Konzeptstudien: Honda NAS 1000, Aprilia 1000 Blue Marlin, Suzuki B-King, Ducati Multistrada
Verzichts-Erklärung

Okay, die 300-km/h-Schallmauer ist geknackt, 200 PS sind auch nicht mehr weit, es gibt elektrisch verstellbare Scheiben und CD-Player. Aber ist es das, was wir wollten?

Der Motor jeder technischen Evolution ist das Streben nach dem Besseren, in letzter Konsequenz nach Perfektion. Diese Antriebsfeder hat uns ein extrem hohes Niveau in der Motorradtechnik beschert. Das Optimum wirkt greifbar nah, Steigerungen sind nur noch in minimalen Schritten möglich. Für die Techniker wird es imme schwieriger, etwas wirklich Neues zu konstruieren. Die Zeit scheint reif für eine kleine Revolution. Zumal auch mancher Kunde in der Sinnkrise steckt: Wozu noch drei km/h schneller fahren, und macht eine regulierbare Sitzheizung wirklich glücklicher? Auf den Messen scharen sich Besucher um faszinierende Studien und edle Einzelstücke, während die um 3,5 PS erstarkte und 4,85 Kilogramm abgespeckte Dreifach-R nüchtern zur Kenntnis genommen wird. Nach der Ära der Ingenieure könnte nun die Stunde der Designer schlagen, die statt technischer Argumente Emotionen in den Mittelpunkt ihrer Kreationen stellen. So ist die Besinnung auf das Wesentliche, die bewusse Reduktion vorherrschendes Element vieler neuer Konzeptstudien.
Dass solch eine Verzichtserklärung keineswegs Gesichtsverlust bedeutet, sondern im Gegenteil den prägnanten Ausdruck nur unterstreicht, beweist die Honda-Studie NAS 1000. NAS steht für North American Sports, denn die puristische Maschine entstand in der US-Denkfabrik HRA (Honda Research & Development America). »It has the nature of a beast«, kommentiert Designer Tom Schroeder sein Meisterwerk. Aha, stand also doch die Sachs Beast Pate, wie die Nürnberger stolz in einem Rundschreiben verkündeten? Wohl kaum, denn HRA startete das Projekt bereits 1999, da war von der Sachs noch nichts zu sehen.
Der Kern der NAS ist ein serienmäßiger VTR-1000-Motor, das Rahmen-Layout lehnt sich ganz ebenfalls stark an die VTR an. Alles andere ist auf das Nötigste reduziert. Einseitige Radaufhängungen lassen das Motorrad von der rechten Seite betrachtet schweben. Die Einarm-Telegabel stammt prinzipiell aus dem Flugzeugbau, Paioli hat eine ähnliche Konstruktion bereits 1990 für Gilera entwickelt. Erst auf den zweiten Blick ist der schnittige Bugspoiler als Schalldämper zu identifizieren. Auch der Kühler musste sich dezent zurückziehen, wie bei Britten oder in der Benelli Tornado ist er im Heck untergebracht. Zwei riesige Ansaugöffnungen strecken ihre Hälse in den Wind und schaufeln Luft nach hinten. Die linke Öffnung versorgt die quer unter dem Tank liegende Filterpatrone, rechts wird der Kühler beatmet. Auf den Betrachter wirkt die NAS 1000 wegen ihrer formalen Harmonie sowie der perfekten Verarbeitung atemberaubend.
Eine ähnliche Richtung wie die NAS schlägt Aprilia mit der Blue Marlin ein, allerdings mit einem ganz anderen Hintergrund. Der Schwertfisch mit dem Mille-Herz ist zwar kein Retro-Bike im Nostalgielook, gleichwohl eine Reminiszenz an die Sportmaschinen früherer Jahre. Anstoß war eines der ersten Motorräder von Aprilia, eine Aprilia Colibri 50 aus den Sechzigern. Windschlüpfige Plastikverschalungen gab es damals noch nicht, Sport definierte sich über schmale Stummellenker, Höckersitze und unendlich lange Tanks. Die Aprilia-Studie lebt wie die Honda von der Reduktion auf das Essentielle. Den Protoyp baute die französische Schmiede Boxer-Design unter immensem Zeitdruck vor der Mailänder Messe auf. Dabei griffen die Franzosen für viele Bauteile ins Regal: Schwinge und Auspufftöpfe finden sich zum Beispiel auch an der Boxer B2 (MOTORRAD 22/2001). Kritiker finden noch einige stilistische Brüche, etwa die Lenkerverkleidung im Streetfighterlook. Wunderschön dagegen die konusförmigen, schlanken Schalldämpfer, allerdings dürfte der Sound wohl auch dem der sechziger Jahre entsprechen. Die Chance auf Verwirklichung ist im Vergleich zur Honda trotzdem ungleich größer, das für 2003 erwartete Naked Bike von Aprilia könnte ganz ähnlich aussehen.
Emotion pur war auch das Leitmotiv bei der Suzuki B-King. Sie beeindruckt jedoch nicht durch feingliedrige Ästhetik, sondern das Design soll die schiere Gewalt signalisieren. Brachial kommt die B-King daher, ein muskelbepackter Plattmacher. Das Fehlen jeglicher Farbe unterstreicht den aggressiven Auftritt. Ein Kompressor macht den Hayabusa-Motor zum 250 PS starken Kraftpaket, die B-King verkörpert ein Beschleunigungsmonster im Stil der Vmax. Vielleicht ist gerade deshalb die Heckansicht so beeindruckend geraten, aus dieser Perspektive dürften Herausforderer die B-King nach dem Ampelspurt vorwiegend betrachten. Und wie sieht es mit einem Serienableger aus? Technisch stante pede machbar, wird der Traum vieler Dragsterfans wohl kaum Realität. Schwacher Trost: Vielleicht tauchen Designelemente in künftigen Suzuki-Naked-Bikes auf.
Bei der Multistrada ist die Serienproduktion dagegen schon beschlossene Sache. Ducati sucht mit ihr neue Wege, die Studie soll das Beste aller Kategorien auf sich vereinigen: viel Sport, reichlich Funbike, auch Tourerqualitäten und ein ganz kleines bisschen Offroad-Tauglichkeit. Chefdesigner Pierre Terblanche hat sich an den wenig spezialisierten Motorrädern der Siebziger orientiert. Leicht, kompakt, vielseitig und praktisch – das ist das Konzept der Multistrada als Kontrapunkt zu vielen hochspezialisierten Maschinen der Gegenwart. Einen Vorteil hat die Multistrada gegenüber den drei anderen Studien: Sie ist luftgekühlt, im Bemühen um eine klare Linie können sich die Designer Klimmzüge zum Verstecken eines störenden Kühlers sparen.

Unsere Highlights

Meinungen

Sie war einer der Stars der Mailänder Messe, die Aprilia 1000 Blue Marlin polarisiert und liefert jede Menge Diskussionsstoff. Aprilia stritt trotz des regen Zuspruchs jeden Gedanken an eine Serienproduktion ab, zeigte sich angesichts der überwältigenden Resonanz jedoch beeindruckt. MOTORRAD fragte die Meinung der Leser im Internet unter www.motorradonline.de ab. Hier einige Stimmen: »Der Retrolook mit zeitgemäßem Fahrwerk, das hat was. Bloß nicht den Motor leistungsmäßig beschneiden.«Markus Solbach, Köln»Nur zwei bis drei Kleinigkeiten gefallen nicht. Unbedingt mit rundem Scheinwerfer, Heck mit kleinem Höcker statt der Lücke und ein luftgekühlter Motor.«Sebastel, Ettlingen »Geil so, wie sie ist. Ja keinen Rundscheinwerfer an dieses mördergeniale Gerät. «Erik Jansen, Landsberg am Lech»Lieblos und unhomogen. Tank in Teppichmesserform, Lenkerverkleidung aus dem Zubehörhandel, Heck sieht aus, als wäre die Verkleidung verloren gegangen.«Andreas Schulze, Krefeld »Könnte glatt schwach werden. Hätte nicht gedacht, dass Aprilia nach den bisherigen Geschmacksverirrungen so etwas Nettes bringen könnte.«Jochen Krupski, Krefeld»Sähe wohl ein bisschen ulkig aus, wenn ich mich mit meinen 90 Kilogramm auf so ein schlankes Moped setzt. 25 Kilo weniger, und die Maschine wäre in der engeren Wahl.«Gorodish, Wahlwies»Klasse Teil. Motorradfahren hat mit Emotionen zu tun, sonst könnte ich ja gleich Bus fahren. Hoffentlich verschandeln Blinker, Nummernschild und Spiegel nicht die ganze Optik.«Berthold Fisch, Rüthen»Dieses Motorad hat das Zeug zum Kultbike. Dafür gäbe ich sofort meine Mille in Zahlung. Vorausgesetzt, der Preis bleibt im Rahmen.«Thomas Fischer, Leipzig

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MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023