Familie Winkler* wohnt da, wo andere gerne Motorrad fahren – in einem beschaulichen 650-Einwohner-Örtchen mitten im Thüringer Wald. Sobald die Saison eröffnet und das Wetter gut ist, vergeht dem Rentnerpaar jedoch manchmal die Lust, auf dem Balkon in der Sonne Kaffee zu trinken und ein Stückchen Schmandkuchen zu verdrücken. Was sich als Suhler Straße vor ihrem Haus durch die kleine Gemeinde schlängelt, ist ein Teil der L 1128, die kurvenreich zum beliebten Ausflugsziel Oberhof führt. "Obwohl hier Tempo 50 gilt, stört der Krach vieler Maschinen häufig die Unterhaltung", sagt Werner Winkler. Selbst dem motorradbegeisterten Schwiegersohn stinkt das, wenn er mit Frau und Kindern zu Besuch ist. Bei Oma und Opa in idyllischer Umgebung und himmlischer Ruhe relaxen? Pustekuchen!
Landauf, landab gehen Bürger auf die Barrikaden, weil des anderen Freud ihr Leid ist: das Röhren der Motoren. So reagieren auch die Einwohner von Simmerath in der Eifel zunehmend genervt auf laute Zweiradfahrer. Manche spielen sogar schon mit dem Gedanken, ihre Grundstücke zu verkaufen. Simmeraths Bürgermeister Karl-Heinz Hermanns steckt in der Zwickmühle. Er muss die Bürgerproteste ernst nehmen, will aber gleichwohl die Zweiradtouristen nicht vergraulen. "Wir möchten für Motorradfahrer weiterhin eine lohnenswerte Anlaufstelle bleiben", sagt Hermanns. Auch die Region Sauerland, die wie die Eifel viele kurvige Straßen durch wildromantische Landschaft bietet, stöhnt über jene Biker, die statt einer gemütlichen Ausfahrt die fahrtechnische Herausforderung bei höchster Drehzahl suchen.
Als Reaktion auf Beschwerden von Anwohnern haben die Sauerland-Gemeinden Meschede, Schmallenberg, Arnsberg und Sundern gemeinsam mit dem Hochsauerlandkreis und der Polizei die "Ordnungspartnerschaft Motorradlärm" gegründet. "Die Raser sind zwar deutlich in der Minderheit, beschädigen aber das Ansehen aller", sagt Bianca Scheer von der Polizei in Meschede.
Laute Motorräder sind auf dem Vormarsch
"Der Fahrstil ist entscheidend", bestätigt auch Christian Popp, Geschäftsführer des Hamburger Ingenieurbüros Lärmkontor. "Es kann einen Unterschied von 20 Dezibel ausmachen, ob jemand verantwortungslos oder vernünftig fährt." Natürlich gebe es auch lautere und leisere Motorräder. Aber die lauten sind auf dem Vormarsch, wie die jüngere Erfahrung aus der Redaktion MOTORRAD zeigt. Harley-Davidson und italienische Marken gelten traditionell nicht als Leisetreter, wobei die lauten Harleys häufig mit einem Nachrüstschalldämpfer aufgepeppt sind. Selbst BMW ist mittlerweile auf Krawall gebürstet: Die tourige K 1600 hat den akustischen Auftritt eines Supersportlers, und der BMW-Bestseller GS macht für eine klassische Reiseenduro ebenfalls ganz schön viel Radau. Wie geht das, wenn die Fahrgeräusche laut EU-Richtlinie 97/24/EG maximal 80 dB(A) betragen dürfen?
Motormanagement erkennt Testzyklus-Bereich
Max Höhler, Sachverständiger für Motorradkomponenten beim TÜV Süd in München, nennt den Grund: "Das Geräuschmessverfahren für die Homologation ist bislang recht simpel." Dies erlaubt den Herstellern, das Motormanagement so auszulegen, dass es den Testzyklus-Bereich erkennt und dann sofort mit Auspuffklappen oder per Drosselklappensteuerung den Sound herunterregelt. Außerhalb der homologationsrelevanten Fahrzustände kann er sich dann wieder bis zum Fortissimo steigern. "Dies ist übliche Praxis und völlig legal", sagt der TÜV-Experte. Das machen alle in der Branche – die Japaner eher moderat, manche Italiener dagegen extrem.
Neues Prüfverfahren schließt Gesetzeslücken
Solchen Tricksereien wird zum 1. Januar 2016 endgültig mit der UNECE-R 41.04 ein Riegel vorgeschoben. Die Norm ist zwar schon seit dem 1. Januar 2014 in Kraft, wird ab Anfang nächsten Jahres jedoch verpflichtend für die "Bedingungen für die Genehmigung der Krafträder hinsichtlich ihrer Geräuschentwicklung", wie es im besten Bürokratendeutsch heißt. Je nach Leistung-Masse-Verhältnis der Maschine ist der maximale Schallpegel auf 73 bis 77 dB(A) begrenzt – und zwar in unterschiedlichen Fahrzuständen. "Das völlig neue Prüfverfahren schließt jetzt die bestehenden Gesetzeslücken", sagt Philip Puls, Leiter des technischen Dienstes beim TÜV Süd in München. Dies sei eine Präzisierung des Umweltschutzes. "Testzyklus-Erkennung über die Motorsteuerung und Auspuffklappensteuerungen sind ausdrücklich verboten." Gefahr erkannt, doch nicht gebannt. Die UNECE-Spielregeln gelten lediglich für neu typgeprüfte Fahrzeuge. Es besteht sogenannter Bestandsschutz für etablierte Modelle – und auch für Nachrüstschalldämpfer, die bereits im Markt sind. Hier hilft dann nur noch die Einsicht des Fahrers, um den Lärm zu reduzieren.
Zubehör-Auspuffanlagen sind ein Kapitel für sich
Auspuffanlagen aus dem Ersatzteilregal sind indes noch einmal ein Kapitel für sich. Sie müssen – wie Motorräder auch – typgenehmigt sein und die Fahrgeräuschgrenzwerte einhalten. Die Betriebserlaubnis kann in allen EU-Staaten beantragt werden und ist dann in allen EU-Staaten ohne weitere Prüfung gültig. Die Neuregelung nach UNECE-R 41.04 greift inhaltlich theoretisch auch für Zubehörauspuffanlagen – allerdings in der spezifischen UNECE 92.01, die erst 2020 Pflicht wird. Für Schalldämpfer gibt es ein breites Nachrüstangebot. Es sind eine Vielzahl von Exemplaren mit Klappensystemen zu haben, die mechanisch mit wenigen Handgriffen oder elektronisch per Knopfdruck verstellt werden können. Zudem können dämpfende Einsätze – sogenannte dB-Eater oder dB-Killer – meist kinderleicht entfernt werden.
Erschwerend kommt hinzu: Regelmäßige Produkttests der Redaktion MOTORRAD belegen, dass diese Nachrüstanlagen häufig höhere Fahrgeräuschpegel haben als erlaubt. Solche Schalldämpfer haben ihre Typgenehmigung meist im europäischen Ausland erhalten. Wie ist das möglich, wenn doch die Geräuschgrenzwerte in allen Ländern gelten? TÜV-Mann Philip Puls spricht von "Interpretationsspielräumen" der jeweiligen Genehmigungsbehörden. Andere Branchenkenner vermuten, dass bei den vorgeschriebenen Produktionskontrollen (COP = Conformity of Production) geschlampert wird. Der Münchner TÜV-Experte Max Höhler sagt: "Bei den europäischen Genehmigungsbehörden gibt es unterschiedliche Qualitäten – ebenso wie bei den technischen Diensten, die die Anlagen prüfen." Nicht alle nationalen Institutionen seien so gewissenhaft wie das deutsche KBA, bevor sie eine Typgenehmigung erteilten. Ist der Stempel erst mal drauf, kann nicht mehr nachvollzogen werden, wie, in welchem Zustand sowie für welche Modelle und Varianten ein Schalldämpfer seinen Stempel bekommen hat.
Kommentar von Testchef Gert Thöle

Jeder – fast jeder – Motorradfahrer will Sound. Wenn zugestopfte Motoren aus dürren Dämpferröhrchen zischeln und röcheln, dann fehlt beim Fahren einfach etwas. Wir wollen unsere Maschinen spüren, fühlen – und hören. Das ist die eine Seite der Medaille.
Die Umwelt will keinen Lärm, die Leute wollen ihre Ruhe, reagieren aus nachvollziehbaren Gründen höchst sensibel auf Belästigungen. Lärm ist Umweltverschmutzung, Krach macht krank. In einer immer dichter aufeinanderrückenden Gesellschaft mehr denn je. Das ist die andere Seite der Medaille.
KTM und Akrapovic sind am leisesten
Wo bleibt da Spielraum für Lösungen? Letztlich nur im Kompromiss, denn Rücksichtnahme und Toleranz sind auf beiden Seiten erforderlich. Vielleicht könnte manch ein Anwohner etwas gelassener reagieren, wenn sein persönliches Feindbild von einzelnen Radaubrüdern einmal mehr bestätigt wird. Aber das ist nicht der Kern des Problems. Der liegt vielmehr bei uns, also bei denen, die den Lärm produzieren. Wir Motorradfahrer müssen Grenzen anerkennen. Ausgeräumte Zubehördämpfer, entfernte db-Eater, ja sogar die serienmäßigen Klappensteuerungen: heute ein No-Go. Und muss man am Stadtrand den 600er-Vierzylinder im zweiten Gang bis 14000 Umdrehungen hochjubeln? Mitunter habe ich den Eindruck, dass einzelne Fahrer es sogar darauf anlegen, Ärger zu provozieren.
Was mich ein wenig hoffen lässt: Das Argument mancher Hersteller von Motorrädern wie Auspuffanlagen, der Kunde wolle so laute Auspuffe, lässt sich leicht widerlegen. So zeichnen sich zwei Hersteller, die aktuell in ihrer jeweiligen Branche sehr erfolgreich sind, in Bezug auf die Geräuschemissionen durch absolute Seriosität aus: KTM verzichtet auf Klappen-Tricksereien, Akrapovic gehört in den MOTORRAD-Tests von Zubehörschalldämpfern immer zu den Leisesten. Vielleicht siegt am Ende ja doch die Vernunft. Denn Streckensperrungen als Quittung für Pistensäue will wohl niemand.
Interview Holger Siegel vom Bund

Wann hat sich die Initiative gegründet?
Den Arbeitskreis Motorradlärm im BUND gibt es seit 2005. Mittlerweile koordinieren wir die örtlichen Bürgerinitiativen in den Vereinigten Arbeitskreisen gegen Motorradlärm (VAGM e. V.).
Sie sind selbst passionierter Motorradfahrer und machen Front gegen die damit verbundenen Fahrgeräusche. Wie passt das zusammen?
Ich störe mich nicht an den unvermeidlichen Fahrgeräuschen. Mich stören viel mehr das bewusste Lautmachen der Maschinen durch Auspuffmanipulatio- nen, aber auch Industrietricks bei Auspuffklappen und die weit verbreiteten Zubehörauspuffe mit EU-ABE. Auf dem Papier wird das Motorrad immer leiser gerechnet – in der Praxis sind vie- le Exemplare mittlerweile um ein Vielfaches lauter. Und diese Praxis wurde inzwischen auf Quads und Sportwagen übertragen. Allgemein stören wir uns auch nicht an dem Einzelnen – es geht um die Massierung der Lauten auf bestimmten Strecken. Und um das oft permanente Hoch- und Runterfahren an diesen Stellen.
Was sind die Ziele der Bewegung?
Ich glaube, es ist schwer, die Zielgruppe zu bekehren: Wir gehen von rund einem Drittel der Motorradfahrer aus, die bewusst am Lautstärkeregler drehen – legal oder illegal. Dieses Drittel nimmt die Belästigung der Anwohner beliebter Motorradstrecken und Hotspots bewusst oder unbewusst in Kauf. In den VAGM tauschen wir Informationen aus und entwickeln gemeinsam Handlungsoptionen. Wir sammeln Geld für ein juristisches Vorgehen. Von behördlicher Seite gibt es gegen den Lärm nur wenig bis gar keine Hilfe.
Hat die Kampagne schon etwas bewirkt?
Wenn Sie als Einzelner oder als lokale Bürgerinitiative vorgehen, weil Sie im Sommer in Ihrem Haus oder auf Ihrem Grundstück keine Ruhe mehr finden, brauchen Sie einen langen Atem. Sie werden meist von den Behörden abgebügelt: Da könne man eh nichts machen. Vernetzt reden wir mit der Po- litik, mit den Medien und schärfen unse-re Argumente. Wir können zumindest darstellen, wie kompliziert die Lage im Moment ist und dass dringender Handlungsbedarf besteht. Fachleute der Polizei beklagen, dass im Moment bei neuen Motorradmodellen alle Dämme des akustischen Anstands brechen.
Wie reagieren die Biker auf die Initiative?
Da gibt es zweierlei Reaktionen: Die einen erkennen, dass immer mehr schöne Strecken gesperrt werden, weil zu dem Lärm ja häufig auch die Unfälle kommen. Das sind vor allem die unauffälligen Fahrer von Tourenmaschinen, die weniger lärmbedürftig sind. Diese Gruppe zeigt zumindest Verständnis. Die anderen, vor allem Sport- und Harley-Fahrer, leugnen bereits das Problem – obwohl es genau von ihnen ausgeht.
Was ist Ihre Botschaft an die Motorradfahrer?
Motorradfahren geht auch ohne Belästigung anderer und macht trotzdem Spaß. Ein lärmarmer Fahrstil ist zudem meist weniger riskant – damit sinkt auch das Risiko, Opfer eines Unfalls zu werden.