehaufmännchen treibt der Kolben im Vierhunderter-Einzylinder die weiße Enfield schnurstracks weiter gen Norden. Noch 70 Kilometer bis Rügen. Doch wo ist die B 96 geblieben? Untergegangen in der Flut neuer Schnellstraßen, herabgestuft zur Landesstraße L 35. Vor Brandshagen finden wir doch noch alte Fernstraßenherrlichkeit: unterm Blätterdach eine Kopfsteinpflasterallee, viel zu schön und schmal für den Verkehrsfluss 3.0. Der aber Rügen die moderne Hochbrücke über den Strelasund sowie die neue Inselautobahn beschert hat, Entlastungsstrecke für die ursprüngliche B 96. Die ist jetzt wieder aufgetaucht – und endet am Kreisverkehr in Sassnitz.