Die Briten lieben ihren Union Jack, das ist klar. Seit dem 23. Juni 2016 ist auch klar: Auf die Sterne der Europa-Fahne kann die Mehrheit von ihnen gut verzichten. Sie macht lieber ihr eigenes Ding. Etwas mehr als die Hälfte von ihnen glaubt, so besser zu fahren. Angesichts dessen ist es wahrlich kein Wunder, dass die selbstbewussten Insulaner eher die ruhmreiche Commonwealth-Vergangenheit als die gemeinsame europäische Zukunft im Blick haben. In diesem Kontext ist es nur logisch, dass sich die Briten gerade jetzt ihrer ruhmreichen Motorrad-Historie erinnern, die seinerzeit wie fast überall auf der Welt von der japanischen Hightech-Offensive überrollt wurde. Von Ariel bis Norton – es grollt und donnert wieder im Königreich, von der Kleinserie bis hin zur angedachten Massenproduktion reicht die Palette der Aktivitäten. Aber was ist dran?
Norton

Wer heute „Norton“ sagt, muss im gleichen Atemzug „Stuart Garner“ sagen, denn ohne den Selfmade-Millionär und Rennsport-Freak wäre die legendäre Marke wahrscheinlich längst Geschichte. Der 46-Jährige aus Barrow on Trent, der mit 16 die Schule abbrach, als er „Bier, Mädchen und Yamahas LC 250“ für sich entdeckte, später Wildhüter wurde und hernach mit einer Feuerwerk-Fabrik seine erste Million machte, kaufte Ende 2008 nach einer wechselvollen Geschichte alle Rechte und Entwicklungen der Marke vom amerikanischen Investment-Banker Ollie Curme. Der hatte nach dem Lehman-Crash dringend frisches Geld gebraucht. Danach benötigte Garner rund zwei Jahre, bevor die erste Comeback-Commando auf den Straßen des Königreichs rollt. 2014 kam mit der Dominator ein zweiter Commando-Ableger dazu, bevor Norton im Herbst 2016 auf der britischen Motorradmesse NEC – wo sonst? – den nächsten Paukenschlag präsentierte: das erste „all British hypersports model ever“, die Norton V4.
Sie wird 2017 auf den Markt kommen, und wenn sie hält, was die technischen Daten versprechen, ist das eine kleine Sensation. Vor allem, weil Norton nicht, wie bei der diesjährigen TT-Teilnahme (Platz sieben unter dem Australier David Johnson bei den Superbikes) auf einen Aprilia-RSV4-Motor setzt, sondern auf einen komplett neu entwickelten V4 mit 72 Grad Zylinderwinkel und 1200 Kubikzentimeter Hubraum. Der soll exakt 200 PS bei 12 500/min drücken und steckt in einem Aluminium-Brückenrahmen mit Rundrohr-Optik nach Triumph-Vorbild. Als Fahrwerkskomponenten kommt feinste Öhlins- und Brembo-Ware zum Einsatz. Auch, was die Elektronik angeht, schöpfen die Briten aus dem Vollen und setzen die neueste Sechsachsen-IMU von Bosch zur Steuerung ihrer Assistenzsysteme ein. Die sollen das Power-Pack aus 200 PS und 179 Kilogramm Trockengewicht im Zaum halten, mit dem Norton nicht nur ein Superbike mit dem Anspruch „the best of british“, sondern auch die Erfahrungen aus den vergangenen fünf Jahren Isle of Man TT-Racing auf die Straße bringt.
Das alles gibt es allerdings nur noch als RR-Version (28 000 Pfund), denn die 200 Norton V4-SS (44 000 Pfund) mit einem handgefertigten, von Hand polierten Rahmen und einer aus dem Vollen gefrästen Schwinge (siehe oben), ist bereits ausverkauft. Kein Wunder, die weitgehend aus Aluminium und Karbon bestehende V4 (selbst der Tank ist aus dem leichten Werkstoff) ist eine echte Schönheit mit faszinierenden Proportionen geworden, die Designer Simon Skinner vom gestalterischen Gesichtspunkt „mit Marken wie Aston Martin, Jaguar und McLaren“ vergleicht. Und die seien eben weltweit führend, so Skinner.
Die britische Sicht der Dinge eben – und die V4 wird vermutlich auch überwiegend britische Kunden haben, wohlbetucht selbstverständlich, die einen Motorradkauf auch als eine Frage der nationalen Ehre betrachten. 28 000 Britische Pfund sind immerhin knapp 33 000 Euro – für ein Motorrad, das trotz aller Exklusivität (oder gerade deswegen) vermutlich nichts besser kann als die aktuellen Superbikes von der Stange. Aber darum geht es im Grunde bei der Norton-Wiedergeburt ja auch gar nicht.
Hesketh

So gesehen könnten Stuart Garner und Paul Sleeman ohne Weiteres zusammenspannen, denn auch der 52-jährige Design-Ingenieur und Erfinder einer Vorrichtung, welche bei Dieselfahrzeugen die Falschbetankung mit Benzin verhindert, ist wild entschlossen, die Welt mit einer alten britischen Marke neu zu beglücken. 2010 war es, als Norton-Commando-Fahrer und Motorrad-Enthusiast Sleeman mit dem Geld aus seiner Londoner Firma Tullman Design bei Lord Alexander Hesketh vorstellig wurde, um über die Rechte an des Lords Marke zu verhandeln. Man wurde sich schnell einig, und seitdem arbeitete Sleeman mit Nachdruck am Revival des klingenden Namens, der zunächst durch einen schillernden Formel 1-Auftritt mit dem ebenso schillernden James Hunt und später durch die Hesketh V 1000 berühmt wurde. Deren 86 PS starker V2 kam schon 1980 mit Alu-Zylinderköpfen und vier Ventilen pro Zylinder daher.
Es dauerte vier Jahre, dann präsentierte Sleeman mit der „24“ einen auf ebendiese Stückzahl limitierten Streetfighter, dieses Mal allerdings nicht mit einem eigens entwickelten Motor, sondern mit dem mächtigen amerikanischen 52-Grad-S&S-Twin mit über 1900 Kubikzentimetern. 35 000 Britische Pfund verlangte Sleeman für die 24 – und bekam sie, und zwar nicht nur von Briten, sondern von Kunden aus der ganzen Welt. „Natürlich kam die Mehrheit aus dem United Kingdom, aber wir haben auch nach Deutschland, Spanien, Australien und Russland geliefert. Alle waren zufrieden. Das ist das Wichtigste, wenn du von jemandem eine große Summe Geld nimmst mit dem bloßen Versprechen, mehr zu bieten als alle anderen. Aber wir haben Wort gehalten. Und nun müssen wir allen zeigen, dass Hesketh keine einmalige Nummer ist.“ Dafür steht die neue Sonnet (Fahrbericht in MOTORRAD 26/2016), die noch weitaus mehr als die Vorgängerin 24 für Sleemans Idee von einer AC Cobra auf zwei Rädern steht, für eine Kombination aus großvolumigem Ami-Big-Block und britischer Eleganz und Handlichkeit.
100 Stück von dem puristischen Roadster mit dem nochmals größer gewordenen S&S-Twin (2163 Kubikzentimeter und 145 PS) möchte Sleeman an den Mann bringen, denn Männer (oder starke Frauen) sollten es schon sei, um die 210 Newtonmeter Drehmoment bei 3000/min zu bändigen. Setzt er die für rund 29000 Euro ab, so hat der Brite durchgerechnet, kann das nächste Projekt folgen. Ein Motorrad „jenseits von allem bisher Dagewesenen“, mit einem von Motus in Birmingham/Alabama gebauten V4 mit 1650 Kubikzentimetern, der dort auch den Sporttourer MST sowie die aufsehenerregende Bienville Legacy V4 befeuert. Die Verträge sind unterschrieben, und Sleeman glaubt fest an seinen Erfolg. „Schon die erste Hesketh von 1981 war ein technologisches Statement. Damals, als Ducati ausschließlich luftgekühlte Zweiventiler baute und Guzzi und Harley ihre Ventile nur über Stoßstangen steuerten. Okay, das ist 30 Jahre her, aber wir wollen, dass unsere Kunden stolz auf ihre Hesketh sind. So etwas darf es nirgendwo sonst geben.“
Ariel

Eine Aussage, die Ariel-Chef Simon Saunders wohl umgehend unterschreiben würde. 2001 ließ er die alte Marke mit dem
großen Namen wiederauferstehen, zunächst mit einem Auto, einem straßenzugelassenen Renn-Zweisitzer namens Atom.
2014 kam dann die Ace, die für sich beanspruchen kann, weit vor der Norton der erste V4 britischer Prägung gewesen zu sein. Zumindest was die Exzentrik angeht. „Motorradfahrer lieben ihre Maschinen“, so Saunders, „aber sie wollen ihr ganz persönliches Motorrad, nicht irgendeins!“ Das bekommen sie bei der kleinen Manufaktur aus Crewkerne in Somerset, keine Frage. Hier wird alles auf Wunsch gefertigt, was der aus dem Vollen gefräste Leichtmetall-Gitterrohrrahmen aufnehmen kann, bis hin zur Trapez-Gabel aus eigener Fertigung oder einem edlen Öhlins-Bauteil, vom Felgendesign bis zum Sitzbankbezug. Nur der Motor bleibt immer derselbe: der Honda-V4 der VFR 1200 mit 1237 Kubikzentimetern und auf Wunsch mit DTC. In der jüngst ebenfalls in Birmingham vorgestellten R-Variante allerdings mit deutlich mehr Druck. Auf 201 PS hat der bekannte englische Tuner Mark Woodage den V4 mit viel Feinarbeit gepumpt, während ganz viel Karbon (Felgen, Bodywork, Tank) das Gewicht beträchtlich senkt. Und natürlich den Preis nach oben treibt. Sind roundabout 25 000 Euro für die günstigste Ace-Variante angesetzt, wird eine „R“ mit 49 995 Euro angesetzt. Ohne Steuern, versteht sich.
Kann das funktionieren? „Ja“, meint Geschäftsführer Tom Siebert, denn „nach 17 Jahren, in denen wir Ariel ganz langsam zu dem gemacht haben, was es heute ist, wissen wir, wie Kleinserien funktionieren. Und wie die Kunden ticken, die sie kaufen.“ Siebert dürfte damit allerdings eine ganz andere Klientel meinen als jene, die der britischen Wiedereinsteiger BSA im Visier hat.
BSA

BSA – was für ein Name in der britischen Motorrad-Historie. Und Mahindra – was für ein Industrie-Riese dahinter. Schnell ist klar: Hier geht es nicht um exklusive Kleinserien für wohlbetuchte Kunden, hier geht es um den großen Deal. Die Mahindra-Group ist einer der Top-20-Konzerne des Subkontinents und seit 2008 im Motorrad-Geschäft. Die Inder investierten seitdem rund 200 Millionen Dollar in ihre Zweiradsparte MTW (Mahindra Two Wheelers), stellten eine Fabrik mit der Produktionskapazität von 500 000 Einheiten auf die grüne Wiese, sind aber dennoch mit rund 150 000 Einheiten der kleinste der fünf großen indischen Hersteller (hinter Hero, TVS, Bajaj und Royal Enfield). Schlimmer noch: Im zweitgrößten Zweiradmarkt der Welt (über 15,4 Millionen Einheiten im Jahr 2015) machten sie über die Jahre rund 148 Millionen Dollar Verluste. Es war an der Zeit, umzudenken.
Im Oktober vergangenen Jahres kaufte die Classic Legends Pvt. LTD, eine Tochter der Mahindra Group, für 3,4 Millionen
Britische Pfund alle 120 000 Aktien von der Regal Engineering, der Halterin der BSA-Namensrechte. Im Anschluss an diesen Deal machte Mahindra seine Pläne öffentlich, die Marke innerhalb der nächsten zwei Jahre in den europäischen und nordamerikanischen Märkten wiederzubeleben. Und zwar mit in England entwickelten und designten Motorrädern, die möglichst auch im Königreich produziert werden sollen. „Wir glauben, dass es uns möglich sein wird, die Aura und den kommerziellen Erfolg einer Marke mit diesem Ruf wiederauferstehen zu lassen“, sagt Rajesh Jejurikar (51), der Präsident und CEO von MTW. „Wir wollen die Marke zeitgemäß aufstellen, ohne den historischen Touch von BSA zu verlieren.“ Als Vehikel dazu schwebt den Indern ein Single zwischen 500 und 750 Kubikzentimetern vor, weil dort „eine Marktlücke für einen klassischen Einzylinder besteht“. Man werde umgehend ein Entwicklungsteam bilden, das vor Ort schnellstmöglich loslegt. Das ist auch notwendig, denn Jejurikar will mit der ersten BSA bereits 2019 am Markt sein. Und das wäre dann in der Tat so etwas wie eine Wiedergeburt des Commonwealth – mit vertauschten Rollen.