Kurz vor dem Grand Prix von Misano, am Donnerstag, den 7. September 2017, stellte Ducati seinen neuen V4-Motor vor. Um 12 Uhr mittags traf sich in der Ducati-Hospitality alles, was im Unternehmen Rang und Namen hat, um eine neue Zeitrechnung einzuläuten: Die des „Desmosedici stradale“ genannten V4-Motors, der stärker ist als der gewohnte V2 und ihn als sportliches Top-Aggregat der Marke ersetzen wird. Im November 2017 wird er in der „Panigale V4“ in einem käuflichen Motorrad sein Debüt feiern.
Andrea Dovizioso, Jorge Lorenzo, Ducati-Testfahrer Michele Pirro und Rennchef Gigi dall’Igna saßen in der ersten Reihe, weiter hinten gesellte sich Loris Capirossi zu den Zuschauern, der mit der Ducati Desmosedici einst die ersten MotoGP- Erfolge gefeiert hatte. Dass so viel Rennsportprominenz mit Spannung auf die Enthüllung des neuen Triebwerks wartete, hatte einen Grund: Wohl noch nie gab es einen Serienmotor, der so konsequent vom Rennsport übernommen wurde und so viele jener technischen Merkmale aufweist, die den MotoGP-Motor seit Jahren zum anerkannt stärksten und besten Triebwerk seiner Klasse machen.
Und natürlich lief auch Ducati-CEO Claudio Domenicali in seiner Begeisterung zu großer Form auf, als er das neue Projekt erläuterte. „Wir sind Spezialisten in der Herstellung von V2-Motoren, und es gibt viele Diskussionen, warum wir jetzt auf einen V4 gehen. Es gibt Vor- und Nachteile, wie bei allem. Aber wir werden Sie mit auf eine kleine Reise nehmen, die Ihnen zeigt, was wir im Kopf hatten, als wir diese Entscheidung trafen“, hob der Italiener an. „Ich kann ohne zu zögern sagen, dass wir den besten V2-Serienmotor für den Rennsport haben, mit einer sehr langen Entwicklungsgeschichte, die bis zur Superleggera geführt hat, einem einzigartigen Produkt. Wir waren in der Lage, eine sehr hohe Leistung aus diesem Motor herauszuholen. Dafür musste der Motor allerdings mit einer großen Bohrung von 116 mm ausgestattet sein. Wir versuchten, den Hub in Maßen zu halten, doch auch er ist beträchtlich. Mit anderen Worten: Trotz aller Versuche, ihn kompakt zu halten, ist der Motor lang und hoch geraten. Wenn du nun versuchst, die Performance weiter zu steigern, wird der Motor noch größer. Doch wenn du einen Motor entwirfst, der das Fahren zur Freude machen soll, dann entwirfst du nicht den Motor allein, sondern das ganze Paket, mit Chassis. Und genau das wurde mit dem V2 zum Problem.“
„Auf der anderen Seite“, so Domenicali weiter, „hatten wir diese unglaubliche, einzigartige Erfahrung in der MotoGP-Klasse, wo Loris Capirossi schon im ersten Jahr 2003 in Barcelona die Pole Position holte. Wir hatten diese neue Plattform geschaffen, den V4-Motor. Auf der einen Seite standen wir vor der Schwierigkeit, den V2-Motor weiterzuverbessern, ihn auf ein noch höheres Niveau zu hieven und ihn mit größeren Baumaßen immer noch tauglich für das Chassis zu machen und das gute Handling zu bewahren. Aber wir hatten diese einzigartige Erfahrung in der MotoGP-Klasse, weshalb wir schließlich entschieden, den V4 auch als Basis für einen Serienmotor herzunehmen.“
Diese Herangehensweise sei Ducati-typisch unkonventionell, und ebenso unkonventionell und im Sportmotorrad-Bereich radikal neu sei, wie die hohe Leistung des Aggregats produziert werde. „Die Leistung des Motorrads kommt von der Bohrung, und die beträgt 81 mm, was genau dem Limit der MotoGP-Klasse entspricht. 81 mm sind per Reglement das Maximum für die Bohrung, um die Performance auf eine bestimmte Weise zu begrenzen. Wenn du die Bohrung limitierst, limitierst du die Höchstdrehzahl und damit das Limit in der Motorenentwicklung. Wir entschieden uns, die gleiche Bohrung zu verwenden, womit am Ende thermodynamische Lösungen wie Einlass, Ventiltrieb und Auslasskanäle sehr, sehr ähnlich ausfielen wie bei Gigi dall’Ignas MotoGP-Triebwerk“, dozierte Domenicali. „Doch es gibt Unterschiede. Wir wollten einen Motor, der nicht nur die Charak- teristika eines Rennmotors hat, sondern auch für den Einsatz auf öffentlichen Straßen taugt. Deshalb vergrößerten wir den Hub und damit auch den Hubraum, der erstmals von 1000 auf 1100 cm³ anwuchs. Als Resultat erhielten wir einen Motor mit einem sehr linearen Drehmomentverlauf, der nicht nur sehr sportlich, sondern auch auf normalen Straßen sehr leicht zu fahren ist.“
Doch bei dieser Entwicklung bleibt es laut Domenicali nicht. Ein Jahr später, 2019, wird eine „R“-Variante des neuen Bikes mit 1000 cm³ erhältlich sein, das die Basis für die Superbike-WM bilden wird. „Damit haben wir in Zukunft zwei Motorversionen. Eine ist die Basisversion für alle Sport-Produktionsmotorräder, und dann haben wir den Ein-Liter-Motor, der ein Jahr später folgt und die Basis für die Superbike-WM darstellt. Es wird ein viel extremerer, viel mehr auf den Einsatz auf der Rennstrecke ausgerichteter Motor sein“, so Domenicali.
Dabei gibt es schon beim„Basis-Motor“ zwei reinrassige Racing-Merkmale.„Zum ersten Mal in dieser Klasse wird der Motor eine rückwärts drehende Kurbelwelle haben. In der MotoGP-Technologie ist das sehr alltäglich, aber es ist keineswegs alltäglich bei Serienmotoren. Natürlich, wenn du ein zusätzliches Zahnrad hast, musst du ein paar PS opfern. Dafür aber hast du einen großen Vorteil bei den Schwungmassen, weil die Kurbelwelle sich in entgegengesetzter Richtung zu den Rädern dreht. Beim Beschleunigen wird die Tendenz zu Wheelies durch die rückwärts drehende Kurbelwelle teilweise ausgeglichen.“
Das zweite wichtige Merkmal des Motors ist die Zündfolge, die genau der der MotoGP-Rennversion entspricht. „Die Hubzapfen der Kurbelwelle sind 70 Grad voneinander versetzt, und das erzeugt eine Zündfolge, die wir‚Twin Pulse‘ nennen. Der Vorteil dieser etwas weniger symmetrischen Zündfolge: Der Motor wird zu einem Mix zwischen Vier- und Zweizylinder, was die Art angeht, in der die Drehmomentspitze ans Hinterrad weitergeleitet wird. Als wir 2007 in der 800-cm³-Ära anfingen, haben wir uns entschieden, diese Zündfolge aufzugeben, und fuhren 2007, 2008 und 2009 mit dem ‚Screamer‘. Wir hatten ein bisschen mehr Leistung, das Motorrad war aber viel schwieriger zu fahren. Seit 2010 verwenden wir diese ‚Twin Pulse‘-Zündfolge, weil wir wussten, dass wir Vorteile bei der Traktion haben würden. Jetzt erhalten unsere Kunden genau den gleichen Vorteil.“
Um den flachen Drehmomentverlauf hinzukriegen, hat der Motor eine variable Einlasssteuerung, die die Länge des Ansaugtrakts der jeweiligen Drehzahl anpasst. Das Highlight bewahrte sich Domenicali für den Schluss auf. „Weil es ein Ducati- Motor ist, verfügt der Motor natürlich über einen desmodromisch gesteuerten Ventiltrieb“, strahlte er. „Die Desmodromik macht es möglich, die Steuerzeiten sehr genau zu kontrollieren, wobei die Vorteile umso deutlicher in Erscheinung treten, je höher der Motor dreht. Die Spitzenleistung des Motors liegt bei 13.000/min an, der Drehzahl-Limiter setzt bei 14.500/min ein. Und das ist es, wo unsere Desmodromik einen echt großen Vorteil bedeutet.“
Natürlich liege der größte Vorteil beim MotoGP-Motor, wo die Drehzahlen noch höher sind. „Doch wir sind der einzige Hersteller, der mit genau dem gleichen System Rennen fährt, das wir an unsere Kunden verkaufen. Viele andere setzen im Rennsport auf pneumatische Ventiltriebe, aber die eignen sich nicht für die Serie. Deshalb müssen sie Kompromisse machen. Wir nicht. Die Vorteile der Desmodromik, die im Rennsport Drehzahlen von weit über 17.000/min möglich macht, geben wir an die Kunden weiter.“
Wie überhaupt alles, die rückwärts drehende Kurbelwelle, die Zündfolge, der V-Winkel des Motors, auf dem Fahrzeugkonzept als Ganzes basieren würde. „Wenn wir nur einen Hochleistungsmotor hätten bauen wollen, hätten wir hier und dort eine andere Wahl getroffen. Doch die Idee war von Anfang an, ein ausbalanciertes Produkt zu entwerfen, das Panigale V4 heißen wird.“
Die Technologie stamme von einem MotoGP-Rennmotor, sei aber für eine lange Lebensdauer ausgelegt. „Die Service-Intervalle für den Ventiltrieb werden zum Beispiel 24.000 Kilometer betragen. Wir und unsere Ingenieure sahen es als unsere Verantwortung an, eine sehr lange Lebensdauer sicherzustellen. Damit haben wir einen Motor, der zwar vom Rennmotor inspiriert ist, in seinen Einzelkomponenten aber auf große Haltbarkeit ausgelegt ist.“
Trotzdem verströme der neue Motor diesen Hauch von Rennstrecke, in jeder Hinsicht. Für die unumgänglichen Tests zur Langlebigkeit des neuen Aggregats habe Ducati-Testpilot Michele Pirro zum Beispiel eine möglichst schnelle Runde in Mugello hingelegt, die später anhand der Datenaufzeichnungen nachsimuliert und am Prüfstand tausendfach, Tag und Nacht, wiederholt wurde.
„Es war ein besonderer Moment für uns alle, als dieser Motor erstmals gestartet wurde, so als hätte ein neugeborenes Baby das Licht der Welt erblickt. Irgendwann werden wir Elektromotoren produzieren. Doch jetzt haben wir erst einmal diesen aufregenden Motor, um das Leben zu genießen.“ Am Vortag sei er mit seinen Leuten aus dem Entwicklungsteam in Vallelunga gewesen und den ganzen Tag mit dem neuen Bike gefahren. „Und ich verspreche: Es ist ein einzigartiges Erlebnis. Es ist so, als würdest du einen Twin fahren, der über 14.000/min dreht. Mit diesem Drehmomentverlauf ist dieser Motor anders als jeder andere auf dem Markt. Wir haben sehr intensiv daran gearbeitet, eine sehr flache Drehmomentkurve zu kreieren, mit mehr als 120 Nm zwischen 8700 und 12.200/min. Das ist es, was unsere Fahrer wollen, sie fragen nicht nach Spitzenleistung, sondern wie flach der Drehmomentverlauf ist und wie sanft die Leistung einsetzt. Viel an diesem Motor ist auf dieses sanfte Fahrverhalten hin ausgerichtet, um fahrerfreundlich zu sein.“ Das wird auch einer hoch entwickelten Elektronik zu verdanken sein. „Schon jetzt haben wir viel von der Elektronik-Entwicklung aus der MotoGP-Klasse in die aktuelle Panigale einfließen lassen. Logisch, dass diese Entwicklung bei der neuen Panigale V4 fortgesetzt wird“, erklärt Gigi dall’Igna.
Doch Ducati geht es nicht nur um eine bärenstarke und dabei benutzerfreundliche Kundenmaschine, sondern vor allem um den Rennsport. „Ein kompakter V4 gibt dir beim Fahrwerk mehr Freiheiten als ein großer V2“, erklärt Gigi dall’Igna. Der Motor kann leichter im Fahrwerk hin und her verschoben werden, bei Bedarf kann zum Beispiel mehr Gewicht aufs Vorderrad gebracht werden. Das macht den V4 ideal für künftige Superbike-Einsätze.
Noch entscheidender freilich ist seine Herkunft. Dass straßentaugliche Superbikes für die Homologation gebaut wurden, um später damit auf hohem Niveau in der Superbike-WM mitfahren zu können, gab es schon in der Vergangenheit. Auch dass modifizierte Superbikes in der MotoGP mitfuhren, gab es schon. Doch die umgekehrte Verfahrensweise, einen reinrassigen MotoGP-Motor als Straßenversion unter die Leute zu bringen und dann auf die Superbike-WM loszulassen, gab es noch nie.
Und wie Domenicali betonte: Alle anderen Hersteller müssen bei Straßenversionen von pneumatischer Ventilsteuerung auf herkömmliche Ventilfedern zurückrüsten. Ducati hingegen nutzt die Desmodromik und will in der Superbike-WM ab 2019 mit überlegenen Drehzahlen und überlegener Leistung aufwarten.
Die Konkurrenz, so viel steht fest, kann sich bereits jetzt warm anziehen.