Continental? Macht in Reifen. Aber auch in modernste ABS, in Zweitakt-Einspritzung und sogar in sprechende Ölflecke – ein Besuch in der Frankfurter „Chassis & Safety-Division“.
Continental? Macht in Reifen. Aber auch in modernste ABS, in Zweitakt-Einspritzung und sogar in sprechende Ölflecke – ein Besuch in der Frankfurter „Chassis & Safety-Division“.
Schwungvoll rollt die rote BMW auf die steile Rampe der Teststrecke. Auf halber Höhe bremst der Fahrer ab, die Maschine steht. Fast spitzbübisch grinst Hans-Georg Ihrig zu den Zuschauern herüber, stellt beide Füße auf den Boden und nimmt ganz locker die Hände vom Lenker, hält sie demonstrativ in die Höhe. Eigentlich müsste die 228 Kilogramm schwere BMW S 1000 XR unter dem Continental-Fahrzeugtester jetzt unkontrolliert zurückrollen und umfallen. Tut sie aber nicht. Sie steht auf der Schräge wie festgeschweißt.
Wir haben soeben die Vorführung einer „erweiterten Regelfunktion“ des neuesten Continental-ABS erlebt: MHG, was im unvermeidlichen Industrie-Denglisch für „Motorrad Hold & Go“ steht, vom Auto und aus den BMW-K-1600-Modellen her auch als „Rückrollsperre“ oder „Berganfahrhilfe“ bekannt.
Wer als Motorradfahrer „Continental“ hört, denkt zunächst mal an Reifen. Schließlich hat der Konzern 1871 als „Caoutchouc-Compagnie“ in Hannover angefangen. „Das ist auch bis heute unser Kernsegment“, bestätigt Sascha Till als Product Manager Motorcycle Tyres. Soeben erst hat Conti den TKC 70 als straßentauglichere Ergänzung zum beinahe schon legendären Grobstoller TKC 80 vorgestellt, deckt überhaupt die ganze Bandbreite von möglichen Zweirad-Gummis ab – vom Roller bis zum Supersportler. „Im Reifenbereich läuft der Technologie-Transfer durchaus auch mal vom Motorrad zum Auto“, ergänzt Reifen-Spezialist Till.
Als Beispiel nennt Till die „Black Chili Compound“-Mischung, die von Conti-Technikern eigens für den Zweiradbereich entwickelt wurde, jetzt aber auch in manchen Autoreifen Verwendung findet. Normalerweise geht der Weg der technischen Entwicklung aber andersherum: vom Auto zum Motorrad. Neben dem ABS und seiner stetigen Weiterentwicklung sei da etwa das adaptive Kurvenlicht ein schönes Beispiel. „Grundsätzlich kann man sagen, dass solche Techniken zunächst fürs Auto entwickelt und dann nach Bedarf aufs Motorrad übertragen werden. Beim adaptiven Kurvenlicht war das klar so, wobei die Hardware, also die Scheinwerfer und Lampen, nicht von uns, sondern von anderen Herstellern stammen“, erklärt Lothar Kienle, bei Continental Entwicklungschef des Bereichs Motorrad-ABS.
Wie viele der 4000 Mitarbeiter in Contis Technik-Standort „Chassis and Safety“ in Frankfurt sind denn mit dem Thema Motorrad beschäftigt? Tja, das könne man eben wegen dieser Überschneidungen so nicht sagen. „Beide Fahrzeugbereiche, also Auto und Motorrad, sind eng verwoben. Wir haben hier auch durchaus personelle Wechsel zwischen den Bereichen, und das ist gewollt“, sagt ABS-Entwickler Kienle, der selbst auch aus dem Autobereich zum Motorrad gewechselt ist, aber privat immer schon Motorradfahrer war.
Zu den wichtigsten Neuerungen in Kienles Bereich zählt das Kurven-ABS, das bei Continental oCB (Optimized Curve Braking) heißt und als Sonderausstattung „ABS-Pro“ für einige neue BMWs angeboten wird. Voraussetzung für das optimierte, möglichst gefahrlose Kurven-Bremsen sind Schräglagensensor und moderne Can-Bus-Elektronik. Ist beides an Bord, ist das Kurven-ABS im Prinzip als Software-Update nachrüstbar.
Ebenfalls Software, aber noch Zukunftsmusik, ist der „e-Horizon“, den mehrere Conti-Teams aktuell entwickeln. Dieser „elektronische Horizont“ kennt exakte Karten- und Topografie-Daten und verbindet sie mit Infos, die von anderen Fahrzeugen übertragen werden. Wie eine solche Vernetzung etwa auch das Motorradfahren in Zukunft sicherer machen kann, erklärt Contis „Motorrad-Key-Account-Executive“ Bettina Lehmann im Interview.
Doch Continental hat nicht nur die Zukunft der Hightech-Bikes im Blick. Lohnend ist auch das andere Ende der Skala: die Millionen von Klein-Motorrädern. Aktuell liege die Zahl kleiner Bikes mit ABS weltweit noch unter einem Prozent. Sicher ist aber: Sie wird wachsen. Das will Conti auch. Zurück zur anfangs mit der BMW S 1000 XR gezeigten Conti-Berganfahrhilfe. Außer bei BMW K 1600 und R 1200 RT gibt es sie noch nirgends – kommt die denn nun bei vielen Modellen? „Da müssen Sie deren Hersteller fragen.“ Dass Conti sie auch in anderen Maschinen testet, haben wir gesehen.
MOTORRAD: 2016 kommt die neue Abgasnorm Euro4 für Motorräder. Welche Veränderungen sind dadurch zu erwarten?
Alessandro Cataldi: Da muss man unterscheiden zwischen Zwei- und Viertaktern. Was die Viertakter angeht, sind unsere Entwicklungen längst auf dem Stand von Euro4. Die einzige Veränderung, die ein Endkunde (gemeint ist der Käufer einer Neumaschine ab 2016, Red.) tatsächlich bemerken wird, ist das dann vorgeschriebene Kontrolllämpchen der Onbord-Diagnose OBD. Wir arbeiten längst an der Erfüllung der Euro5-Norm, die 2020 kommen wird.
MOTORRAD: Wie sieht es aber aus für die doch nicht ganz wenigen Zweitakter, etwa im Offroad-Sport? Was bedeutet Euro4 für künftige Zweitakt-Crosser oder -Enduros? Wird es da ab 2016 überhaupt noch neue Zweitakter geben?
Alessandro Cataldi: Gehen wir erst einmal ein wenig zurück. Bisher haben die Zulieferer und Fahrzeughersteller noch immer Möglichkeiten gefunden, den Vergaser-Zweitakter die Abgasbestimmungen einhalten zu lassen. Mit Euro4 wird das ohne Leistungseinbußen – und die hohe spezifische Leistung ist ja gerade der Vorteil des Zweitakters – nicht mehr gehen. So viel ist klar: Ohne Einspritzung wird der Zweitakter sterben. Aber Continental bietet hier viele verschiedene Lösungen. Wir sind Weltmarktführer im Bereich der Zweitakt-Einspritzung, und Euro4 stellt für uns kein Problem dar. Unsere Systeme halten die Grenzwerte ein, auch ohne Leistungseinbußen.
MOTORRAD: Werden Zweitakt-Einspritzer teurer als Vergaser-Modelle?
Alessandro Cataldi: Na ja, die Frage müsste man den Herstellern direkt stellen. Aber ich denke, dass der Aufwand vergleichbar ist mit der letzten Generation elektronischer Vergaser. Die wurden ja auch notwendig, um Grenzwerte einzuhalten – und haben Motorräder natürlich auch teurer gemacht. Andererseits werden wir bei der Zweitakt-Einspritzung Komponenten nutzen können, die auch beim Viertakter eingesetzt werden. Das macht die Herstellung dann wieder günstiger. Außerdem wird der Verbrauch mit der Einspritzung sinken, und das Anspringverhalten wird sich verbessern.
MOTORRAD: Was wird die Euro5-Norm ab 2020 für den Zweitakter bedeuten?
Alessandro Cataldi: Das wissen wir auch noch nicht. Für Viertakter ist sie wie gesagt kein Problem. Beim Zweitakter warten wir noch darauf, dass die Grenzwerte festgelegt werden. Unterm Strich sind wir aber zuversichtlich, dass wir auch diese Hürde meistern werden.
MOTORRAD: Wagen Sie mal einen Blick in die Zukunft: Wo sehen Sie Möglichkeiten, Motorradtechnik und auch die Sicherheitstechnik weiter zu verbessen?
Dr. Bettina Lehmann: Wenn wir mal nur über Premium-Motorräder und nicht über den globalen Massenmarkt sprechen, dann konzentrieren sich die Anforderungen auf drei Bereiche: Sicherheit in Form eines bestmöglichen Bremssystems und optimaler Reifen, aber auch Komfort und Information. Und zum Teil sind diese Bereiche ganz eng verknüpft. Zum Beispiel über e-Horizon, ein System, das dem Motorrad und dem Fahrer Informationen über die vorausliegende Strecke liefert, die wiederum auch der Fahrsicherheit dienen. Hier stellt sich die Frage, wie wir es dem Fahrer ermöglichen können, in die Zukunft zu schauen. Das wird sehr, sehr spannend. Techniken, an denen wir heute bereits arbeiten, werden helfen, Unfälle, etwa durch einen Ölfleck auf der Straße voraus, zu vermeiden, auch wenn er nicht im Sichtfeld ist.
MOTORRAD: Wie soll ein Ölfleck mir als sich näherndem Fahrer denn bitte signalisieren: „Pass auf, sonst rutschst du in 100 Metern auf mir weg!“?
Dr. Bettina Lehmann: Der Ölfleck kann das nicht, aber andere Fahrzeuge können das. Dasselbe gilt beispielsweise für einen gerade eingetretenen Unfall oder eine Gewitterzelle. Wir werden bald die Möglichkeit haben, über e-Horizon ein Fahrzeug als Sensor zu benutzen und wichtige Informationen an andere Fahrzeuge weiterzureichen.
MOTORRAD: Basiert das auf der sogenannten Car-to-Car-Technologie?
Dr. Bettina Lehmann: Ja, stimmt. Genauer gesagt handelt es sich dann um Car-to-Server-to-Bike-Kommunikation. Aber die Technik informiert nicht nur die folgenden Fahrzeuge über das, was gerade passiert. Der e-Horizon nutzt hochgenaue digitale Kartendaten und informiert etwa auch den Fahrer, wenn er die Kurve nicht richtig anfährt und diese sich zuzieht, so wie ein guter Kopilot bei einer Rallye. Das könnte für Motorradfahrer ja durchaus ein Thema sein.
MOTORRAD: Also ein weiteres Assistenzsystem. Was ist noch denkbar?
Dr. Bettina Lehmann: Das Motorrad als drahtloser Stromlieferant. Die Geräte, die wir so mit uns rumschleppen, die werden zwar immer kompakter und vielseitiger, brauchen aber auch immer mehr Strom.
MOTORRAD: Das heißt, mein Handy wird in der Tasche geladen, sobald ich auf dem Motorrad sitze?
Dr. Bettina Lehmann: Das kommt auf die Tasche an. Mit „Wireless Power Charging“-Technik, die wir heute schon im Auto haben, könnte man problemlos ein Handy im Tankrucksack laden, wenn der Rucksack diese Technik bietet. Die zum Laden nötige Kontaktfläche wäre ganz einfach ins Motorrad zu integrieren. Das wäre etwa der Punkt Komfort.
MOTORRAD: Bleibt der Punkt Information.
Dr. Bettina Lehmann: Richtig. Da ist die Frage, wie tauschen wir Informationen mit Freunden unterwegs? Wie kriegen wir News?
MOTORRAD: Doch nicht „Social Media“ am Motorrad?
Dr. Bettina Lehmann: Doch. Vielleicht ist das aus deutscher Sicht, die wir gern sportlich fahren, kein Thema. Aber in anderen Ländern durchaus. Da wird etwa gern in Gruppen gefahren, und die wollen vernetzt sein. Oder Adaptive Cruise Control …
MOTORRAD: … die dann automatisch mein Tempo dem von Erich anpasst, der vorneweg fährt?
Dr. Bettina Lehmann: Ganz genau.
MOTORRAD: Arbeitet Continental etwa auch schon am selbstfahrenden Motorrad?
Dr. Bettina Lehmann: Das tun wir heute tatsächlich noch nicht. Aber wenn das selbstfahrende Auto Realität wird, dann ist auch das Thema selbstfahrendes Motorrad so aktuell, dass wir uns das ein paar Jahre später vorstellen können.
MOTORRAD: Ich will aber auch künftig selber fahren!
Dr. Bettina Lehmann: Aber wir wollen, dass das Motorrad etwa in einer kritischen Situation eingreift. Heute fahren viele Menschen Motorräder, die stärker sind als ihre Fähigkeiten. Anders als beim Auto muss beim Motorrad vor einer automatisierten Notbremsung der Fahrer informiert werden, sonst geht er möglicherweise über den Lenker. Diese Information könnte über die Griffe kommen, damit der Fahrer in eine aktive Körperspannung kommt. Da ist vieles vorstellbar.