Bitumen-Unfall vor Gericht
Im Namen des Volkes

Schattiges Kreissträßchen, kaum Verkehr, keinerlei Warnschild – wer ahnt da Böses? Und doch lauert’s hinter der Kurve: Bitumen, spiegelglatt. Der Fleck wurde einem BMW-Fahrer zum Verhängnis. Er klagte – und verlor. Der Sturz, der Prozess, das Urteil.

Im Namen des Volkes
Foto: Schümann

Durch hügelige Wälder kurvt die schmale Kreisstraße 2130 in Richtung Süden. Verkehr? Kaum, außer es ist zwischen Osterburken und dem Weinsberger Kreuz auf der fast parallel verlaufenden A 81 mal wieder Stau. Am späten Nachmittag des 24. August 2013 war keiner. Es war recht kühl und nieselte. Trotzdem entschloss sich Dieter Eblen, der mit seiner R 1200 GS heim nach Backnang (bei Stuttgart) fuhr, für die letzten Kilometer die Autobahn zu verlassen. Den Kopf frei kriegen, nicht mehr an den Geschäftstermin in Kassel denken, von dem der Versicherungskaufmann eben kam.

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Das Navi lotste ihn über die Kreisstraße auf Lampoldshausen zu. Die Strecke war frei, die Sicht den Umständen entsprechend, der Asphalt wechselhaft, teilweise feucht. Für einen routinierten Biker wie Eblen immer noch ausreichend, um Spaß am Fahren zu haben. Bis zu jener Rechtskurve im Wald. Griffig, aber wenig einsehbar. Eblen ist schon durch, hat kaum noch Schräglage, als die GS hinten schlagartig nach links ausbricht. Er lenkt gegen, um den Drift abzufangen, doch es reicht nicht mehr. Die GS knallt hin, rutscht rechts in den Graben, überschlägt sich und bleibt liegen. Perplex tastet sich der Fahrer ab. Die Knochen sind noch ganz, nur das rechte Knie schmerzt. War das Glatteis? Im August?!?

"100 waren erlaubt, aber ich war sicher nicht schneller als 60"

Geduldig hört Richterin Stephanie Morgenstern zu, als Dieter Eblen ihr seinen Fall im kleinen Sitzungssaal im Erdgeschoss des Heilbronner Landgerichts vorträgt. Wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht hat er gegen das Landratsamt geklagt. Denn das vermeintliche Glatteis war eine mehrere Quadratmeter große Bitumenfläche. Hinter der Kurve ist der Belag 50 Jahre alt, der Spliteintrag, der für Grip sorgen soll, ist im Lauf der Jahre verschwunden. Zwei-, dreimal fragt Richterin Morgenstern nach, etwa was ein abgerissenes Topcase sei. Dann will sie wissen, wie schnell Eblen fuhr. „100 waren erlaubt, aber ich war sicher nicht schneller als 60“, sagt er. Sein Anwalt ergänzt, dass Eblen seit 34 Jahren Motorrad fährt und noch nie gestürzt sei. Bis auf dieses eine Mal. Richterin Morgenstern nickt, schaut sich die Fotos der Kurve an, die der Anwalt ihr vorlegt. „Hier ist Bitumen“, sagt er. „Aha, aber die Kurve ist nicht einsehbar?“, fragt sie. Dann erteilt sie der Gegenseite das Wort.

Per Anwalt lassen der Chef des Heilbronner Straßenverkehrsamts und der Leiter der zuständigen Straßenmeisterei erklären, dass die Strecke völlig in Ordnung sei, täglich von 1250 Fahrzeugen befahren und regelmäßig kontrolliert würde. Und dass die Polizei in den letzten zehn Jahren an jener Stelle genau zwei Unfälle aufgenommen habe – ein abgelenkter Brummifahrer im Graben, ein Auffahrunfall, aber kein einziges anderes weggerutschtes Motorrad.

Die Behörde ist doppelt aus dem Schneider

Wieder hört Richterin Morgenstern stumm zu. Dann sagt sie Richtung Kläger: „Sie müssten nachweisen, dass der Belagwechsel hinter der Kurve, nicht die Geschwindigkeit ursächlich für den Unfall war.“ Und ergänzt: „Wahrscheinlich war es unangepasste Geschwindigkeit. Sie sagen, die Kurve war nicht einsehbar? Auch das spricht gegen Sie. Ich lege Ihnen nahe, die Klage zurückzuziehen.“ Dieter Eblens Gesichtszüge sind angespannt, als ihn der fragende Blick seines Rechtsanwalts trifft. Kurzes Kopfschütteln. „Kein Interesse“, sagt der Anwalt. „Also gut, dann entscheide ich“, sagt die Richterin und erklärt die Sitzung für beendet.

Das schriftliche Urteil „im Namen des Volkes“ fällt denn auch wenig überraschend aus: Klage abgewiesen. Die neunseitige Begründung dröselt auf, warum für die Richterin „kein Grund zur Annahme“ besteht, dass die Fahrbahnbeläge an der Unfallstelle den üblichen „Anforderungen an die Griffigkeit“ nicht genügen sollten. „Zudem darf eine vollständige Gefahrlosigkeit nicht erwartet werden, denn die Verkehrsteilnehmer haben keinen Anspruch darauf, überall einen guten oder wenigstens mangelfreien Zustand der Straße anzutreffen.“

Klartext: Dieter Eblen hätte eben vorsichtiger fahren müssen. Und selbst wenn, so die Begründung weiter, „man eine Amtspflichtverletzung unterstellte“ (sprich die Unfallstelle tatsächlich glatt wie Schmierseife ist), müsste BMW-Fahrer Eblen erst die „Kausalität der Amtspflichtverletzung für das Unfallereignis“ beweisen: Dass nämlich die Bitumenfläche zum Sturz geführt hat, nicht etwa ein Fahrfehler – die Behörde ist damit doppelt aus dem Schneider. Im Abschluss zitiert Richterin Morgenstern den lapidaren Satz aus einem Urteil des Oberlandesgerichts Hamm von 2003: „Wer für die Straßen- und Sichtverhältnisse zu schnell fährt, muss seinen Schaden unter Umständen auch allein tragen.“

Interview mit Kläger Dieter Eblen

Michael Schümann
Dieter Eblen rutschte nach eigenen Angaben mit 60 km/h weg und stürzte.

Wie lange fährst du schon Motorrad, und ist dir so ein Ausrutscher schon öfter passiert?

Eblen: Auf der Straße seit 1980, ab 1987 hatte ich aus Sicherheitsgründen angefangen, auf Rennstrecken zu fahren, meistens mit Speer Racing. 1994 war ich Deutscher Rundstrecken-Pokalmeister mit B-Lizenz, anschließend Instruktor bei Speer. Bis heute hatte ich bei weit über 100 000 Kilometern auf der Straße keinen Sturz, nicht im Trockenen und nicht im Regen.

Schon im Gerichtssaal war eigentlich absehbar, wie die Sache ausgehen würde. Warum hast du dich trotzdem dafür entschieden, die Klage nicht zurückzuziehen? Ein Teil der Gerichtskosten wären dir erspart geblieben.

Eblen: Mein Ziel war nicht nur die Erstattung meines Schadens, sondern zu erreichen, dass die betreffende Stelle für Motorradfahrer sicherer wird, wenigstens durch ein Warnschild. Glücklicherweise hatte ich von meiner Rechtsschutzversicherung eine Deckungszusage, sodass ich in dem Fall nicht auf die Kosten achten musste. Momentan denken wir über Berufung nach.

Hat sich das Gericht die Mühe gemacht, die Unfallstelle mal selbst zu begutachten? Und wenn, was hätte es dort gesehen?

Eblen: Eine Inaugenscheinnahme der Unfallstelle wurde nicht einmal ansatzweise in Betracht gezogen, da es offenbar ausreicht, wenn die Streckenkontrolle der Straßenbauverwaltung einmal alle zwei Wochen die Strecken abfährt. Ich bezweifle aber stark, dass die Kontrolleure tatsächlich derartige Gefahrenstellen erkennen oder erkennen wollen. Da es an der Stelle sogar zu Fuß rutschig ist, kann ich mir das nicht vorstellen.

Das Urteil besagt nun, dass du selbst schuld am Unfall bist. Was sind deine persönlichen Konsequenzen?

Eblen: Ich bin zurzeit mit der Biker Union in Kontakt und werde noch dieses Jahr mit meinem Motorradverein sogenannte Bitumen-Rallyes veranstalten. Diese Aktion macht für mich Sinn, und vielleicht erreichen wir mehr. Es gibt ja Straßenbeläge, die für Reparaturen geeignet sind und nicht diese extrem gefährlichen Eigenschaften haben. Wenn man es nur schafft, dass künftig diese eingesetzt werden, wäre schon eine Menge getan. Ich kann nur dazu aufrufen, sich an den Aktionen der BU zu beteiligen oder eigene zu veranstalten und die Gefahrenmeldungen auf bvdm.de zu ergänzen. Je mehr wir tun und den Behörden die Missstände mitteilen, desto mehr Druck entsteht.

Was denkst du bedeutet das Urteil für Motorradfahrer allgemein?

Eblen: Dasselbe wie alle Urteile der Vergangenheit auch: Wenn irgendein Gericht dem Kläger recht geben würde, hätte das eine Lawine von weiteren Klagen zur Folge, und die Straßenbauverwaltungen müssten erhebliche Mittel für die Reparatur solcher Gefahrenstellen aufwenden.

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