Ich bin zu spät. Der Fahrtwind bläst unangenehm stramm durchs Visier. Eigentlich bin ich schon mein ganzes Leben lang zu spät. In scharfem Galopp versuche ich auf der vertrackten Strecke durch die Gorges du Cians Minuten gutzumachen. Die blutrote Felswand rauscht an mir vorbei wie ein ICE, der an einem Provinzbahnhof vorbeidonnert. Vermutlich werde ich sogar zu meiner eigenen Beerdigung zu spät kommen. Aber diesmal will ich pünktlich sein. Muss ich pünktlich sein! Die Frau, die ich treffen will, kommt mir extra eine Stunde weit entgegen. Und hat bestimmt Wichtigeres zu tun, als einen Monsieur aus Allemagne in einem Dorf der Seealpen zu treffen.
Clara Cottot mit einer Transalp der ersten Baureihe
Das Tal weitet sich. Auf einem pyramidenförmigen Berg thront die Festungsanlage von Baumeister Vauban. Darunter flattern bunte Flaggen im Wind. Die Drehzahl der R nineT sinkt auf ortsgerechtes Brummeln. Hinter den Flaggen spannt sich eine schmale Bogenbrücke über den türkis strömenden Var hinüber zur Altstadt von Entrevaux. Dort, genauer auf dem Platz Charles Panier, will ich Clara Cottot treffen, die in Frankreich eine Ikone unter den dortigen Motards ist.
Aber die Brücke in die Altstadt ist für Fahrzeuge gesperrt. Hm, wo parke ich die BMW? Ah, direkt gegenüber der Brücke parkt eine Transalp der ersten Baureihe in Originalfarben. Das muss die Transe von Clara sein. Ich kicke den Seitenständer raus, zupfe den Schlüssel aus dem Zündschloss. Ein Blick auf die Uhr: zehn Minuten zu spät. Ich haste über die Brücke, dann unter dem Torbogen hindurch auf den mittelalterlichen Platz. Es ist niemand zu sehen. Bin ich doch nicht zu spät? Ein neo-klassischer Shoei-Helm liegt verwaist auf einer Tischplatte. Unsicher schaue ich mich um, bis ich sie sehe. "Bonjour Dirk, schön dich zu sehen. Wohin fahren wir?"
"Einer der besten Abschnitte der Rallye Monte Carlo"
Wenn man zum ersten Mal gemeinsam mit jemandem fährt, dessen Fahrstil man nicht kennt, braucht man Zeit, um sich aneinander zu gewöhnen. Deshalb bin ich auf dem Weg nach Puget-Théniers mit meiner Konzentration zur Hälfte im Rückspiegel und bei Clara. Aber das ist völlig unnötig: Wie ein Magnet klebt ihre angejahrte Transalp an meinem Rücklicht. Kein Wunder, das hier sind ihre Hausstrecken.
Ich drehe mit dem Abzweig in die Cians-Schlucht die Konzentration wieder zu 100 Prozent nach vorn. Die BMW schnalzt voran, von den Felswänden schallert der Boxersound zurück. Kurzer Blick in den Rückspiegel: Der Transalp-Scheinwerfer ist beständig in Sichtweite. An der Einmündung nach Pierlas halte ich an und muss lachen: "Du wringst die Transe ja ganz schön aus." – "Wenn du so zackig fährst", zwinkert sie zurück. "Hier beginnt übrigens einer der besten Abschnitte der Rallye Monte Carlo." – "Willst du mal die BMW fahren?" – "Ja klar!"
"Stilfser Joch ist gegen das hier eine Autobahn!"
Warum die Strecke Teil der Rallye Monte Carlo wurde, merke ich kurz vor Pierlas. Der nur handtuchbreiten Straße würde selbst eine Markierung zu viel Platz rauben. Gegenverkehr? Besser nicht! Und wenn du nie gelernt hast, Serpentinen zu fahren, ist es jetzt ohnehin zu spät, es zu lernen. Damit wir uns richtig verstehen: Das Stilfser Joch ist gegen das hier eine Autobahn.
Ich habe Mühe, mit der Transalp an Clara, die den Boxer pilotiert, als sei sie nie etwas anderes gefahren, dranzubleiben. Und die Strecke wird echt vertrackt: Die Linkskehren gehen noch, aber die folgenden Rechtskurven gleichen Rangieraktionen in einer viel zu engen Garage: Lenkanschlag, erster Gang, schleifende Kupplung, Puls im Hals. Wir sollten auf Supermotos wechseln!

Eine Behelfsbrücke aus Fachwerkstählen, die auch in Tibet auf dem Weg nach Lhasa stehen könnte, überspannt einen trockengefallenen Canyon.
Auf der Passhöhe des Col de la Sinne
Nach dem rallyetauglichen Zickzack entlässt uns eine lange Gerade auf die Passhöhe des Col de la Sinne. Wie nach einem Zieleinlauf trudeln wir aus, halten an einer hölzernen Bank. Clara deutet auf eine Reihe kahler Berggipfel: "Da unterhalb liegt Ilonse. Bis dahin kann ich noch mitfahren, dann muss ich zurück nach Nizza." Bevor wir weiterfahren, fällt mein Blick auf den Asphalt, der seinen Aggregatzustand unter der Sommersonne ändert. Der TKC 80 auf der BMW hat sein Profil in den glänzenden Asphalt gestanzt. Spuren, die bleiben werden.
Bruchsteinmauern, Kopfsteinpflaster, der Dorfplatz von Ilonse. Auf der Terrasse des "La Meridiana" sitzen die wenigen Gäste auf glatt polierten Holzbänken. Unsere verschwitzten Helme legen wir in den Schatten, bestellen Eiskaltes zu trinken, reden Benzin, über Instagram, das Clara bekannt gemacht hat, über Architektur und ihr Designbüro, das sie zugunsten des Motorradreisens aufgeben will. In einer Gesprächspause stellen wir fest, dass es längst dunkel geworden ist. Die Straßenbeleuchtung taucht alles in ein warmes Licht. "Ich muss langsam nach Hause. Morgen habe ich einen Termin in Nizza." – "Und ich muss zur Herberge in Valberg. Da warten meine Freunde Thierry und Raoul auf mich. Wie lange brauchst du bis nach Hause?" – "Ungefähr eine Stunde." Nach Valberg dauert es fast genauso lang. Nur liegt es in der völlig entgegengesetzten Richtung. "Bonne route et bonne nuit!"
Von Valberg nach Guillaumes
Am nächsten Morgen treffe ich mit meinen Freunden Thierry und Raoul die nächsten Ortskundigen. Wir schlürfen den Frühstücksespresso auf der Holzveranda der Bar "Le Sapet". Wir haben uns so gesetzt, dass die kubistischen Bausünden des Wintersportorts, den jetzt kein winterlich-weißes Mäntelchen der Unschuld mehr bedeckt, in unserem Rücken liegen. Ich bin voller Fahrdrang. "Allez! Los geht’s!" Raoul räuspert sich: "Äh, wir warten noch auf jemanden." – "Auf wen?" Es muss ein Hauch von Ungeduld in meiner Stimme gelegen haben. Raoul hüstelt: "Geraldine, eine Freundin aus Châteauneuf. Sie wollte unbedingt mitkommen, weil das hier ihr Traumrevier ist. Und weil sie ihr neues Motorrad einfahren muss." Fast fällt mir ein Stein vom Herzen. Noch jemand, der wie ich nicht immer pünktlich ist. "Was fährt sie denn?" – "Eine Honda Dax." Thierry und ich starren uns an. Sekunden des Schweigens. Dann prustet Raoul los: "War nur Spaß!" In dem Moment biegt eine F 850 GS um die Ecke. Raoul winkt. Geraldine ist da.
Von Valberg gibt es zwei Strecken nach Guillaumes. Einmal über den gleichnamigen Pass, Col de Valberg, und zum anderen über Péone. Beide sind saftig! Aber die Route über Péone ist die kleinere, abgelegenere. "Die nehmen wir!", entscheidet Thierry und stülpt den Helm über.

Vergiss Utah! Vergiss den Grand Canyon! Die Daluis-Schlucht ist zwar nicht so groß wie der amerikanische Kollege, aber hier fahren wir, eben anders als in den USA, kilometerweit durch den purpurroten Canyon. Ein Naturtunnel reiht sich an den nächsten.
Spitzkehren, Haarnadelkurven, Naturtunnel
Gut, dass ich gestern auf dem Weg nach Ilonse schon geübt hatte. Heute geht’s steil bergab, statt tiefrot sind die Felswände jetzt granitgrau. Spitzkehren, Haarnadelkurven, Naturtunnel. Das Bremslichtgewitter vor mir ist allgegenwärtig. Gabeln tauchen tief ein, Stiefelspitzen tasten nach Grund. Geraldine schwingt sich auf ihrer 850er-BMW immer besser ein. Dann verjüngt sich der Asphalt auf das Rallyemaß von gestern. Eine Behelfsbrücke aus Fachwerkstählen, die auch in Tibet auf dem Weg nach Lhasa stehen könnte, überspannt einen trockengefallenen Canyon. Dahinter bläht sich die Straße wieder auf Standardgröße auf, Markierung und satter Grip kommen wie von selbst dazu. Grobe Metallnetze an den Felsstürzen schützen auf den letzten Metern vor Guillaumes vor Steinschlag.
Der Ort hat sich herausgeputzt, will mit der im Sommer brachliegenden Wintersportromantik nichts zu tun haben. Ein Anflug von Idylle strömt mir in die Augen. Ich denke an Pause, aber das ist Unsinn. Von Valberg sind wir keine 20 Minuten weit gefahren. Thierry scheint meine Gedanken zu lesen: "Na, hast du schon wieder ein Café im Kopf?" Die Antwort wartet er nicht ab, lacht und biegt links zur Gorges de Daluis ab.
Kilometerweit durch purpurroten Canyon
Vergiss Utah! Vergiss den Grand Canyon! Die Daluis-Schlucht ist zwar nicht so groß wie der amerikanische Kollege, aber hier fahren wir, eben anders als in den USA, kilometerweit durch den purpurroten Canyon. Ein Naturtunnel reiht sich an den nächsten. Hier wird mit Freuden betulich gefahren, immer neue Blicke auf die krasse Landschaft erhascht. In einem der Tunnel setzt Thierry den Blinker links. Wo will der hin?
Gleich hinter dem Tunnel zweigt eine schmale Straße ab, die sofort auf eine schmale Bogenbrücke hoch über der Schlucht mündet. Eine Hammerstelle. Wir parken die Bikes, gehen auf die Mitte der Brücke und machen jede Menge Selfies. Mein Handy piept. Nachricht von Clara: "Gestern Nacht gab es eine Streckensperrung. Musste einen Riesenumweg fahren und war erst um vier Uhr zu Hause. Bin heute Morgen zu spät zum Termin gekommen." – "Tut mir leid", texte ich aufrichtig. Aber ein kurzer Moment der Dankbarkeit gesellt sich dazu. Ich bin nicht der Einzige, der zu spät kommt.